Fadel Leili war 17 Jahre alt, als sie ihn abholten. Es war im März 1976. Im Januar hatten sie seine Schwester abgeführt, im Februar seine Mutter und seinen Vater verhaftet. Seine Eltern wohnten in Tan-Tan, im äußersten Süden Marokkos. Er selbst besuchte das Gymnasium in Kénitra unweit der Hauptstadt Rabat, über 800 Kilometer von zu Hause entfernt. Die ersten drei Tage auf dem Polizeikommissariat folterten sie mich, ohne mir überhaupt eine Frage zu stellen, berichtet er, nach weiteren zwei Tagen wurde ich in ein Gefängnis in Casablanca überstellt, wo ich dreieinhalb Monate lang im Dunkeln lebte, die Augenbinde wurde mir weder beim Essen noch auf der Toilette, noch bei der Folter abgenommen.
Danach wurde der Schüler ins Gefängnis von Agdez, einer kleinen Stadt am Rand der Wüste, gebracht, wo er Schwester, Vater und Mutter wiedertraf. Vier Jahre später, 1980, überführten sie die ganze Familie nach Kalaât Magouna. Und als sie 1991 alle frei kamen, war Fadel Leili 32 Jahre alt. Sein Vater starb am ersten Tag nach der Entlassung. Die Mutter ist unheilbar krank. Sein jüngerer Bruder, der 1983 festgenommen wurde, verlor nach sechs Jahren Einzelhaft den Verstand und wurde 1995, bereits in Freiheit, tot aufgefunden. Den Eltern verweigerte man eine Autopsie und befahl ihnen, den Sohn schleunigst zu beerdigen.
Fünfzehn Jahre verbrachten Fadel Leili und seine Eltern in marokkanischen Kerkern. Der einzige Grund: Machmud, Fadels älterer Bruder, war damals einer der wichtigsten Führer der Polisario. der Befreiungsfront, die bis heute für die Unabhängigkeit der Westsahara kämpft. Heute ist Fadel Leili Rechtsanwalt in Laâyoune, der Hauptstadt der ehemaligen spanischen Kolonie, die nach dem Tod des Diktators Franco 1975 völkerrechtswidrig annektiert wurde. Die Westsahara ist ein Wüstenstreifen an der Atlantikküste, etwa so groß wie die alte Bundesrepublik, aber mit nur 300 000 Einwohnern. Leili ist Saharauri, auch wenn ihn Marokko zum Marokkaner erklärt hat. Über das Martyrium seiner Familie berichtet er auch heute noch nur stockend. Es kostet ihn sichtlich Überwindung. Diese Geschichte hat meine Seele zerfressen, sagt er, ich plage mich jeden Tag.
Achmed Azazar hat in der marokkanischen Armee gedient, die unter Einsatz von Napalmbomben die Polisario bekämpft und viele Saharauris in die algerische Wüste getrieben hat. 1951 – Marokko war noch Protektorat – war der Sohn einer armen Bauernfamilie als einfacher Soldat in die französische Armee eingetreten. 1952 und 1953 hatte er in Indochina aufseiten der Kolonialmacht gekämpft. 1954 war er aus der Armee desertiert und zur marokkanischen Résistance übergelaufen. Als ihn die Polisario 1979 im Krieg gefangen nahm, war Azazar schon 49 Jahre alt. Die Befreiungsfront brachte ihn ins algerische Tindouf, wo sie gleich hinter der Grenze zu Marokko nicht nur Flüchtlingslager kontrolliert, sondern auch Gefangenenlager unterhält. Vier Monate lang folterte man ihn dort, zerschlug ihm mit Stahlseilen ein Knie und händigte ihn schließlich an die Algerier aus. 15 Jahre lang saß Azazar danach in einem algerischen Gefängnis weit im Landesinnern bei Blida – ohne jede Anklage. Und diese ganze Zeit über wusste niemand von seinem Verbleib, weder seine Frau noch seine neun Kinder. 1994 brachten ihn die Algerier nach Tindouf zurück.
Als Azazar im Jahr 2000 freikam, war er 70 Jahre alt. Fünf Medaillen hatte er sich in der französischen Armee verdient. Nach 21 Jahren Gefangenschaft kehrte er nach Marokko zurück. Er hatte erwartet, als Held gefeiert zu werden. Doch ich wurde eher wie ein Aussätziger behandelt, berichtet er, ich erinnerte die Leute an eine alte Geschichte, von der niemand mehr etwas wissen wollte.
Vor 13 Jahren haben Marokko und die Polisario einen Waffenstillstand abgeschlossen, den 200 Blauhelme sichern. Seither kam es zu keinen Kämpfen mehr. Marokko hat im Jahr 2000 den letzten Kriegsgefangenen freigelassen. Die Polisario aber hält in der algerischen Wüste noch immer 412 Marokkaner gefangen, zum Teil seit 18 Jahren. In ihren Gefangenenlagern, in denen Zwangsarbeit herrscht, wird systematisch gefoltert. Mindestens 121 Männer sind an den Torturen gestorben. Ein Bericht der France Liberté vom vergangenen Jahr lässt daran keinen Zweifel. Vorsitzende der französischen Menschenrechtsorganisation, die 338 Kriegsgefangene befragt hat, ist Danielle Mitterrand, die Gattin des früheren Präsidenten, die sich jahrelang für die Polisario eingesetzt hatte. Inzwischen hat France Liberté sämtliche Hilfe an die über 100 000 Saharauri-Flüchtlinge, die seit einer Generation in den Lagern der Polisario leben oder dort geboren sind, eingestellt. Nur wenige Flüchtlinge sind zurückgekehrt. Marokko ist inzwischen bereit, sie aufzunehmen, sagt Achmed Kher, aber die Polisario lässt sie in der Regel nicht ziehen.
Der Saharauri, der heute in Laâyoune im öffentlichen Dienst arbeitet, weiß, wovon er spricht. Schon 1974 ist er der Polisario beigetreten. Von 1975 bis 1988 war er politischer Gefangener – nicht in einem marokkanischen Kerker, sondern in einem Lager der Polisario. Er hatte die Einmischung der algerischen Armee in Angelegenheiten der Organisation kritisiert. Nach seiner Freilassung lebte der Dissident sechs Jahre als Flüchtling in einem der Lager der Polisario bei Tindouf, bis ihm Schmuggler zur Flucht nach Mauretanien verhalfen. 10 000 Dirham – umgerechnet 900 Euro – hat er bezahlt. Heute ist Kher Sprecher einer saharaurischen Menschenrechtsvereinigung. Die Wände seines Büros zieren Fotos von Männern mit entblößten Körperteilen. Es sind alles Saharauris, gefoltert von der saharaurischen Befreiungsfront.
Den Waffenstillstand hat die Minurso, wie die UN-Mission in der Westsahara heißt, erfolgreich gesichert. Doch bei ihrer politischen Aufgabe, der Vorbereitung eines Referendums über die Unabhängigkeit, ist sie gescheitert – vor allem am Widerstand Marokkos, das zunächst einem Volksentscheid zugestimmt hatte, dann aber über ein Jahrzehnt lang die Vorbereitungen sabotierte und vor einem halben Jahr schließlich offiziell verkündete, die territoriale Integrität Marokkos stehe nicht zur Debatte. In Marokko findet man unter Intellektuellen wie Politikern von links bis rechts kaum jemanden, der den Anspruch Marokkos auf die Westsahara infrage stellt. Die Annektion von 1975 gilt als Vollendung der Entkolonialisierung, nachdem man 1956 die Spanier aus dem Rif-Gebirge im Norden und die Franzosen aus dem übrigen Marokko vertrieben hatte. Die meisten Saharauris jedoch sind der Meinung, dass – umgekehrt – die ehemalige Spanische Sahara das letzte nicht entkolonialisierte Gebiet Afrikas ist. Und sie haben das Völkerrecht auf ihrer Seite. Und auch den UN-Sicherheitsrat. Bislang jedenfalls noch.
In der Hauptstadt der ehemaligen spanischen Kolonie, Laâyoune, sind die Marokkaner heute in der Mehrheit. Neben 100 000 Einwanderern, die nach der Annektion aus dem Königreich zugewandert sind, leben etwa 60 000 Saharauris in der Wüstenstadt. Sie unterscheiden sich von den Marokkanern durch ihren Dialekt und durch die Integration in eine Stammesgemeinschaft. Bis vor wenigen Generationen waren sie alle Nomaden, und noch heute weiß jeder, welchem Stamm er angehört. Die tribale Zugehörigkeit ist wichtiger als die politische Orientierung. In Laâyoune gehören die meisten dem Stamm der Rgaibat an – wie auch der Großteil der Polisario-Führung. Die Marokkaner und die Saharauris leben in getrennten Gesellschaften, sagt Abdelaziz Naumi, Mischheiraten sind äußerst selten. Naumi ist Professor an einer Fachhochschule. Die Saharauris unter seinen Studenten, vermutet er, sympathisieren fast alle mit der Polisario. Selbst unter den etwa 30 000 Saharauris, die die Regierung in Laâyoune angesiedelt hat und traditionell promarokkanischen Stämmen angehören, wächst der Wunsch nach Unabhängigkeit von Marokko. Sie leben mit Hunderten Ziegen, die im Abfall wühlen, in einem Slum ohne fließendes Wasser. Obwohl sie von der Regierung dreimal wöchentlich kostenlos mit Nahrungsmitteln versorgt werden, ist ihr Unmut groß.
Wenn heute ein Referendum stattfinden würde, wäre wohl eine Mehrheit der Bevölkerung der Westsahara für die Gründung eines eigenen Staates. Dass die Monarchie den Verlust der Sahara mit ihren immensen Phosphatreserven aber unbeschadet überstehen würde, ist kaum anzunehmen. Viele fürchten die Folgen: Unruhen in Marokko, aufständische Militärs, womöglich von den Islamisten aufgeputschte Massen oder gar einen Krieg mit Algerien, das die Polisario unterstützt, die Destabilisierung ganz Nordafrikas. In der Westsahara glaubt niemand, dass Marokko je ein Referendum zulassen wird, und auch bei der Minurso rechnet man ganz offensichtlich nicht damit. Frankreich unterstützt traditionell die marokkanische Position – die USA machen sich für eine Autonomie der Westsahara unter marokkanischer Souveränität stark – und Spanien, das der Polisario freundlich gegenüberstand, sucht unter der neuen sozialistischen Regierung den Ausgleich mit Marokko.
Vergangene Woche hat der UN-Sicherheitsrat das Westsahara-Mandat trotzdem um weitere sechs Monate verlängert. Nun soll – sagt die neueste Resolution des UN-Sicherheitsrates – der Generalsekretär wenigstens die Möglichkeit eines Teilabzugs ausloten. Am liebsten würde man sich geräuschlos aus der Wüste davonstehlen.
Marokko greift nach der letzten Kolonie in Afrika
Thomas Schmid, DIE ZEIT, 04.11.2004