Am 17. Dezember 2010 kaufte der 26-jährige arbeitslose Mohamed Bouazizi wie jeden Tag im Großmarkt von Sidi Bouzid, einer Kleinstadt in der tunesischen Provinz, Früchte und Gemüse, karrte die Ware in sein Viertel und verkaufte sie am Straßenrand. So verdiente er durchschnittlich umgerechnet 125 Euro im Monat. Davon lebten er, seine fünf Geschwister, seine Mutter und sein kranker Stiefvater. Für eine Lizenz zum Straßenverkauf fehlte Bouazizi das Geld, und das fehlte ihm auch, um die Polizisten zu bestechen, die jene belästigten, die keine Lizenz hatten. Als die Polizei – wie so oft – seine Karre wegschubste und ihm die Waage wegnahm, wollte er sich beim Gouverneur beschweren. Man ließ ihn nicht vor, und so übergoss er sich aus Protest vor dessen Amtssitz mit Benzin und setzte sich in Brand. Das Streichholz, mit dem er sich selbst anzündete, so könnte man überspitzt formulieren, setzte das Land in Flammen, und der Flächenbrand erfasste schon bald die gesamte arabische Welt.
Nach der Selbstverbrennung von Bouazizi kam es in ganz Tunesien zu Protesten gegen Arbeitslosigkeit, gegen Demütigung und Gängelung durch Behörden, für Freiheit. Die Kundgebungen wurden oft in den örtlichen Lokalen der UGTT, des gewerkschaftlichen Dachverbands, organsiert. Zentral war die Forderung nach Arbeit und einem Leben in Würde – in einem Staat, in dem man nicht Untertan einer korrupten, willfährigen Bürokratie ist, sondern Bürger eines funktionierenden Gemeinwesens mit einklagbaren Rechten. Nun war aber Tunesien – und das gilt für alle Staaten der arabischen Welt – ein Land mit blockierter Entwicklung, blockiert nicht durch den Islam und den Mangel an Aufklärung, sondern vor allem durch traditionelle autoritäre Herrschaftsstrukturen, ein Staat ohne freie Debatte, ohne Angebot einer politischen Alternative.
Also brach sich die Alternative auf eruptivem Weg Bahn. Vier Wochen nach der Selbstverbrennung Bouazizis flüchtete Zine el-Abidine Ben Ali, der das Land über 23 Jahre lang diktatorisch regiert hatte, am 14. Januar 2011 vor dem sich ausbreitenden Aufstand ins saudische Exil. Dank Facebook und Twitter und auch dem im ganzen arabischen Raum populären katarischen Fernsehsender Al-Dschasira breitete sich die Kunde von den tunesischen Massenprotesten schnell über die Landesgrenzen hinweg aus. Auf dem Tahrir-Platz im Zentrum von Kairo demonstrierten bald Hunderttausende gegen das Regime, bis die Armee den ägyptischen Staatschef Husni Mubarak, der das Land 30 Jahre lang regiert hatte, am 11. Februar 2011 vom Sockel stieß. Wenige Tage später begann ein Aufstand in Libyen, wo sich – zum Teil aus abtrünnigen Truppen – Milizen bildeten, die mithilfe von Luftunterstützung der Nato im August 2010 Muammar al-Gaddafi entthronten, der 41 Jahre lang an der Macht gewesen war. In Syrien beantwortete der Diktator Baschar al-Assad, der im Jahr 2000 die Nachfolge seines Vaters angetreten hatte, die zivilen Proteste umgehend mit Gewehrschüssen. Es kam zum Bürgerkrieg, und ohne die massive Unterstützung der iranischen Pasdaran und der libanesischen Hisbollah wäre der syrische Potentat wohl schon entmachtet gewesen, bevor auch noch die russische Luftwaffe auf seiner Seite in den Krieg eintrat. Auch Jemen, Bahrain, Marokko, Algerien wurden in unterschiedlichem Ausmaß von der arabischen Aufstandsbewegung erfasst.
Heute, zehn Jahre nach der Selbstverbrennung Bouazizis, sieht die Bilanz düster aus. Nur in Tunesien herrschen demokratische Verhältnisse. In Ägypten gibt es unter dem Militärdiktator Abd al-Fattah as-Sisi weniger Freiheiten und mehr politische Gefangenen als unter Mubarak. In Libyen ist der Staat faktisch zerfallen. Und in Syrien hat der Bürgerkrieg eine halbe Million Menschen das Leben gekostet und 13 Millionen in die Flucht getrieben, zur Hälfte leben sie innerhalb des Landes als „Internally Displaced Persons“, zur Hälfte sind sie ins Ausland geflüchtet, die allermeisten in die Türkei, in den Libanon und nach Jordanien.
Dass in Tunesien der Übergang zur Demokratie gelungen ist, hat verschiedene Gründe. In Tunesien hat sich nach der Unabhängigkeit des Landes unter der Herrschaft Habib Bourguibas (1957-1987) eine relativ breite, gut gebildete Mittelschicht herausgebildet. Frauen waren rechtlich den Männern weitgehend gleichgestellt. Es entstand eine lebendige Zivilgesellschaft mit unabhängigen Organisationen und Berufskammern. Die Armee spielte unter Ben Ali, der Bourguiba von der Macht putschte und einen Polizeistaat errichtete, eine untergeordnete Rolle und hatte weder politische Ambitionen noch wirtschaftliche Interessen. Zudem ist Tunesien ein kleines, geopolitisch eher unbedeutendes Land und, anders als seine beiden Nachbarstaaten Algerien und Libyen, ohne erhebliche Ressourcen an Erdöl und Erdgas. Ausländische Interessen halten sich da in engeren Grenzen als anderswo.
In Tunesien erreichten die gemäßigten Islamisten von Ennahda bei den ersten freien Wahlen zu einer Verfassunggebenden Versammlung die relative Mehrheit. Dazu beigetragen hat bestimmt, dass sie während der harten Jahre der Diktatur am meisten gelitten haben und über Wohltätigkeitsnetze den Leuten aus ärmeren Schichten halfen, den Alltag zu meistern. Aber als Ennahda versuchte, die neue Verfassung im traditionell laizistischen Staat religiös aufzuladen und die Rechte der Frauen zu beschneiden, wurde sie 2013 von einer mobilisierten Zivilgesellschaft gestoppt. Für den danach ausgehandelten breiten Dialog, der 2014 zur Verabschiedung einer neuen Verfassung führte, erhielt das Quartett von Gewerkschaftsbund, Arbeitgeberverband, Anwaltskammer und Menschenrechtsliga 2015 den Friedensnobelpreis.
In Tunesien finden seither regelmäßig freie Parlaments- und Präsidentschaftswahlen statt. Seit Oktober 2019 ist der parteilose Verfassungsrechtler Kais Saied Staatspräsident. Seit September 2020 regiert der von ihm eingesetzte ebenfalls parteilose Ministerpräsident Hichem Mechichi. Die Parteien haben in einem Jahrzehnt politischer Querelen an Reputation eingebüßt. Korruption ist noch immer verbreitet. Doch der Übergang zur Demokratie ist im Großen und Ganzen geglückt, auch wenn es das von der Verfassung vorgesehene Verfassungsgericht noch nicht gibt und auch die ebenfalls in der Verfassung festgeschriebene Gleichberechtigung von Männern und Frauen im Erbrecht noch aussteht. Die Verhältnisse sind jedoch nicht konsolidiert, bleiben labil. Dies ist letztlich vor allem der wirtschaftlichen Situation des Landes geschuldet. Sie hat sich – gerade auch für die arbeitslose Jugend aus dem Landesinnern, von denen die Revolte 2010/2011 ausging – nicht verbessert, sondern eher verschlechtert. Außerhalb von Syrien und dem Irak, wo er entstanden ist, hat der Islamische Staat (IS) in keinem arabischen Land so viel Nachwuchs rekrutiert wie in Tunesien – und die meisten Jugendlichen, die sich den Terroristen anschlossen, kamen aus dem vernachlässigten Landesinnern, viele aus Sidi Bouzid, wo sich vor zehn Jahren Bouazizi angezündet hat.
Auch in Ägypten haben nach dem Sturz von Mubarak die Islamisten die Wahlen gewonnen. Sie waren die Trittbrettfahrer der genuin laizistischen Revolte, die Hunderttausende auf den Tahrir-Platz trieb. Die Muslimbrüder mobilisierten Millionen Anhänger vor allem in den ausufernden Schlafstädten der Metropole Kairo. Bei den Wahlen zum „Rat des Volkes“, der großen Kammer des Parlaments, im Januar 2012 erreichte ihre Allianz 45 Prozent der Sitze, die Salafisten gewannen als zweitstärkste Partei 25 Prozent. Und aus den Präsidentschaftswahlen ging Mohammed Mursi, Kandidat der Muslimbrüder, in der Stichentscheidung im Juni 2012 mit 52 Prozent der Stimmen als Sieger hervor.
Kompromiss war dem islamistischen Wahlsieger, der knapp mehr als die Hälfte der Wähler hinter sich und knapp weniger als die Hälfte gegen sich hatte, fremd. Ganz nach der Devise „the winner takes it all“ suchte er nicht den Dialog. Mubarak hatte sein Volk in der Opposition geeint, Mursi spaltete es. Er entzog seine Entscheidungen der Kontrolle der Justiz, erklärte sich für unantastbar, hob die Gewaltenteilung faktisch auf und brüskierte die laizistische Opposition und auch die Jugendlichen, die auf dem Tahrir-Platz Kopf und Kragen für die Freiheit, nicht für eine islamistisches Regime, riskiert hatten. Die Militärs, die über Firmen in der Lebensmittelindustrie, im Tourismus, in der Erdölbranche und über die Gebühren des Suez-Kanals wohl etwa ein Drittel der Wirtschaft des Landes kontrollieren, fürchteten um ihre Pfründen und ihre politische Macht, die sie nie wirklich abgegeben hatten und setzten Mursi im Juli 2013 in einem Staatsstreich ab. Nachdem hunderte Demonstranten erschossen und tausende Muslimbrüder inhaftiert waren, ließ sich der Putschist as-Sisi ein Jahr später mit 97 Prozent der Stimmen zum Präsidenten wählen. 2018 gestand er sich wieder mit 97 Prozent der Stimmen ein zweites Mandat zu.
Heute gibt es in Ägypten etwa 60.000 politische Gefangene. Die Militärs, die das Land wie eine Kaserne verwalten, bauen ihr Wirtschaftsimperium aus, während die Einkommen der unteren Schichten dramatisch sinken. Deutschland weiß die Kooperation der ägyptischen Militärdiktatur in Sachen Migrationsmanagement zu schätzen, und Ägypten hält den ersten Rang bei den deutschen Waffenexporten. Man arrangiert sich. Friedhofsruhe.
Unruhiger sieht die Lage in Libyen aus. Unter der Diktatur Gaddafis, der sich 1969 an die Macht geputscht hatte, wurden staatliche Strukturen abgebaut, die meisten Ministerien aufgelöst und ein politisches System sui generis aufgebaut: die Große Sozialistische Libysch-Arabische Volks-Dschamahirija. Die Macht lag fortan auf lokaler Ebene bei Volkskomitees und auf nationaler Ebene beim Allgemeinen Volkskongress. Es waren Instanzen, die von Revolutionskomitees kontrolliert wurden. Diese setzten die politischen Vorgaben Gaddafis um, der den Titel Revolutionsführer trug, formal aber kein politisches Amt innehatte. Parteien und Gewerkschaften waren generell verboten, zivilgesellschaftliche Organisationen gab es nicht. Nach dem Sturz Gaddafis und dem Zusammenbruch seines Herrschaftssystems muss nun ein Staat weitgehend erst einmal neu aufgebaut werden, was umso schwieriger ist, als Dutzende Milizen das Land kontrollieren – mit volatilen Loyalitäten zu politischen Instanzen.
Heute ist Libyen machtpolitisch zweigeteilt: in Tripolis, im Westen des Landes, hat die international anerkannte Regierung ihren Sitz. Sie kontrolliert nicht viel mehr als die Hauptstadt und das Umland. In Tobruk, im Osten, tagt das gewählte, von Milizen aus der Hauptstadt vertriebene Parlament, das sich weigert, die Regierung in Tripolis zu anerkennen und in Al-Baida eine Gegenregierung eingesetzt hat. Faktischer Machthaber im Osten aber ist Chalifa Haftar, der sich 1969 am Putsch beteiligte, der Gaddafi an die Macht brachte, und 2011 an der Revolte, die ihn stürzte.
Seit Gaddafis Sturz kommt das Land nicht zur Ruhe, es herrscht – bald latent, bald manifest – Bürgerkrieg. Im vergangenen Sommer versuchte Haftar, der militärisch von Ägypten, den Vereinigten Arabischen Emiraten und Russland unterstützt wird, Tripolis einzunehmen und die Kontrolle über das ganze Land zu erlangen. Vor allem die Türkei vereitelte das Vorhaben. Sie griff massiv mit Drohnen ins Geschehen ein und half, Haftars Truppen zurückzuschlagen. Damit wurde wieder Raum für Diplomatie geschaffen. Ende Oktober einigten sich beide Seiten auf einen sofortigen Waffenstillstand, auf den Abzug sämtlicher etwa 60.000 ausländischen Söldner – unter ihnen 2.000 Soldaten der putinhörigen russischen Privatarmee Wagner und ebenso viele von der Türkei ins Land gebrachte syrische Milizionäre – innerhalb von 90 Tagen und auf Wahlen in spätestens 180 Tagen.
A la longue wird die massive ausländische Einmischung in Libyen eine Lösung erschweren. Syrien mag da als Menetekel dienen. Dort hat zwar der Diktator mit Hilfe ausländischer Truppen die militärische Kontrolle fast über das ganze Land wieder gewonnen. Iranische, russische, libanesische, türkische und amerikanische Truppen stehen im Land. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht. Sicher scheint nur: Ohne die Entfernung Assads von der Macht wird es keine politische Lösung geben.
Zehn Jahre nach Bouazizis Selbstverbrennung, die der Arabischen Frühling eingeleitet hat, fällt die Bilanz also ernüchternd aus: Überall Krieg, Diktatur, autoritäre Regimes, nur Tunesien ist ein Lichtblick. Es ist eine Zwischenbilanz. Denn der Arabische Frühling ist noch nicht zu Ende. Er trieb im Sudan und Algerien späte Blüten. Er ist nur der Anfang eines epochalen Umbruchs der noch längst nicht abgeschlossen ist, vergleichbar dem arabischen Erwachen und der Neuordnung dieses Raums nach dem Zusammenbruch des Osmanischen Reichs am Ende des Ersten Weltkrieges, vergleichbar auch mit der panarabischen Emanzipationsbewegung nach dem Zweiten Weltkrieg, deren prominentester Führer der Ägypter Abdel Nasser war.
Der antikoloniale Aufbruch mündete in einer Herrschaft von Autokraten, die das Entstehen einer Zivilgesellschaft nach Kräften behinderten, Oppositionelle foltern ließen, die Demokratie kujonierten und sich selbst oft schamlos bereicherten. Doch das störte hierzulande kaum. Diese Regimes kooperierten bei der Flüchtlingsabwehr und hielten die islamistische Gefahr im Zaum. Sie bürgten in der Regel für Stabilität. Sie schienen zu bürgen, muss man im Nachhinein sagen. Dass in diesen Ländern eine frustrierte, um ihre Zukunft betrogene Jugend heranwuchs, gut ausgebildet, aber ohne berufliche Perspektive, ohne Aussicht, eine Wohnung mieten, ein Haus bauen und eine Familie gründen zu können, ohne Aussicht auf ein Leben in Würde, das wurde diesseits des Mittelmeeres erst wahrgenommen, als sie revoltierte.
Für Chaos, Bürgerkrieg und Massenmord, für all das Elend, in das die Revolte weithin mündete, sind die oft vom Westen unterstützten Diktatoren verantwortlich zu machen, nicht die Jugend Tunesiens, nicht die Ägypter auf dem Tahrir-Platz, nicht die libyschen Jugendlichen, die sich mit auf Lieferwagen aufgepflanzten Maschinengewehren den Panzern des Regimes entgegenstellten und erst recht nicht die Kinder, die Sprüche gegen den syrischen Diktator an die Schulwand pinselten und dafür gefoltert wurden.
(erschienen in „Gegenblende“, 15.12.2020)