Die Kinder fanden es lustig, die Polizei wunderte sich. Da kam am Rand einer viel befahrenen Straße ein Mann auf einem Esel zum Ölberg hochgeritten, dem Hügel oberhalb der Altstadt von Jerusalem. Es war kein Obsthändler oder Bauer, wie man schon aus seiner Kleidung schließen konnte. Vor dem Makassed Hospital, dem größten palästinensischen Krankenhaus, stieg er vom Esel ab, führte das Tier zu einem kleinen Platz just unter seinem Büro in der Chirurgie, wo es sein Heu fraß. Das Futter hatte der Arzt selbst besorgt.
Nizar Hijjeh leitet die Kinderherzchirurgie des Krankenhauses. Er trägt einen weißen Arztkittel mit einem Aufnäher „Universitätsklinikum Marburg“, darunter das grüne Hemd des Chirurgen. „Den Esel habe ich bei einem alten Mann gemietet“, sagt er und lässt sein schalkhaftes Lächeln aufblitzen, „zwei Wochen lang ritt ich jeden Tag zur Arbeit. Es war ein Protest.“ Der hochspezialisierte Arzt darf zwar in Jerusalem operieren, aber nicht Auto fahren. Auf einem Esel reiten darf er schon. Hijjeh ist Palästinenser aus dem besetzten Westjordanland. Wie dieses gehörte Ostjerusalem, wo das Massaked Hospital liegt, bis zum Sechstagekrieg von 1967 zu Jordanien. Während Israel aber das Westjordanland nach dem Krieg nur besetzte und nach fünfzig Jahren noch immer besetzt hält, annektierte es – völkerrechtswidrig – Ostjerusalem. Dieses gehört nach israelischem Verständnis und Recht seither zur vereinigten Hauptstadt Israels.
Die palästinensischen Einwohner Ostjerusalems haben eine blaue ID-Karte, die sie als „Ständige Einwohner“ Jerusalems ausweist und im übrigen zu Reisen in ganz Israel berechtigt. Die Palästinenser des besetzten Westjordanlands hingegen haben einen palästinensischen Pass, ausgestellt von der Palästinensischen Autonomiebehörde in Ramallah. Ein Recht auf Einreise nach Israel, also auch nach Ostjerusalem, haben sie nicht. Hijjeh aber hat eine Sondererlaubnis. Obwohl er Palästinenser aus dem Westjordanland ist, darf er – als Arzt und nur als Arzt – in Ostjerusalem arbeiten, aber eben nicht Auto fahren.
Geboren wurde Hijjeh 1967 in Hebron, der größten Stadt des Westjordanlands. Der Sechstagekrieg lag wenige Wochen zurück. Doch Ruhe kehrte nicht so schnell ein. Palästinensische Freischärler der Fatah von Jassir Arafat verübten Attentate auf die Soldaten der Besatzungsmacht. Israel sprengte die Häuser jener, die bewaffnete Palästinenser beherbergten. Es kam zu zahlreichen Toten auf beiden Seiten. Viele Palästinenser flüchteten nach Jordanien. Als Hijjeh drei Monate alt war, setzte sich auch seine Familie nach Amman ab. Nach einer Reise durch verschiedene arabische Länder fand sein Vater, Ingenieur, spezialisiert auf Rohstoffgewinnung, in Saudiarabien eine Arbeitsstelle. Dort, in Dammam, wo der zweitgrößte saudische Erdölexporthafen am Persischen Golf liegt, ging das palästinensische Flüchtlingskind Hijjeh zur Schule und machte als junger Mann sein Abitur – „mit Bestnote“, wie der heute 49-Jährige so ganz nebenbei erwähnt.
Im Alter von 18 Jahren wanderte Hijjeh nach Deutschland aus. „Von Dammam nach Schwäbisch Hall, von 30 Grad plus nach zwölf Grad minus“, erinnert er sich. Am Goethe-Institut lernte er deutsch. „Für mich war es schwierig“, sagt er, „die Familie weit weg, Freunde hatte ich keine, auch keine arabische Freunde, ich war der einzige Palästinenser.“ Aber Ausländerfeindlichkeit oder gar offenen Rassismus habe er in Schwäbisch Hall eigentlich nicht erlebt. „Damals war Deutschland noch offener“, vermutet er im Nachhinein.
Ein Jahr Studienkolleg in Heidelberg, vier Semester Zahnmedizinstudium in Freiburg, Medizinstudium in Marburg. Herzchirurg in Bad Nauheim. Ausbildung zum Kinderherzchirurgen in Gießen. Der junge Hijjeh arbeitete zielstrebig an seiner beruflichen Karriere. Mit Erfolg. Zuletzt arbeitete er als Kinderherzchirurg an den Universitätskliniken in Marburg und Gießen, wo er Oberarzt war. Hijjeh war in beiden Städten ein hoch geachteter Facharzt. Er verdiente gut. „Ich habe das Leben in Deutschland genossen“, sagt er, „ich habe eine tolle Familie, gesunde Kinder, wir haben in allen möglichen Ländern Urlaub gemacht.“
Aber Hijjeh war auch jedes Jahr in seiner Heimat, in Hebron, wohin sein Vater schon längst wieder zurückgekehrt ist. „Ich habe gesehen, wie mein Volk leidet“, sagt er ohne jedes Pathos in der Stimme, „es leidet und es wird alles immer schlimmer. Zudem gab es in den palästinensischen Gebieten keinen einzigen Kinderherzchirurgen. Hier starben Kinder, die, wären sie in Israel geboren worden, überlebt hätten.“ So nahm er mit dem Gesundheitsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde Kontakt auf. „Es ist nicht jedermanns Sache, einen gut bezahlten Job für ein Leben hier aufzugeben“, sagt er, „aber ich habe meine Wahl getroffen. Ich habe lange überlegt und meine Familie in die Entscheidungsfindung miteinbezogen.“
Hijjehs Frau, eine deutsche Politologin, sein zwölfjähriger Sohn und seine zehnjährige Tochter – „ein hübsches Mädel“, sagt der Arzt und zeigt ein Foto auf seinem Smartphone – sind in Deutschland geblieben. „Wir telefonieren jeden Tag“, versichert er, „mehrmals.“ Und schon klingelt sein Telefon. Am Apparat ist sein Sohn. Er ist vom Fahrrad gestürzt. Hijjeh fragt ihn, ob er blute, wo es weh tue, tröstet ihn, schickt ihn zu einem Arzt, den er gleich anrufen wird. Vater und Sohn reden deutsch. Hijjeh ist für einen Moment in die andere Welt zurückgeholt worden, nach Deutschland, wo die Familie lebt. Er schweigt, verbirgt kurz das Gesicht in den Händen. Alle sechs oder sieben Woche fliegt er für eine Woche nach Deutschland zu seiner Familie. Und im Sommer, wenn die Kinder die langen Schulferien haben, kommt die ganze Familie für einen Monat nach Hebron.
Rund 300 Kinder operiert Hijjeh jährlich am Herzen. Schon weit über tausend sind es inzwischen geworden. Der Arzt zeigt seine Station. „Open heart“ („Offenes Herz“) steht an der Türe. Ein Dutzend Kleinkinder liegen in Bettchen, die meisten an Schläuchen. Eine rote Linie am Boden markiert die Grenze, die Besucher nicht überschreiten dürfen – wegen Infektionsgefahr. Den Operationssaal der Kinderherzchirurgie hat Hijjeh selbst eingerichtet. Eine Million Dollar hat er bei begüterten Palästinensern vor Ort und im Ausland gesammelt. Über israelische Firmen hat er in Deutschland und den USA Apparate, Messgeräte, die ganze kardiologische Ausstattung für die Intensivstation eingekauft.
Etwa 60 Prozent der Kinder, die Hijjeh operiert, kommen aus dem Gazastreifen, die übrigen aus dem Westjordanland. Die Palästinenser Ostjerusalems aber lassen sich in der Regel in Westjerusalem behandeln, weil sie über ihre blaue ID-Karte in Israel versichert sind. Patienten aus dem Westjordanland und dem Gazastreifen hingegen sind alle über das Gesundheitsministerium der Palästinensischen Autonomiebehörde versichert. Bloß ist dieses oft knapp bei Kasse und kann dem Krankenhaus die Kosten nicht erstatten und den Ärzten die Löhne nicht auszahlen. „Manchmal fehlt uns das Geld, um künstliche Herzklappen oder auch nur Nahtmaterial für die Operationen einzukaufen“, sagt Hijjeh, „dann müssen wir eben dringende Operationen aufschieben.“
Das kann Leben kosten – so wie auch die bürokratischen Hürden. Für die Reise vom Westjordanland oder dem Gazastreifen nach Ostjerusalem brauchen die Patienten eine Genehmigung Israels, die die palästinensische Behörde beantragen muss und die oft auf sich warten lässt. In 20 Prozent der Fälle wird sie verweigert. Patienten, die einreisen dürfen, kommen in einer Ambulanz aus Hebron, Nablus oder andern Städten. Am Checkpoint werden sie in eine andere Ambulanz umgeladen, die in Israel registriert ist. Das alles kostet Zeit und schlimmstenfalls eben auch Leben.
Und dann ist noch ein Problem, das Hijjeh lösen möchte. Die herzkranken Kinder müssen ja begleitet werden. Nach Ramallah, Hebron und Nablus fährt man vielleicht in zwei Stunden. Wer aber aus Gaza kommt, kann nicht am selben Tag zurück. „Schauen Sie um zwei Uhr früh vorbei“, sagt er, „und sie werden in den Korridoren der Chirurgie überall alte Leute schlafen sehen.“ Wer unter 55 Jahre alt ist – wie eben die meisten Mütter und Väter der kleinen Patienten – erhält von den israelischen Behörden keine Einreisegenehmigung. Also begleiten die Großeltern die Kinder. „Unhaltbare Zustände, wo sollen sich all diese alten Leute waschen duschen, umkleiden?!“
„Wir bräuchten ein zusätzliches Gebäude mit Zimmern, Küche, Duschen und Toiletten“, sagt Hijjeh. Aber dafür bräuchte man wieder eine Baugenehmigung, und eine solche erhalten Palästinenser im annektierten Ostjerusalem selten. Dass die Krankenhausverwaltung an israelischer Kandare liegt, hat Hijjeh schon erfahren müssen, als er dagegen protestierte, nicht Auto fahren zu dürfen. Zwei Wochen ritt er auf einem Esel zum Ölberg. Als dies nichts fruchtete, tauschte er den Esel gegen ein Pferd aus. Ohne Erfolg. Als er sich schließlich ein Kamel besorgte, bat ihn die Krankenhausverwaltung, offenbar von den israelischen Behörden verwarnt, von einer weiteren Eskalation abzusehen. Seither kommt der Arzt täglich mit öffentlichen Verkehrsmitteln oder mit einem Taxi in seine Klinik.
(erschienen in „taz“ 19.05.2017)