Vier Jahre lang hatte Mircea Dinescu geschwiegen, schweigen müssen. Der einst als „rumänischer Majakowski“ gefeierte Dichter war beim „Conducator“ (Führer), wie sich Rumäniens Staats- und Parteichef Nicolae Ceausescu zu bezeichnen beliebte, in Ungnade gefallen. Dann aber – am 22. Dezember 1989 – trat er vor die Kameras des staatlichen Fernsehens: „Liebe Rumänen, ich bin gekommen, um euch mitzuteilen, dass der Diktator gestürzt ist, um euch mitzuteilen, dass das Land frei ist, um euch mitzuteilen, dass wir alle freie Menschen sind.“ Der Jubel in Bukarest war unbeschreiblich.

Vor 20 Jahren ging der rumänische Albtraum zu Ende. Ceausescu, vom Westen lange Zeit hofiert, weil er 1968 den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei verurteilt hatte, war ein kommunistischer Potentat sui generis. Er riss ein Fünftel der Bukarester Altstadt ab, um einen monströsen Volkspalast zu bauen. Er ließ sich als „Genie der Karpaten“ und „Titan unter den Titanen“ verherrlichen. Die „Epoche Ceausescu“ wurde offiziell zur „glorreichsten Epoche der rumänischen Geschichte“ erklärt. Für das gewöhnliche Volk aber bedeutete sie vor allem Not, Elend und Entbehrung. Lebensmittel wie Zucker, Speiseöl und Fleisch waren rationiert. Für die Milch, die es nur in den frühesten Morgenstunden gab, stand man eine ganze Nacht durch an. Butter, Mehl und Reis kamen nur gelegentlich in den Verkauf. Es gab täglich Strom-, Gas- und Wassersperren. Wohnungen durften im Winter nur bis auf zwölf Grad geheizt werden. Lehrer und Kinder saßen in den Schulzimmern in dicke Mäntel gehüllt.

Die Wende in Rumänien spielte sich in schwindelerregendem Tempo ab – und sie hinterließ, anders als in den übrigen Staaten des Ostblocks, viele Tote. Nur eine Woche, bevor Dinescu seine historische Rede hielt, war in Temesvar das Startsignal gefallen. In der zweitgrößten Stadt Rumäniens, dem Hauptort des Banat, gibt es eine kleine deutsche Minderheit, der auch die Nobelpreisträgerin Herta Müller entstammt, und eine etwas größere ungarische Volksgruppe. Der Ungarisch-Reformierten Kirche von Temesvar, stand 1989 ein recht aufmüpfiger Pastor vor: Laszlo Tökes. In seinen Sonntagspredigten kritisierte er die Missstände im Land und auch die Diskriminierung der ungarischen Minderheit, deren Schulen nach und nach geschlossen wurden. Vor allem aber prangerte er die sogenannte Systematisierung an, die Ceausescu 1988 verkündet hatte. Der Begriff stand für das barbarische Projekt des Conducators, mehr als 7 000 Dörfer einzuebnen und deren Bevölkerung in 500 agro-industriellen Zentren zusammenzufassen.

Im März 1989 wird Tökes zu seinem Vorgesetzten bestellt, zu Laszlo Papp, dem regimetreuen Bischof von Oradea. Der kündigt ihm die Versetzung nach Mineu, einen kleinen Ort in Siebenbürgen, an und händigt ihm die Entlassungsurkunde aus. Tökes‘ Einspruch wird abgelehnt, und der Bischof fordert den Pastor schriftlich auf, die Wohnung, die im ersten Stock eines Wohnblocks, just unter dem Kirchenraum im zweiten Stock, liegt, bis Freitag, den 15. Dezember, zu räumen. Am Sonntag zuvor spricht Tökes von der Kanzel zu seiner Gemeinde: „Liebe Brüder und Schwestern in Christus. Mir wurde befohlen, das Haus zu räumen. Da ich die Aufforderung nicht akzeptiere, werde ich mit Gewalt aus eurer Mitte entfernt werden. Bitte seid am kommenden Freitag als Zeugen zur Stelle, seid friedfertig, aber seid Zeugen!“

Schon am frühen Freitagmorgen treffen einige Dutzend Gläubige vor Tökes‘ Haus ein, obwohl dort auch Posten der Securitate, der gefürchteten Geheimpolizei, Stellung bezogen haben. Am Nachmittag sind es bereits Hunderte, am Abend mehr als tausend. Sie beten, zünden Kerzen an, singen „Erös car a mi istenünk“ – „Das Gotteshaus ist die größte Macht“ – und andere Kirchenlieder. Der Bürgermeister schaut vorbei und fragt den Pastor, ob es Probleme gebe. „Wir können nicht einkaufen, wir haben keinen Brennstoff, die Behörden haben unsere Fenster zertrümmert, unsere Tür ging entzwei, als wir von der Securitate angegriffen wurden“, zählt Tökes die Missstände auf, „und der Arzt durfte meine Frau nicht besuchen, obwohl sie schwanger und in keiner guten Verfassung ist.“ Kaum ist der Bürgermeister gegangen, tauchen von überall her Geheimpolizisten auf und greifen die Menge mit Knüppeln an. Nur etwa 150 Personen halten die ganze Nacht über vor dem Wohnblock des Pastors Wache.

Am Samstag ist die Menschenmenge vor Tökes‘ Wohnblock viel größer als am Vortag. Und längst sind es nicht mehr nur Ungarn, sondern nun vor allem Rumänen. Die Feuerwehr verspritzt mit Tränengas versetztes Wasser. Die Menschen singen „Desteapta-te, romane“ – „Erwache, Rumäne“, ein Lied aus der 1848er-Revolution, das unter Ceausescus Herrschaft verboten ist und schon bald Nationalhymne werden wird. Auf dem Opernplatz im Zentrum der Stadt ertönen Rufe wie „Nieder mit Ceausescu!“ – „Nieder mit dem Regime!“ – „Nieder mit dem Kommunismus!“

Am Abend strömen die Arbeiter zahlreicher Betriebe in die Innenstadt. Angeführt werden sie von Sorin Oprea. Der 27-jährige Elektriker ist stadtbekannt. Er hat vor drei Wochen erst einen Hungerstreik abgebrochen, mit dem er menschenwürdige Arbeitsbedingungen, ein besseres Essen in der Kantine und neue Schweißgeräte für seinen Betrieb durchsetzen wollte. Oprea, in Turnschuhen und Jeans, führt die Menge zur örtlichen Parteizentrale. Bald sind sämtliche Fensterscheiben des Gebäudes zertrümmert.

Gegen zehn Uhr abends rücken Einheiten der Securitate an. Der wütenden Menge gelingt es, einen Wasserwerfer zu erobern. Er wird in einzelne Teile zerlegt und in die Bega, den Stadtkanal, geworfen – wie auch die gesammelten Werke von Ceausescu, die Demonstranten aus einer aufgebrochenen Buchhandlung herbeischleppen. Ein Laden, in dem Pelzmäntel ausgestellt sind, geht in Flammen auf. Pelzmäntel kann sich im völlig verarmten Land nur die Nomenklatura leisten.

Um drei Uhr früh kommen die Grenztruppen zum Einsatz. Sie jagen die Demonstranten durch die Straßen und knüppeln jeden Protest erbarmungslos nieder. Hunderte werden verhaftet. Viele von ihnen werden ins berüchtigte Gefängnis der Securitate gebracht. Um vier Uhr früh herrscht in Temesvar wieder Ruhe, Friedhofsruhe.

In derselben Nacht hat sich Tökes vorsichtshalber mit seiner schwangeren Frau und zwei engen Freunden in die Kirche im zweiten Stock seines Wohnblocks zurückgezogen. Er steht im Talar und in gelben Latschen da, als die Securitate die Tür einbricht. Die Geheimpolizisten schlagen den Pastor, der ihnen wie eine Waffe die Bibel entgegenhält, fürchterlich zusammen und deportieren ihn nach Mineu, ins Dorf, wohin ihn Bischof Papp beordert hat. Dort wird er unter Hausarrest gestellt.

Doch Temesvar kommt auch am Sonntag nicht zur Ruhe. Niemand weiß, wohin der beliebte Pastor verschleppt wurde und ob er überhaupt noch am Leben ist. Klar ist nur, seine Sonntagspredigt fällt aus. Schon am Mittag stürmen Demonstranten die Parteizentrale und werfen die Porträts des Conducators aus den Fenstern. Im Zentrum der Stadt werden überall Schaufenster zerschlagen. Bücher Ceausescus und seiner Frau Elena, der „liebenden Mutter der Nation“, die noch verhasster als der Diktator selbst ist, werden verbrannt.

Um 17 Uhr feuern Einheiten der Grenztruppen ohne jede Vorwarnung in die Menge. Panik macht sich breit. Doch immer wieder hört man Sprechchöre: „Nieder mit der Diktatur“ – „Freiheit! Freiheit!“ Bis in die frühen Morgenstunden wird demonstriert und geschossen.

Doch der Widerstand ist nicht gebrochen. Während die Securitate in die Krankenhäuser eindringt, um Schwerverletzte zu verhören, verlangen am Montag Demonstranten die Herausgabe ihrer Toten. Mindestens 50 Menschen sind in der Nacht im Kugelhagel von Grenztruppen und Securitate gestorben. Nun treten auch Arbeiter einzelner Betriebe in den Streik. Sie wollen die Bestrafung jener, die auf dem Opernplatz zwei Arbeiterkinder erschossen haben. Panzer fahren in der Stadt auf. Wieder wird geschossen. Doch es gibt am Montag keine weitere Toten.

Am Dienstag nehmen die Demonstranten den Opernplatz ein. Nun schickt Elena Ceausescu – ihr Mann ist am Vortag zu einem Staatsbesuch in den Iran abgereist – Ministerpräsident Constantin Dascalescu zu Verhandlungen nach Temesvar. Er trifft sich in der besetzten Parteizentrale mit einer von Oprea angeführten Delegation der Demonstranten. Der Premier muss das Gebäude durch einen Hintereingang verlassen, während der Elektriker vom Balkon aus der Menge verkündet, die Verhandlungen hätten nichts gebracht.

Am Mittwoch kommt es zu neuen Massendemonstrationen, den größten, die Temesvar je gesehen hat. Völlig unerwartet greifen die militärischen Verbände nicht ein. Junge Männer springen auf die Panzer, Mädchen bringen den Soldaten Blumen und Essen. Es kommt überall in der Stadt zu Verbrüderungsszenen. Vom Balkon der Oper verliest ein „Provisorisches Komitee der Revolution“, dem Arbeiter, Studenten, Professoren, Journalisten und Schriftsteller angehören, seine Forderungen: Meinungsfreiheit, Freilassung der politischen Gefangenen, Rückgabe der Toten und vieles andere mehr. Die Proklamation geht im Applaus unter, die Menge tanzt die „Hora unirii“, einen rumänischen Nationaltanz, und betet gemeinsam das Vaterunser.

Im fernen Bukarest ist inzwischen Ceausescu aus dem Iran zurückgekehrt. In einer Fernsehansprache an sein Volk spricht er von „terroristischen, antinationalen Gruppen“, die zusammen mit „reaktionären, imperialistischen und chauvinistischen Kreisen“ Militäreinheiten angegriffen hätten. Erst jetzt erfährt ganz Rumänien, dass es in Temesvar zu Unruhen gekommen ist.

Am Donnerstag ordnet der Conducator in der Hauptstadt eine Massenveranstaltung an. Zehntausende von Arbeitern, Studenten und Angestellten werden herbeigekarrt. Doch schon nach wenigen Minuten wird Ceausescu ausgebuht. Die Kundgebung wird live übertragen, und so sieht ganz Rumänien, wie das Gesicht des völlig überraschten Staats- und Parteichefs zur Maske erstarrt. Der Bann ist gebrochen.

Am Freitag erstürmen Demonstranten in Bukarest das Zentrum der Macht, das Gebäude des Zentralkomitees der Partei, in dem sich auch Ceausescu und seine Frau aufhalten. Die beiden flüchten in einem Hubschrauber, der auf dem Dach des Gebäudes landet – die Szene wird live übertragen, Demonstranten haben zuvor das Fernsehgebäude gestürmt. Am Abend liefern sich Securitate und Armee auf den Straßen der Hauptstadt Gefechte. Auch viele Demonstranten sterben im Kugelhagel.

Drei Tage später, an Weihnachten, werden Nicolae und Elena Ceausescu außerhalb von Bukarest aufgespürt, festgenommen, in einem militärischen Eilverfahren zum Tod verurteilt und hingerichtet.

Die rumänische Revolution hat mehr als tausend Todesopfer gefordert. Aber war es überhaupt eine Revolution? Inzwischen spricht vieles dafür, dass hohe Armeekreise auf eine Ablösung des Conducators hinarbeiteten und dass sogar ein Teil der Securitate die Demonstrationen steuerte. Vieles ist bis heute ungeklärt. Klar ist nur, dass die Nutznießer der Wende zunächst vor allem die Wendehälse waren. Der gewendete Kommunist Ion Ilescu wurde 1990 zum Präsidenten gewählt und errichtete ein halbautoritäres, halbdemokratisches Regime, das bis zum Wahlsieg des Christdemokraten Emil Constantinescu im Jahr 1996 andauerte.

Der Pastor Laszlo Tökes, der das Startsignal zum Sturz der Diktatur gegeben hat, ist heute Europaabgeordneter, und der Dichter Mircea Dinescu, der den Sturz des Tyrannen verkündet hat, lebt in einem rumänischen Dorf an der Donau – als Weinbauer.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 12.12.2009

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert