In Tunesien macht sich eine Angst breit, sie rieselt in die Poren der Gesellschaft, schleicht durch die Alltagsgespräche. Es ist die Angst vor Dschihadisten. In Europa fürchtet man sich vor „Schläfern“ und „einsamen Wölfen“, die sich auf Attentate wie in Paris, Berlin oder Istanbul vorbereiten, und auch vor Terroristen, die als Flüchtlinge einsickern. In Tunesien aber geht die Angst vor tausenden tunesischen Dschihadisten um, die aufgrund der militärischen Niederlagen des sogenannten Islamischen Staates (IS) im Irak, in Syrien und in Libyen in ihre Heimat zurückkehren.
Tunesien ist das Land, aus dem, bezogen auf die Gesamtbevölkerung, am meisten Dschihadisten in den Krieg im Nahen Osten aufgebrochen sind. Es sind schätzungsweise 5.000, dazu kommen noch rund 1.500, die im Nachbarland Libyen zum IS gestossen sind. Wohl über tausend tunesische Dschihadisten sind getötet worden. Was aber geschieht, wenn all die überlebenden mit ihrer eingeübten Gewalt, ihren gewaschenen Gehirnen und ihren Traumatisierungen zurückkehren? Etwa 800 sind laut Innenminister Hédi Madjoub schon angekommen, davon sitzen vermutlich nur etwa 300 in Gefängnissen.
Ende Dezember versammelten sich Hunderte von Demonstranten vor dem Parlament in Tunis und skandierten: „Keine Freiheit für die Rückkehrer!“ Und sie schrien Parolen gegen Rachid Ghannouchi, den Führer der islamistischen Ennahda, die nach ihrem Wahlsieg vom November 2011 Tunesien zwei Jahre lang regiert hatte. Ghannouchi hatte den Vorschlag in die Debatte geworfen, reuigen Dschihadisten gegenüber Gnade walten zu lassen. Die Polizeigewerkschaft hingegen warnte über eine Pressemitteilung vor einer „Somalisierung“ Tunesiens und forderte, den Dschihadisten die Einreise zu verbieten.
Der Ministerpräsident Youssef Chahed versuchte, die Demonstranten zu beschwichtigen. Man werde die Dschihadisten gewiss nicht abholen und sie nach Tunesien zurückbringen, sondern sie gleich an der Grenze festnehmen und ins Gefängnis werfen. Andere Töne hatte einige Wochen zuvor der 90-jährige Staatspräsident Béji Caid Essebsi angeschlagen: „Wir werden sie nicht alle ins Gefängnis stecken. Selbst wenn wir es tun wollten, könnten wir es nicht. Wir hätten wir gar nicht genug Gefängnisse. Aber wir werden die nötigen Massnahmen ergreifen, um sie zu neutralisieren.“ Im übrigen, so stellte er klar, verbiete es die Verfassung, Tunesiern die Rückkehr in ihr Land zu verweigern. Die neue Verfassung verbietet es auch, Tunesiern die Staatsangehörigkeit abzuerkennen, wie es die Polizeigewerkschaft vorgeschlagen hat.
Wer aber sind diese Terroristen, vor denen nun in ganz Tunesien die Angst umgeht? Diese Frage stellte sich auch das „Tunesische Forum für wirtschaftliche und soziale Rechte“ (FTDES), eine NGO, die sich unter anderem mit Fragen der Migration beschäftigt. Nur weg aus Tunesien! Aber wohin? Für viele Jugendliche stellt sich offenbar die Alternative: Europa oder Dschihad. Und so hat das Forum im vergangenen Oktober das „Zentrum zur Erforschung des Terrorismus“ (CTRET) gegründet. Dieses hat sich nicht nur zum Ziel gesetzt, das Problem zu analysieren. Es will auch Präventionsarbeit leisten, die Rekrutierung weiterer Dschihadisten erschweren und Opfern des Terrorismus Hilfe leisten.
Aus einer ersten Studie, die auf der Auswertung der Daten von 1.000 Dschihadisten beruht, die in den Jahren 2011 bis 2015 zu Gefängnisstrafen verurteilt wurden, geht hervor, dass 40 Prozent von ihnen eine Hochschul- oder höhere Fachschulausbildung haben, dass 96,5 Prozent Männer sind, davon mehr als die Hälfte verheiratet, und dass die meisten über die Moscheen oder sozialen Netzwerke für den Dschihad rekrutiert wurden. 69 Prozent erhielten ein militärisches Training in Libyen, von ihnen zogen 80 Prozent nach Syrien weiter.
Wie aber kommt es, dass gerade aus Tunesien, dem einzigen Land, in dem der „arabische Frühling“ zu einem demokratischen Regierungssystem geführt hat, so viele sich den Dschihadisten angeschlossen haben? Darüber rätselt man auch in Tunesien. Die gemässigten Islamisten der Ennahda sind gewiss nicht ohne Schuld. In den zwei Jahren, die sie das Land regierten, liessen sie die Salafisten, von denen später viele in den Terrorismus abdrifteten, weithin gewähren. Salafisten sprengten Konzerte und Diskussionsveranstaltungen, verwüsteten Kunstausstellungen und sufistische Grabmäler. Der weißhaarige Ennahda-Chef Ghannouchi sagte beschönigend: „Es sind doch unsere Kinder, sie erinnern mich an meine Jugend.“
Vor allem brachten die Salafisten hunderte Moscheen unter ihre Kontrolle und setzten dort radikale Prediger ein. Erst nach dem Wahlsieg von Nidaa Tounes, dem vom heutigen Präsidenten Caid Essebsi angeführten laizistischen Bündnis, das sozialdemokratische, liberale wie konservative Kräfte vereinigt und auch vielen Anhängern der gestürzten Diktatur eine neue Heimat bietet, wurde eine systematische Kampagne zur „Rückeroberung der Moscheen“ gestartet. Weit über hundert Gebetshäuser wurden geschlossen.
Nur auf den ersten Blick ist erstaunlich, dass viele Dschihadisten gerade aus den von Politik und Wirtschaft vernachlässigten Gebieten des Landesinnern stammen, von denen auch die Revolte gegen die Diktatur Ben Alis ausging. Aus Sidi Bouzid, wo sich im Dezember 2010 Mohamed Bouazizi anzündete und damit einen Aufstand entfachte, der nicht nur Tunesien, sondern den gesamten arabischen Raum erfasste, sind Dutzende junger Männer in den Dschihad gezogen – ebenso aus Oueslatia, wo Anis Amri aufwuchs, der jüngst in Berlin einen Lastwagen durch einen Weihnachtsmarkt steuerte und zwölf Menschen tötete. Für die oft gut ausgebildeten Jugendlichen, die vor fünf Jahren ihr Leben für eine Zukunft in Freiheit, Arbeit und Würde riskierten, hat sich kaum etwas geändert. Die wirtschaftlichen Verhältnisse haben sich sogar verschlechtert.
Gerade in diesen konservativen, von tiefer Religiosität geprägten Gegenden rekrutierten die Dschihadisten unter vom „arabischen Frühling“ enttäuschten Jugendlichen viele Anhänger. Ihre Kampftruppen, zum Teil mit der vor allem in Algerien und Mali operierenden „Al Qaida im Maghreb“ (AQMI) verbandelt, verschanzten sich zunächst vor allem im Gebirgsmassiv Jebal Chaambi an der algerischen Grenze, wo sie sich auch heute noch immer wieder mit der Armee tödliche Gefechte liefern.
Schon bald aber operierten Dschihadisten auch in den Städten. Im September 2012 stürmten Anhänger von „Ansar al-Scharia“ die US-Botschaft in Tunis an. Attentäter der Terrortruppe fielen 2013 die Linkspolitiker Choukri Belaid und Mohamed Brahmi zum Opfer. Beteiligt an beiden Morden war Ahmad Rouissi, der im März 2015 in der libyschen Hafenstadt Sirte getötet, wo er auf Seiten des IS gekämpft hatte.
2015 richtete sich der Terrorismus dann gezielt gegen den Tourismus, einen Grundpfeilder der tunesischen Wirtschaft. Bei Attentaten auf das Bardo-Museum in Tunis und auf ein Strandhotel bei Sousse starben 60 Ausländer. Und im März 2016 versuchte der IS, Ben Guerdane im Süden des Landes zu erobern. Die Dschihadisten hatten die Grenzstadt für einige Stunden unter Kontrolle, bis ihn tunesische Truppen zurückeroberten.
Zurück blieben 70 Tote, unter ihnen 50 IS-Kämpfer.
Die meisten der Dschihadisten, die in Ben Guerdane einfielen, waren von Libyen her eingesickert. Vor einem Monat verlor der IS in Lybien schließlich die Hafenstadt Sirte, seine Hochburg, die auch von vielen Tunesiern verteidigt wurde. Viele von ihnen haben sich danach in die Wüste zurückgezogen, andere wohl nach Tunesien abgesetzt. Wieviele weiß niemand. Die Grenze zwischen den beiden Staaten ist fast 500 Kilometer lang und kaum zu überwachen. Das weiss auch der Regierungschef, der letzte Woche vollmundig versprach, die Terroristen gleich an der Grenze festzunehmen. Ein nutzloser Beschwichtigungsversuch. Die Angst geht weiter um. Sie ist Gift für die junge, noch fragile Demokratie. Manch einer dürfte sich schon bald nach der Sicherheit früherer Zeiten zurücksehnen. Bisher aber hat eine starke Zivilgesellschaft jeden Versuch, die im „arabischen Frühling“ gewonnenen Freiheiten zu beschneiden, über eine Mobilisierung breiter Bevölkerungsteile erfolgreich abgewehrt. Die um sich greifende Angst droht diese Widerstandskraft zu lähmen.
Erschienen in: WOZ (Zürich), 05.01.2017