Die Stadt hat bessere Zeiten gekannt. Von den stuckverzierten Palästen blättert die Farbe. Vielerorts bröckelt auch der Putz. Das hässliche Grau des Mauerwerks rückt unerbittlich gegen die sanften grünen und blauen Pastelltöne der Fassaden vor. Die prächtigen Arkaden, die vom Reichtum der spanischen Kolonialherren künden, werden hier und dort mit Holzbalken abgestützt. Verfall, wohin man blickt. Wer Gabriel García Márquez‘ „Hundert Jahre Einsamkeit“ verfilmen möchte, fände hier die ideale Kulisse. Hufe klappern über den Asphalt. Der öffentliche Verkehr wird aufgrund des Benzinmangels seit Jahren schon auf Pferdewagen abgewickelt. Amerikanische Strassenkreuzer aus vorrevolutionären Zeiten rumpeln vorbei. Auch ab und zu ein Motorrad mit Seitenwagen. Guantánamo, die Hauptstadt der östlichsten Provinz Kubas, zählt zwar über 200.000 Einwohner, ist aber ein verschlafenes Nest.
Verschlafen? „Vigilancia“, Wachsamkeit, wird hier ganz gross geschrieben. „Sie werden sicher verstehen, dass wir wachsam sein müssen, hier in Guantánamo ganz besonders“, eröffnet der Offizier der Einwanderungsbehörde das Verhör, zu dem er uns einbestellt hat, „wir haben Informationen, dass Sie hier ohne Erlaubnis recherchieren“. Informanten gibt es viele. Wie in kubanischen Städten üblich, hat jeder Häuserblock sein „Komitee zur Verteidigung der Revolution“. Aus ihren Mitgliedern rekrutiert die „Sicherheit“, wie hier die Geheimpolizei genannt wird, ein veritables Heer von Spitzeln. Enrique Hernández ist 72 Jahre alt. Er hat mit Fidel Castro in der Sierra Maestra gekämpft und gehört zu jenen, die Guantánamo von der Diktatur befreit haben. Es waren heroische Zeiten. Jetzt ist er Präsident des Komitees seines Blocks. „Wir verteidigen die Revolution“, sagt er und präzisiert auf den Einwand, dass die doch gar nicht gefährdet sei: „Wir sorgen dafür, dass die Strassen sauber sind.“ Dem Präsidenten zur Seite steht ein Mann, der den offiziellen Titel „Organisator der ideologischen Wachsamkeit“ trägt. „Der ist für die Diskussion im Block zuständig“, erläutert Hernández, „und dafür, dass jeder Zugang zu Information hat.“ Das heisst, er ist verantwortlich für den Vertrieb der Parteizeitung „Granma“, die allerdings mehr Propaganda als Information bietet. Auf der Hausmauer neben dem Eingang zum Komitee steht in grossen Lettern eine kuriose Warnung: „Hier erwartet den Feind eine Niederlage.“ Der Feind steht 15 Kilometer ausserhalb der Stadt: in der US-Basis Guantánamo.
Es ist der einzige Militärstützpunkt, den die kapitalistische Weltmacht in einem kommunistischen Staat je hatte. In diesen Tagen sind es genau hundert Jahre her, dass Kuba den Amerikanern die Bucht von Guantánamo zur Nutzung überlassen hat. Am 23. Februar 1903 unterzeichnete der US-Präsident Theodore Roosevelt ein Abkommen, das sein kubanischer Amtskollege Tomás Estrada Palma eine Woche zuvor unterschrieben hatte. Es legt die Grenzen des Territoriums bei Guantánamo fest, das Kuba den USA verpachtet, „solange sie dieses brauchen“. Die in Goldunzen vertraglich festgelegte Pacht beträgt inzwischen jährlich 4.085 Dollar. Seit 1959, seit dem Sieg der Revolution, nimmt Kuba den von der US-Regierung jedes Jahr ausgestellten Scheck zwar entgegen, weigert sich aber, ihn einzulösen. Fidel Castro bestreitet die Gültigkeit des Vertrags von 1903, da er kubanischerseits nicht aus freien Stücken, sondern unter militärischem Druck akzeptiert wurde. Kurz vor dem Sieg der kubanischen Unabhängigkeitsbewegung über die spanische Kolonialmacht hatten die USA 1898 in den Krieg eingegriffen und danach den Rückzug ihrer Truppen von einem Verfassungszusatz abhängig gemacht, der ihnen Land zur Errichtung einer Marinebasis zusicherte.
Malones, eine Anhöhe im Osten von Guantánamo, ist militärisches Sperrgebiet. Für Kubaner jedenfalls. Touristen erhalten für 20 Dollar – zwei kubanische Monatslöhne – eine Sondererlaubnis. Inbegriffen im Preis sind die kurze Anfahrt im russischen Lada und ein Daiquirí-Cocktail im Restaurant von „Gaviota“, einem armeeeigenen Unternehmen, das vor allem in der Tourismus-Branche investiert. Dem Besucher bietet sich ein herrlicher Ausblick auf die Bucht, die samt einem Landstreifen zu beiden Seiten die US-Basis bildet: 117 Quadratkilometer, zur Hälfte Wasser, zur Hälfte Land. Am Horizont, vor dem offenen Meer, ist die Flugpiste zu erkennen. Auf der östlichen Seite der Bucht stehen die grossen Entsalzungsanlagen, die die Amerikaner erstellt haben, nachdem ihnen die Kubaner 1964 – als Reaktion auf die Festnahme von 36 kubanischen Fischern, die angeblich in Gewässern der Marine-Basis gefischt hatten – die Wasserzufuhr abschnitten. Und hinter einem niedrigem Hügelzug ist ein Teil der weissen Baracken sichtbar, in denen die USA zur Zeit 620 „feindliche Kämpfer“ festhalten: mutmassliche Mitglieder der Al Qaeda und der Taliban, die weder als Kriegsgefangene noch als gewöhnliche Verbrecher gelten und nicht den US-Gesetzen unterliegen. Denn auch in offizieller amerikanischer Lesart liegt die Basis ja nicht auf US-Territorium, sondern nur auf von Kuba verpachtetem Gelände.
Im Vordergrund, nur wenige hundert Meter vom Betrachter entfernt, der Stacheldrahtzaun der Kubaner, weiter hinten derjenige der Amerikaner. Dazwischen vermintes Niemandsland. In Boquerón, dem kubanischen Dörfchen, das direkt an der Grenze liegt, wohnen inzwischen nur noch Soldaten der „Brigada de la Frontera“ mit ihren Angehörigen. Es ist eine Spezialeinheit der Armee, die stets auf der Wacht ist, stets an der Front steht, um das Vaterland zu verteidigen, wie es in zahlreichen Huldigungen heisst. Sie hat zwei Märtyrer: Der 18-jährige Ramón López wurde 1964 an der Grenze erschossen, Luis Ramírez, 22, zwei Jahre später. Es herrschte kalter Krieg, die gescheiterte Invasion in der Schweinebucht und die Raketenkrise lagen nur wenige Jahre zurück, Grenzprovokationen waren an der Tagesordnung. Und gingen damals noch – wie zu Zeiten vor der Machtübernahme der Revolutionäre auch – jeden Tag 2.300 Kubaner auf der kleinen Strasse von Boquerón zum Grenzhäuschen mit dem Sternenbanner, um auf der US-Basis zu arbeiten und am Abend nach Kuba zurückzukehren, so sind es heute gerade noch etwa ein halbes Dutzend ältere Männer, allesamt Handwerker. „Unsere Regierung hat kein Interesse, dass Kubaner bei den Amerikanern arbeiten“, sagt der ansonsten verschwiegene Lada-Chauffeur auf dem Weg zurück nach Guantánamo. Der Grund ist offensichtlich: Die wenigen übrig gebliebenen Grenzgänger verdienen um die 1.200 Dollar monatlich.
Dafür arbeitet der Durchschnittskubaner zehn Jahre. 260 kubanische Pesos verdient er monatlich, das sind zehn Dollar. Ein Arzt kommt auf 380 Pesos. Es gibt in Kuba viele Menschen, die von solchen Löhnen leben müssen. Krankheiten aufgrund von Vitamin- oder Proteinmangel sind keine Seltenheit, und es gibt auch Hunger. „Es gefällt uns nicht, dass Sie ausgerechnet in die Quartiere der Armen gehen, mit den Leuten reden und Fotos machen“, hatte der Offizier der Einwanderungsbehörde beim Verhör in freundlichem, aber bestimmtem Ton gewarnt. Weisse Strände, Hummer, Cohiba und schöne Mulattinnen, das ist das Bild, das Kuba verkaufen will.
Doch kaum einer auf den schlaglochübersäten Strassen, in denen Kinderhorden Baseball spielen, verweigert sich dem Gespräch. Man schämt sich der Armut nicht. Man ist ja auch nicht schuld daran. Wenn man nur arbeiten dürfte, wie man möchte! Aber da ist die Bürokratie vor. Diese Bürokratie, die der grosse kubanische Regisseur Tomás Gutiérrez Alea in seinem Film „Guantanamera“, den hier jeder kennt, so bissig persifliert hat. Es ist alles so schrecklich kompliziert. Roberto, wie wir ihn zu seinem Schutz hier nennen wollen, hat sich schon in vielen Metiers versucht. Zur Zeit stellt er im Hinterhof eines recht armseligen Häuschen ohne staatliche Lizenz mit wenigen Hilfsmitteln Stühle und Tische her. Das Holz besorgt er sich bei einem befreundeten Bauer in einem 30 Kilometer entfernten Dorf und transportiert es heimlich in die Stadt. „Natürlich könnte ich die Behörden um eine Arbeitserlaubnis bitten“, sagt der 30-jährige, der in einem Bretterverschlag sein Bett aufgebaut hat, „aber dann müsste ich horrend viel Steuern bezahlen, wenn ich denn überhaupt eine Lizenz bekäme.“ Da er keine Ausbildung als Tischler hat und zudem früher schon als „asoziales Element“ gerichtskundig auffällig geworden ist, rechnet er sich nicht allzu grosse Chancen aus, dass ihm die Behörden erlauben, auf eigene Kosten zu arbeiten.
Da Roberto als klandestiner Tischler aber nicht genug Einkünfte erzielt, arbeitet er zusätzlich noch als Konditor, wofür er ebenso wenig eine Lizenz hat, was wieder die üblichen Schwierigkeiten mit sich bringt. Er hat sich mit drei Freunden zusammengetan. Mit nacktem Oberkörper stehen die Männer in einem schmuddeligen Schuppen, kneten Teig, den sie in einem selbst gebauten Ofen backen, rühren Eiweiss und legen Lage auf Lage, bis die Torte fertig ist, die dann, in kleine Stücke geteilt, nach Anbruch der Dunkelheit ausgetragen wird. Die Eier kaufen die illegalen Tortenbäcker beim Nachbar, der in seinem Innenhof neben den Hühnern auch noch zwei Schweine hält. All dies mitten in der Stadt.
Die Löhne sind karg, und auf die „Libreta“, das Büchlein, das jedem Kubaner Zugang zu bestimmten Mengen an rationierten Lebensmitteln verspricht, gibt es nur noch geringe Mengen an Reis, schwarzen Bohnen und Zucker, alle drei Monate eine Tube Zahnpasta und eine Seife. Öl, Butter und Fleisch findet man seit langem nur noch auf den privaten Märkten, die der Staat angesichts der Versorgungskrise vor Jahren schon zuliess. Dort werden allerdings Preise verlangt, die der Normalverdiener kaum bezahlen kann. Und Waschmittel gibt es bloss gegen Dollars. In der fünftgrössten Stadt Kubas, in der es keinen Reichtum und auch keine wohlhabende Schicht gibt, die nur ein einziges Dollar-Restaurant hat, das immer leer ist, versuchen Tausende und Abertausende, auf legale, halblegale oder illegale Weise an zusätzliche Pesos oder gar an paar green-backs der Währung des Feindes zu kommen. Keiner macht das amerikanische Embargo für die erbärmliche Lage verantwortlich. Wenn man bloss arbeiten dürfte, wie man möchte. „Aber solange ER da ist“, sagt Roberto und streicht sich mit der rechten Hand unter dem Kinn über einen imaginären Bart, „wird sich auf dieser Insel nichts ändern.“ Die Geste kennt in Kuba jeder.
Am Wochenende scheinen all diese Alltagssorgen wie weggeblasen. Jeden Samstagabend ist „noche guantanamera“ – Guantánamo-Nacht. Die ganze Stadt scheint aus dem Häuschen zu sein. Karibische Rhythmen dröhnen durch die Gassen, und immer wieder der weltbekannte Evergreen „Guantanamera“, eine Eloge auf die schöne „guajira guantanamera“, das „Bauernmädchen aus Guantánamo“: „Yo soy un hombre sincero, de donde crecen las palmas…“. Der Text stammt vom 1895 im Unabhängigkeitskrieg gefallenen kubanischen Nationaldichter José Martí: „Ich bin ein Mensch, aufrecht und wahr/ Unter Palmen bin ich zu Haus/ Und ich werfe meiner Verse Schar/ Eh ich sterbe, aus mir heraus.“ Gestorben wird morgen. Heute nicht. Heute brutzeln die Spanferkel auf dem zentralen Boulevard. Und der Rum, billiger Fusel, fliesst reichlich. Victor, der Mann mit dem russischen „Kinomobil“, der während der Woche auf die Zuckerrohrplantagen und in entlegene Dörfer fährt, um die Kultur ins Volk zu tragen, spult auf dem Platz einen 16-Millimeter-Film für Kinder ab. Die Jugend hat sich herausgeputzt: Knalleng und superkurz die Kleidung der Mädchen, betont salopp die der Jungen. Es wird geflirtet und geschmust. Und oben im Lokal der Nueva Trova tanzen die Alten zum klassischen kubanischen Son. Füllige Frauen, die selbstbewusst zeigen, was sie haben; spindeldürre alte Männer mit schwarzen Hüten; Gesichter wie aus Wim Wenders „Buenavista Social Club“ geschnitten.
Sonntag. An einer Kreuzung in einem Aussenviertel versperren zwei Polizisten den Weg. Zweihundert Meter weiter unten blockieren Uniformierte den Zugang von der andern Seite her. An beiden Kreuzungen stehen an die hundert Personen. Viele beobachten das Geschehen aus den Fenstern. Einige Männer haben sich auf die Dächer der niedrigen Häuser gestellt. Keiner sagt etwas. Keiner nähert sich den Polizisten. Keiner bittet um Durchlass. Keiner fragt sie, was los ist. Alle schauen sie schweigend zu, wie aus einem Haus Möbel, Fernseher, Hab und Gut in einen Lastwagen getragen werden. „Was läuft hier ab?“ – „Da müssen Sie die Genossen Polizisten fragen.“ – „Weshalb fragt sie denn niemand?“ – „Ja, gehen Sie hin und fragen Sie doch, bitte.“ Der Polizei schlägt stumme Feindseligkeit entgegen. Es ist vier Uhr nachmittags. Die Sperre wurde vier Uhr früh errichtet. Angeblich wegen Drogen. Zwölf Stunden, um ein Haus zu durchsuchen, und musste man denn gleich die ganze Strasse absperren? Und überhaupt: Drogen in Kuba? Ja, im Norden der Insel, da werfen ab und zu Kleinflugzeuge, die auf dem Weg in die Bahamas abgefangen werden, ihre heisse Ladung ins Meer. Jedenfalls wurden im vergangenen Jahr einige Pakete an Land gespült. Aber hier an der Südküste?
Zwei Häuserblocks vom Geschehen entfernt, kommt ein Mann auf uns zu. Er schaut um sich, sagt schliesslich mit gedämpfter Stimme: „Glauben Sie bloss die Geschichte mit den Drogen nicht, alles Unsinn, das war mein Nachbar, den sie heute früh in Handschellen abgeführt haben, er besitzt einen Videorecorder und eine Stereoanlage und konnte nicht erklären, woher er das Geld für all die Sachen hatte, die man nur im Dollar-Laden kaufen kann. So ist das bei uns.“ Dann fügt er unvermittelt hinzu: „Ich bin von der Opposition.“ So stellt man sich wohl als Spitzel vor. Der Mann muss den Verdacht geahnt haben und zieht ein Faltblatt aus dem Hosenbund. Es ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948. „Dieses Blatt hier verteile ich an meine Freunde – und auch an meine Feinde.“ Schleicht man sich so als Spitzel ein? „Am Samstag wurde Alberto Martínez, der Präsident des ‚Clubs der politischen Gefangenen und Ex-Gefangenen‘ unserer Stadt, verhaftet“, fährt der Mann fort, „wenn Sie mit seiner Frau sprechen wollen, warten Sie um 20 Uhr auf der Bank vor der Kirche auf der Plaza Martí. Ich bringe Sie hin.“
Der Mann erscheint, für Kubaner recht ungewöhnlich, pünktlich auf dem zentralen Platz der Stadt. Er hat neue Nachrichten. 32 Häuser seien in der ganzen Stadt durchsucht worden. 36 Festnahmen. Woher weiss er das so genau? „Abgeführt wurde auch Ernesto Montoya, ein stadtbekannter Gewichtheber. Man nahm ihm ein Pferd weg, einen Hund, eine Flasche Rum und über tausend Pesos.“ Das „Radio Trottoir“ hat viele Antennen. Alles spricht sich in Windeseile herum. „Gehen Sie vier Blocks hoch, drei nach rechts, das zweite Haus auf der linken Seite, Parterre – in genau zehn Minuten.“ Der Mann verschwindet.
Die Strasse ist kaum beleuchtet, pünktlich öffnet sich am beschriebenen Haus kurz die Tür. Hereingeschlüpft. Sechs Dissidenten warten schon auf den Besuch. Sie gehören verschiedenen Gruppierungen und Menschenrechtskomitees an, arbeiten aber alle im „Club der politischen Gefangenen und Ex-Gefangenen“ zusammen. Auch Isabel Corcoba ist gekommen, die Ehefrau des verhafteten Präsidenten der Vereinigung. Sie ist gefasst und berichtet nüchtern, als ob alles schon viele Monate und nicht erst fünf Tage zurückliegen würde: Alberto Martinez wurde am 18. Januar kurz vor Mittag im Stadtzentrum von der Strasse weg verhaftet und drei Tage später schon von einem Gericht wegen „desacato“ zu einem Jahr und drei Monaten Gefängnis verurteilt. „Desacato“ kann vieles heissen: Ziviler Ungehorsam, Beamtenbeleidigung, Missachtung einer richterlichen Massnahme, mangelnder Respekt vor Amtspersonen. Was für ein Fehlverhalten dem Urteil konkret zugrunde liegt, weiss niemand der Anwesenden. Der Prozess war nicht öffentlich und der Angeklagte hatte keinen Anwalt. Nach einem kurzen Informationsaustausch löst sich die klandestine Versammlung wieder auf. Sie hat höchstens eine halbe Stunde gedauert, und schon zerstreut man sich wieder in alle Winde.
Doch Isabel Corcoba sucht die Öffentlichkeit. Sie hat nichts mehr zu verlieren. 21 Jahre lang hat die heute 47-jährige in einer staatlichen Behörde gearbeitet. 1994 wurde sie wegen oppositioneller Tätigkeiten 17 Tage ohne Prozess in einem Verlies festgehalten, danach war sie ihren Job los. Keine Arbeit, den Mann im Gefängnis und drei halbwüchsige Kinder. Freunde helfen ihr, über die Runden zu kommen. „Kommen Sie mich ruhig besuchen“, hatte sie zum Abschied gesagt.
Ihr Haus ist leicht zu finden. Neben der Eingangstür klebt ein Plakat, das den Papst zeigt. Daneben die Worte: „No tengas miedo“ – „hab keine Angst.“ Isabel Corcoba gehört dem „Movimiento Cristiano de Libertad“ an, der Organisation von Osvaldo Paya, der für seinen unerschrockenen Einsatz für Menschenrechte im Dezember mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet wurde. In der Stube ihrer kleinen Wohnung läuft der Fernseher. CNN-Nachrichten vom Sender, der in der US-Basis steht und auf Kuba nur in Guantánamo empfangen werden kann. Satellitenschüsseln sind auf der Insel verboten. In einer Ecke hat die Dissidentin ihre „unabhängige Bibliothek“ eingerichtet. Sie steht jedermann offen. Kinder, Jugendliche und Erwachsen kommen hierher, um zu lesen oder sich eines der etwas mehr als hundert Bücher auszuleihen. „Bei der Eröffnung der Buchmesse hat Fidel Castro erklärt, in Kuba gebe es keine verbotenen Bücher“, sagt Isabel Corcoba, und nur kurz huscht ein schelmisches Lächeln über ihr sonst so ernstes Gesicht, „da habe ich ihn beim Wort genommen.“ So führt sie zwar Lenin im Sortiment, aber auch die vor einem halben Jahr in den USA erschienene Autobiographie von Huber Matos, der dem fünfköpfigen Oberkommando der revolutionären Bewegung Fidel Castros angehörte, doch schon wenige Monate nach dem Sieg der Revolution wegen seiner kritischen Haltung zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Bis auf den letzten Tag hat er sie abgesessen. Heute lebt er in Miami. In Kuba wird der Mann, der einst Santiago, die zweitgrösste Stadt der Insel, eingenommen hat, heute totgeschwiegen. Er ist aus der offiziellen Geschichtsschreibung schlicht verschwunden und aus dem historischen Foto, das Fidel Castros triumphalen Einzug in Havanna zeigt, einfach weggeschnitten.
Solange ER an der Macht ist, werde sich in Kuba wohl nichts ändern, meint Isabel Corcoba. Das glaubt auch ihr Sohn, Alfredo Martinez junior. Doch der mochte vor einem Jahr nicht länger auf den Tod des alten Revolutionärs warten, auf die „biologische Lösung“, wie man hier spottet. Am 24. November 2001 versuchte der damals 16-jährige zusammen mit Alexander Lobaina der Küste längs zur US-Basis hinüberzuschwimmen. „Alexander wusste, wo die Minen liegen“, berichtet er und holt eine Karte, auf der er den Fluchtweg eingezeichnet hat, „wir waren schon hier am Strand kurz vor der Grenze, als uns ein Fischer entdeckte und den Soldaten verriet.“ Natürlich hatte er gewusst, dass die USA die Flüchtlinge zurückschicken. Nach den offenen Unruhen in Havanna flohen 1994 tausende Kubaner, ohne von der Regierung gehindert zu werden, durch die Minenfelder auf die Basis. Nicht wenige verbluteten im Niemandsland oder kamen als Krüppel zurück. Damals liessen die USA die Flüchtlinge, die ein Jahr lang unter erbärmlichen Zuständen auf der Basis festsassen, schliesslich einreisen. Seit 1995 aber wird ausgeschafft, wer auf die US-Basis flieht.
All das wusste Alfredo. Weshalb hat er es denn trotzdem versucht? Hat er darauf gehofft, dass die Amerikaner bei ihm eine Ausnahme machen? Statt einer Antwort kommt nur ein verlegenes Schulterzucken. „Ich wollte einfach weg, nur noch weg von hier“, sagt er schließlich. Sein 30-jähriger Kumpel, zu vier Jahren verurteilt, sitzt noch immer im Gefängnis. Er selbst kam mit einem Jahr und acht Monaten davon, wurde aber wegen seines jugendlichen Alters schon nach vier Monaten freigelassen. Selbstverständlich hatte er der Mutter nichts verraten. „Ich hätte es ihm schlicht verboten“, sagt Isabel Corcoba, „aber verstehen kann ich ihn schon.“
Von Thomas Schmid – Neue Zürcher Zeitung 22.2.03