Eingefrorener Konflikt hinter dem Dnjestr

Es ist kalt, es regnet, und der Grenzer ist mürrisch: „Pass? Autopapiere? Formular ausfüllen!“ Dann verschwindet er. Schließlich schiebt er die Papiere durch den Schlitz. Es ist ein Visum, das den Ausländer berechtigt, sich zehn Stunden in einem Staat aufzuhalten, der eigentlich keiner ist, keiner sein darf: in Transnistrien.

Völkerrechtlich gehört Transnistrien zu Moldau. Aber als sich nach dem gescheiterten Putsch gegen Gorbatschow in Moskau im August 1991 die Sowjetrepublik Moldau für unabhängig erklärte, spaltete sich der östlich des Dnjestr gelegene Teil des Landes ab und erklärte sich für unabhängig von Moldau. Es kam zu einem fünf Monate dauernden Krieg mit fast tausend Toten, bis der russische General Alexander Lebed mit seiner in Transnistrien stationierten 14. Armee 1992 einen Waffenstillstand durchsetzte. Moldau fordert das Gebiet zurück; die Separatisten, unterstützt von Russland, lehnen es ab, sich unter moldauische Herrschaft zu begeben. Seither ist der Konflikt eingefroren.

Wie in Moskau

Schon wenige hundert Meter nach der Grenze stoppt ein Polizeiauto den Ausländer, der einen Wagen mit moldauischen Nummernschild fährt. „Ich muss einen Rapport aufnehmen“, knurrt der Beamte, macht aber keine Anstalten zu einem Heft oder einem Stift zu greifen. Er wartet, wartet, wartet. „Können wir es vielleicht anders regeln, schneller, unkomplizierter? Mein Visum läuft in neun Stunden ab.“ Der Polizist fragt: „Dollar oder Euro?“ Schließlich akzeptiert der Mann 200 moldauische Lei, umgerechnet zehn Euro, rückt Pass und Autopapiere heraus.

Vieles in Tiraspol, Transnistriens Hauptstadt, erinnert an die kommunistischen Zeiten: Vor dem Regierungs- und Parlamentspalast steht eine mächtige Lenin-Statue. Am Ufer des Dnjestr wurde ein Sowjetpanzer als Denkmal platziert. Es gibt transnistrische Rubel und Kopeken. Hammer und Sichel prangen auf der Nationalflagge. Das Rathaus trägt einen Sowjetstern, und es gibt die üblichen Plattenbauten. Die meisten Leute sind arm, sehr arm – wie in Moldau. Und Korruption gibt es hier wie da.

Auch der Lebensstandard ist derselbe – dank der Russen. Russland kommt für rund 60 Prozent des Budgets Transnistriens auf. Moskau bezahlt einen Großteil der Renten und liefert Gas zum Spottpreis. Anders als das Agrarland Moldau hat Transnistrien eine relevante Industrie: Es produziert Stahl, Zement und Textilien und besitzt eine Reihe von Kraftwerken. Es exportiert Energie nach Moldau, Stahl in die EU und neuerdings auch Kaviar, gezüchtet in den Flussfarmen des Dnjestr.

Trotzdem hängt Transnistrien wirtschaftlich am Tropf Russlands, wo im Übrigen die Hälfte der Bevölkerung im erwerbstätigen Alter als Gastarbeiter ihren Lebensunterhalt verdient. Russland hat mindestens 1 500 Soldaten in Transnistrien stationiert. Diese hätten laut Übereinkunft auf dem OSZE-Gipfel von Istanbul 1999 – bis auf rund 500 Soldaten, die zusammen mit moldauischen und transnistrischen Soldaten dem Peacekeeping-Corps angehören – längst abgezogen sein müssen. Von den ursprünglich 40.000 Tonnen Waffen ist erst die Hälfte zerstört.

„Die Waffen wurden zerstört“, sagt Wladimir Yastrebchak in einem Café am Boulevard 25. Oktober – benannt nach dem Tag der bolschewistischen Machtübernahme. „Was bleibt, sind Sprengstoff und Minen. Um diese gefährlichen Bestände zu schützen, braucht es noch Soldaten.“ Yastrebchak, geboren 1979, spricht ausgezeichnet englisch. Mit 28 Jahren wurde er transnistrischer Außenminister und blieb es bis 2012. Heute lehrt er Politologie an der Universität Tiraspol. „700 Russen können für Moldau keine Gefahr sein“, sagt er und lächelt. „Nur wer Angst haben will, hat eben Angst.“

Da die Regierung in Chisinau Transnistrien als Teil Moldaus sieht, haben die Transnistrier Anrecht auf einen moldauischen Pass. Etwa die Hälfte der 550.000 Bürger hat von diesem Recht Gebrauch gemacht und kann seit April dieses Jahres visumfrei in den Schengen-Raum reisen. Etwa 200.000 Transnistrier aber haben neben dem Pass ihres von keinem Staat anerkannten Pseudostaates auch einen russischen Pass, weil sie ethnische Russen sind. Jüngst drohte Russlands Vizepremier Dmitrij Rosigin, zugleich Moskaus Sonderbeauftragter in Transnistrien, Russland werde die in der Region lebenden russischen Bürger notfalls verteidigen. Man braucht also in Moldau nicht unbedingt Angst haben zu wollen, um Angst zu haben.

Die meisten Transnistrier wollen ihren eigenen Staat. Selbst unter den ethnisch moldauischen (rumänisch sprechenden) Transnistriern wollen – einer US-Studie von 2010 zufolge – nur 20 Prozent die Wiedervereinigung mit Moldau. Welche Zukunft hat also das Gebiet? „38 Prozent unserer Exporte gehen in die EU, 38 Prozent nach Moldau und 16 Prozent nach Russland und sieben Prozent in die benachbarte Ukraine“, bilanziert Ex-Außenminister Yastrebchak. „Wir sind abhängig von Russland, aber auch von Moldau.“ Deshalb werde der „eingefrorene Konflikt“ anhalten, noch mindestens drei Jahre.

Wie auf der Krim

So lange will der Oberste Sowjet, wie das Parlament in Transnistrien heißt, nicht warten. Im April sandte er einen Brief an die Duma, das russische Parlament, und auch an Russlands Präsidenten Putin mit der Bitte, einem Beitritt Transnistriens zu Russland zuzustimmen.

Einen Monat zuvor hatte bei einem umstrittenen Referendum angeblich die Mehrheit der Bewohner der Krim für einen Anschluss an Russland votiert, woraufhin Moskau die Krim annektierte . Dem Begehren des transnistrischen Parlaments kam Putin nicht nach. Vielleicht, weil Transnistrien und Russland keine gemeinsame Grenze haben, sondern durch die Ukraine getrennt sind, vielleicht weil Russland mit der Eingliederung Transnistriens die Westorientierung Moldaus noch verstärken würde.

Vermutlich kommt ein „eingefrorener Konflikt“, den er bei Bedarf zwecks Destabilisierung der Region auftauen kann, Putin ohnehin mehr zupass als eine Festlegung des Status’. Mit tausend Soldaten lässt sich – wie die Ost-Ukraine zeigt – notfalls viel erreichen.

Veröffentlicht in „Berliner Zeitung“, 2.11.2014