Es gibt Fußgängerstreifen, aber keine Autos. Es gibt eine Apotheke ohne Medikamente, ein Schulhaus ohne Schüler, eine Kirche ohne Pfarrer und zwei Friedhöfe mit über hundert Gräbern. Der Ort sieht aus wie eine Filmkulisse: Paläste mit Zinnen, viel altes Gemäuer und ein versteckter kleiner Hafen. Und für die wenigen Touristen, die es hierhin verschlägt, gibt es ein Hotel mit elf Zimmern und ein Restaurant. Der Komfort hält sich in engen Grenzen. Wer Unterhaltung und Events sucht, ist hier fehl am Platz. Wer hingegen Ruhe braucht, Muße hat und auf jedes Kulturprogramm und auch auf Internet verzichten kann, mag das kleine Eiland zu schätzen wissen.
Pianosa liegt zwischen Elba und Korsika. Die Insel ist fünf Kilometer lang, vier Kilometer breit und lässt sich also bequem in einem Tag durchwandern. Doch sie ist durch eine Mauer zweigeteilt. Im kleineren Teil liegt das tote Dorf, der weitaus größere Teil, die freie Natur darf nur mit einem Führer betreten werden. Das Tor in der Mauer steht zwar tags und nachts offen. Aber ein Schild droht jenen, die es unbefugt durchschreiten, mit einer Strafe von € 516,46 bis € 1.032,91 – man hat vor fünfzehn Jahren die alten Beträge, eine Million bis zwei Millionen Lire, cent-genau umgerechnet. Doch da es auf der ganzen Insel nur zwei Polizisten gibt, von denen oft nur einer im Einsatz ist, hält sich das Risiko, erwischt zu werden, in Schranken. Und vielleicht drückt der Ordnungshüter im Notfall ja ein Auge zu, zumal in der Nachsaison keine Führer vom Festland her auf die Insel kommen.
Wer das Tor durchschreitet, stößt nach einer halben Stunde Fußmarsch auf einen großen Betonbau, von einer hohen Mauer umgeben, mit Stacheldraht, Videoanlagen und Wachtürmen gesichert. Hier wurden Ende der 1970er Jahre Linksterroristen eingekerkert, unter ihnen Renato Curcio, der Führer der Roten Brigaden. In den 1980er Jahren folgten ihnen dann Top-Mafiosi, die zu lebenslänglichem Freiheitsentzug verurteilt worden waren. 1998 wurde das Hochsicherheitsgefängnis aufgelöst. Die 25 Gefangenen, die heute auf der Insel leben, sind in einem andern Gebäude untergebracht. Sie dürfen das Tor – von der andern Seite her – tagsüber jederzeit durchschreiten und ins Dorf kommen. Nur nachts müssen sie zurück in die „casa di reclusione“, ins Gefängnis.
Die kleine Insel hat eine bewegte Geschichte. Da wo heute das verwaiste Hochsicherheitsgefängnis steht, befand sich einst die Villa von Agrippa Postumus, dem Neffen von Kaiser Augustus. Er war nach Pianosa verbannt und schließlich im Jahr 14 n.u.Z. ermordet worden, um ihn vor der Thronfolge auszuschließen. Die Reste seiner Thermalbäder und das kleine Amphitheater, direkt am Meer gelegen, wurden von Archäologen ausgegraben und sind heute der Öffentlichkeit zugänglich. Später war die Insel Zankapfel zwischen den Seerepubliken Venedig und Pisa, danach drei Jahrhunderte lang immer wieder Stützpunkt von Piraten, bis sie endgültig entvölkert war. Erst Napoleon, dem nach seiner Niederlage bei Paris als Wohnsitz Elba zugewiesen wurde, sorgte wieder für eine Besiedelung von Pianosa.
Unter dem Großherzogtum Toscana wurde schon 1858 auf Pianosa eine landwirtschaftliche Strafkolonie gegründet, die Getreideanbau sowie Hühner- und Schweinezucht betrieb und zeitweilig über tausend Gefangene beschäftigte. Sehr viele von ihnen starben an Tuberkulose. Leichen, die von keinen Verwandten abgeholt wurden, bestattete man nicht auf dem Dorffriedhof, sondern auf einem separaten Gottesacker am andern Ende der Insel. Seinen Eingang schmücken zwei Pfeiler. Auf dem einen steht: “Wir waren, wie ihr seid – hier endet die Gerechtigkeit der Menschen“, auf dem andern: „Ihr werdet sein, wie wird sind – hier beginnt die Gerechtigkeit Gottes“. Unter Mussolinis Herrschaft schließlich wurden zahlreiche Partisanen auf der Insel eingekerkert, unter ihnen auch der spätere Staatspräsidenten Sandro Pertini.
Die Geschichte der Insel kann man in einem kleinen Museum im Dorf studieren. Es ist im alten Postamt untergebracht. Unterhalten wird es von einem Verein, der einige hundert Mitglieder zählt und im Wochenturnus eine kleine Gruppe auf die Insel entsendet, um da und dort mit kleinen Reparaturen den weiteren Verfall des Ortes zu stoppen. Von den Häftlingen abgesehen, wohnt nur noch ein einziger Mann das ganze Jahr über auf der Insel: Carlo Barellini, 65 Jahre alt und immer mit zwei Hunden unterwegs. Er ist hier aufgewachsen, ging hier zur Schule und kehrte vor 14 Jahren auf die Insel zurück. Nun ist er vom Vatikan angestellt, wie er lachend sagt. Er ist Kustode der größten touristischen Attraktion der Insel, der Katakomben aus dem 3. oder 4. Jahrhundert mit über 700 Grabnischen. Wie alle Katakomben Italiens unterliegen auch sie der Päpstlichen Kommission für christliche Archäologie.
Für die 25 Gefangenen sind zwei Polizisten zuständig, die alle Monate ausgewechselt werden. Die Häftlinge haben alle im Gefängnis von Porto Azzurro auf Elba gesessen und dürfen die Reststrafe – einige von ihnen wurden zu lebenslänglich verurteilt – im halboffenen Vollzug absitzen. Sie arbeiten vor allem in der Landwirtschaft, einer fegt die Straßen des Dorfes, und fünf Häftlinge haben sich zu einer Kooperative zusammengeschlossen, die im Dorfzentrum ein Hotel führt. Es war über hundert Jahre das Haus des mächtigsten Mannes der Insel, des Direktors der Landwirtschaftlichen Strafkolonie. Und am Rand des Dorfes führt die Kooperative ein kleines Restaurant. Und während man das vorzügliche Essen genießt, schauen sich Koch und Kellner auf ihren Laptops Filme an. Der eine muss noch acht Jahre auf der Insel ausharren, der andere nur noch anderthalb. Für Touristen aber ist schon eine Woche auf Pianosa eine sehr lange Zeit.
Thomas Schmid, Kölner Stadt-Anzeiger, 04.11.2015