Der versperrte Weg nach Europa

Diese Geschichte könnte in Warschau beginnen, in einem supermodernen Wolkenkratzer aus Glas im Zentrum der polnischen Hauptstadt. Nur ein unscheinbares Schild weist darauf hin, dass dort auf fünf der 25 Etagen Frontex, die EU-Agentur für Grenzsicherung, ihr Hauptquartier aufgeschlagen hat. Dort wird die Verteidigung der Festung Europa organisiert. Diese Geschichte könnte auch in Brüssel beginnen, wo Eurosur ausgebrütet wurde, das Europäische Grenzüberwachungssystem, das vor wenigen Tagen in Kraft trat: Frontex wird fortan mit Hafenbehörden, Küstenwachen und Grenzschutz der einzelnen Staaten vernetzt, in dieses Verbundsystem werden Daten von Satelliten und Drohnen eingespeist. Die Festung Europa wird künftig nicht mehr an ihren Toren verteidigt, sondern weit draußen im außereuropäischen Raum. Aber beginnen wir diese Geschichte auf einer kleinen Insel, die zu einer traurigen Berühmtheit gelangt ist: Lampedusa.

Es ist ein gespenstisches Bild. Ein großer Fischkutter mit gebrochenem Mast reckt den Bug in den Himmel. Daneben liegt ein Kahn mit zerborstener Kabine auf seiner Steuerbordseite. Zwei Dutzend weiterer Wracks, zwischen ihnen Wasserkanister und zerschlissene Kleidungsstücke, vervollständigen das Ensemble. Der Schiffsfriedhof von Lampedusa liegt auf einer Brachfläche am Rand des Hafens, nur durch eine Straße vom offenen Meer getrennt.

„Das war mein Schiff“, sagt Mesfin, ein dunkelhäutiger, schlaksiger Mann mit Baseballkappe, und zeigt auf einen blau angestrichenen Fischkutter mit arabischen Schriftzeichen auf der löchrigen Planke. „Wir gingen morgens um drei Uhr an Land.“ Mesfin, 23 Jahre alt, stammt aus Eritrea. Der Staat am Roten Meer ist eine der schlimmsten Diktaturen der Welt. Menschenrechtsorganisationen attestieren dem Regime Zwangsarbeit, Folter und außergerichtliche Hinrichtungen. Dissidenten verschwinden in geheimen Gefängnissen. Auf Republikflüchtlinge wird geschossen. Trotzdem fliehen jeden Monat etwa 3 000 Eritreer aus ihrem Land.

„Bei der Flucht musste ich höllisch aufpassen, keinem Geheimdienst in die Hände zu laufen“, sagt Mesfin, „aus Sicherheitsgründen habe ich mich bei den Eltern telefonisch erst gemeldet, als ich im Sudan war.“ Für 1 000 Dollar brachte ihn ein Schlepper zusammen mit 35 weiteren Flüchtlingen auf einem Pick-up quer durch die Wüste nach Tripolis. „In der libyschen Hauptstadt übergab er uns einem weiteren Schlepper, der uns nach Italien zu bringen versprach, uns aber erst mal einsperrte“, berichtet Mesfin. „Wir erhielten zweimal täglich etwas Brot und Oliven. Das Haus war immer fest verriegelt. Die Fensterscheiben waren geschwärzt. Man verbot uns zu reden. Wenn einer etwas laut sagte, stürzte jemand herein, und es setzte Hiebe. Wir waren 120 Personen, davon 40 Frauen, und hatten nur eine Dusche und eine einzige Toilette.“ Nach sechs Wochen wurde die Gruppe mit 60 weiteren Flüchtlingen auf einen Fischkutter verfrachtet. „Unter Schlägen wurden wir zusammengepfercht“, sagt Mesfin, „obwohl wir jeder 1 600 Dollar für die Überfahrt nach Lampedusa bezahlt hatten. Wir hatten Angst. Wir wussten, dass das Mittelmeer schon viele Afrikaner verschluckt hat.“

Zögernde Beamte lassen 268 Menschen sterben

Mesfin ist glücklich. Das Schlimmste hat er hinter sich. Tagsüber geht er nun an der Sonne spazieren, abends um 19 Uhr kehrt er zum Essen ins Notaufnahmelager zurück. Es ist nur eine Frage von Wochen, bis er in ein Lager in Sizilien oder auf dem italienischen Festland unterkommt. Sobald sein Status geregelt ist, wird man ihn freilassen. Er will nach Deutschland, Arbeit suchen. Zurückschicken nach Eritrea kann man ihn nicht.

Mesfin ist einer von über 13 000 Flüchtlingen, die allein in diesem Jahr in Lampedusa europäischen Boden betreten haben. Auf der Italien-Karte ist das nur 20 Quadratkilometer große Eiland, auf dem knapp 6 000 Menschen wohnen, ein Pünktchen im Mittelmeer. 195 Kilometer beträgt die Entfernung zur sizilianischen Küste, nur 115 Kilometer sind es nach Tunesien. Auf der abgelegenen kargen Insel, auf der es kein Fleckchen Wald gibt, pflanzen zurzeit Kinder 366 Bäume – einen für jedes Opfer der Schiffskatastrophe vom 3. Oktober, die nur 155 Flüchtlinge überlebt haben. Sie ereignete sich eine Seemeile vor der rettenden Küste Lampedusas.

Das Drama hatte die Öffentlichkeit aufgerüttelt – für einige Tage jedenfalls. Italiens Staatspräsident Giorgio Napolitano bezeichnete die bisher größte Flüchtlingstragödie vor der Festung Europa als Schande. Aber das sogenannte Bossi-Fini-Gesetz ist weiterhin in Kraft. Es verbietet Booten mit Passagieren ohne gültiges Visum, an italienischen Küsten anzulegen. Es verbietet Menschen aus Nicht-EU-Staaten die Einwanderung, sofern sie nicht über einen Mietvertrag und einen Arbeitsvertrag verfügen. Es erlaubt hingegen völkerrechtswidrig, Flüchtlinge in internationalen Gewässern abzufangen und in Drittstaaten zurückzuschicken.

Der deutsche Bundespräsident Joachim Gauck stellte nach der Katastrophe vom 3. Oktober klar: „Leben zu schützen und Flüchtlingen Gehör zu gewähren, sind wesentliche Grundlagen unserer Rechts- und Werteordnung.“ Wo aber sollen die Flüchtlinge Gehör finden? Bisher ist es so, dass ein Flüchtling um Asyl in demjenigen EU-Staat bitten muss, den er als ersten betritt. Die Mittelmeer-Anrainerstaaten fordern, diese Bestimmung zu revidieren, aber Kanzlerin Angela Merkel lehnte das auf dem EU-Gipfel Ende Oktober rundweg ab. Deutschland ist fein raus. Es hat keine EU-Außengrenze, sondern vorgelagerte Pufferstaaten, einen Cordon sanitaire gewissermaßen.

Das Entsetzen über die Schiffskatastrophe vom 3. Oktober mag echt gewesen sein, nachhaltig war es nicht. Schon als nur acht Tage später im Meer zwischen Libyen und Lampedusa wieder 268 Menschen ertranken, wurde dies in der Öffentlichkeit kaum noch wahrgenommen. Es waren am 11. Oktober zwar etwas weniger Opfer als eine Woche zuvor, aber diesmal trugen jene, die für Abschottung der Grenzen und für Rettung aus Seenot verantwortlich sind, zweifellos eine große Mitschuld am massenhaften Tod.

Für die Rettung aus Seenot ist auf Lampedusa die Guardia Costiera, die Küstenwache, zuständig. Kommandant Giuseppe Cannarile gebietet über sieben Patrouillenboote. Cannarile sitzt in seinem Büro am Hafen in blütenweißer Uniform. „Zwei Boote sind immer startklar“, sagt er, „im Notfall brauchen wir keine halbe Stunde, bis wir in See stechen.“ Die Boote erreichen eine Geschwindigkeit von 30 Knoten, das sind 56 Kilometer pro Stunde. Cannarile kann die Positionen der Schiffe und Boote auf dem Meer mit einem Blick auf den Radarschirm überblicken. „Aber wir können nicht jedes Mal rausfahren und nachschauen, ob es Flüchtlinge in Seenot sind. Meistens alarmieren uns die Schiffbrüchigen selbst – per Satellitentelefon.“

So war es auch am 11. Oktober, als Wasser in das völlig überfüllte Boot lief. Die Flüchtlinge gaben ihre geografische Position durch. Sie befanden sich 230 Kilometer von der Küste Maltas entfernt, aber nur 130 Kilometer von Lampedusa – allerdings in einem Gebiet, das zur „Such- und Rettungszone“ Maltas gehört. Also gab die Leitstelle zur Koordination der Seenotrettung in Rom den Fall an Malta ab. Als ein maltesisches Flugzeug endlich vor Ort eintraf und Schwimmwesten und Schlauchboote abwarf, war das Boot schon gesunken. Nur 212 Flüchtlinge konnten aus dem Meer gerettet werden. Sowohl die italienische Finanzpolizei, zuständig für Immigration, als auch die Küstenwache von Lampedusa, zuständig für Rettung aus Seenot, als auch ein mit Hubschrauber bestücktes Kriegsschiff der italienischen Marine, das nur 48 Kilometer entfernt war, hätten nachweislich zwei Stunden vor dem Sinken des Bootes vor Ort sein können. 268 Menschen hätten überlebt.

Jahrelang haben die Diktatoren Tunesiens und Libyens den Flüchtlingsstrom übers Meer eingedämmt. Mit dem arabischen Frühling wurde auch das unappetitliche Agreement zwischen Berlusconi und Gaddafi hinfällig: „König Silvio“ hatte 2008 versprochen, in Libyen eine Küstenautobahn zu finanzieren, der „König der Könige Afrikas“ hatte sich im Gegenzug verpflichtet, afrikanische Flüchtlinge an der Ausreise zu hindern. Tempi passati. Im vergangenen Jahres kamen rund 45 000 Flüchtlinge übers Mittelmeer nach Europa. 70 Prozent von ihnen starteten in Libyen oder Tunesien und kamen in Italien an. Italien fühlt sich nun mit dem Problem alleingelassen.

Doch so allein ist es nicht. Frontex bietet Hilfe an. Frontex ist das französische Akronym für „Frontières extérieures“ (Außengrenzen) und steht als Kürzel für Europäische Agentur für die operative Zusammenarbeit an den Außengrenzen der Mitgliedstaaten der Europäischen Union. Frontex, 2005 gegründet, hat über 300 Mitarbeiter und ein Jahresbudget von 80 Millionen Euro, die Zentrale ist in Warschau. Dort sitzt im 22. Stock eines Glaspalasts Michal Parzyszek, er ist für die Presse zuständig. „Unsere Aufgabe“, referiert er, „ist nicht, Flüchtlinge zu stoppen, wir sind nicht mehr Grenzschutz wie in der Vergangenheit.“ Frontex soll die Zusammenarbeit der EU-Staaten beim Schutz der EU-Außengrenzen koordinieren, EU-Staaten bei der Ausbildung von Grenzschutzbeamten unterstützen und die Migrationsbewegungen kontrollieren. Und es soll Risiko-Analysen erstellen, wobei nicht das Risiko gemeint ist, das jene eingehen, die sich auf Seelenverkäufern ins Mittelmeer wagen, sondern das Risiko der Flüchtlingsbewegungen für die EU-Staaten. Zudem soll Frontex operativ tätig sein, indem es EU-Staaten unterstützt, die aufgrund einer schwierigen Lage technischer und personeller Hilfe bedürfen.

„Frontex hat keine eigenen Truppen, nicht einmal eigene Flugzeuge, Patrouillenboote oder Hubschrauber“, sagt Parzyszek, „wenn wir – wie zum Beispiel jetzt bei der Operation ‚Hermes‘ im Mittelmeer südlich von Lampedusa – mithelfen, dann stellen wir ein Team aus Grenzschutzbeamten verschiedener EU-Staaten zusammen und greifen auf einen technischen Ausrüstungspool zurück, für den die einzelnen Staaten Equipment zur Verfügung stellen.“

Für „Hermes“ stehen Frontex vier Schiffe, zwei Hubschrauber und zwei Flugzeuge zur Verfügung. Eines von den beiden steht auf der Piste des Flughafens von Lampedusa, der vom Stadtzentrum zu Fuß in zehn Minuten zu erreichen ist. Auf dem grünen Kleinflugzeug des Typs Dornier steht „Rajavartiolaitos“, finnisch für „Grenzpolizei“. Lauri Pakkala bittet, auf einem der fünf Sitze Platz zu nehmen, den Ohrenschutz mit Mikrofon aufzusetzen und die Gurte anzulegen. Elf Jahre lang hat der 32-Jährige in der finnischen Luftwaffe gedient, bevor er als Grenzpolizist über den Bottnischen und Finnischen Meerbusen kurvte. Nun dreht er seine Runden über dem Mittelmeer. Sein Sozius, ebenfalls Finne, sitzt vor dem Radarschirm und zeigt auf etwa zwei Dutzend Punkte auf der Karte, die er eingeblendet hat. Es sind Schiffe im Meer. Er klickt einen Punkt an, schaltet die schwenkbare Kamera ein und zoomt das Objekt heran. Es ist ein Fischkutter mit drei Männern an Bord. Mit bloßem Auge ist nicht einmal das Boot zu erkennen.

„Der Radar reicht 115 Kilometer weit“, erklärt Pakkala, „auf der Kamera können wir große Schiffe auf 40 Kilometer Distanz, Personen auf 10 Kilometer erkennen. Täglich fliegt er drei bis vier Stunden Patrouille. Er fliegt langsam, etwa zweihundert Stundenkilometer. Spätestens 75 Meilen vor der libyschen Küste dreht er ab, dann ist er auch 75 Meilen von Lampedusa entfernt. Alle 30 Minuten gibt er der Frontex-Kommandozentrale in Rom seinen Rapport durch. Seit zwei Wochen ist Pakkala im Einsatz. Flüchtlinge oder gar Schiffbrüchige hat er in dieser Zeit keine entdeckt. Die See ist rau, die Herbststürme haben eingesetzt. Während im Oktober nahezu täglich Flüchtlinge auf Lampedusa strandeten, warten die Schlepper in Libyen nun besseres Wetter ab.

Für die Rettung aus Seenot ist Frontex nicht zuständig. Aber im Notfall muss sie natürlich Hilfe leisten. Der Vorwurf, der Frontex gemacht wird, ist, dass sie wegschaut, wenn Flüchtlinge in ihrem Operationsgebiet von Grenzpolizisten in Not gebracht werden – durch sogenannte Push-back-Aktionen. Push-back, das heißt zurückstoßen. Vor allem im griechisch-türkischen Grenzgebiet in der Ägäis – Gebiet der Frontex-Operation „Poseidon“ – wurden vermutlich über tausend Flüchtlinge von griechischen Polizeibeamten, die meist Gesichtsmasken trugen, gewaltsam abgedrängt. Die Flüchtlingshilfsorganisation Pro Asyl berichtet von zahlreichen Fällen, in denen Flüchtlingen Benzin und Ruder weggenommen wurden, bevor man sie in türkischen Hoheitsgewässern aussetzte. 149 Menschen, die meisten von ihnen afghanische oder syrische Flüchtlinge, unter ihnen viele Kinder und schwangere Frauen, seien in der Ägäis ertrunken.

In der Frontex-Zentrale von Warschau weist Parzyszek eine Mitschuld am Push-back zurück. „Die Verantwortung und das Kommando liegen immer beim Gastland, in dem Frontex nur unterstützend operiert, oder bei der Nation, unter deren Flagge ein Schiff fährt“, sagt er. In einer ARD-Sendung vom 17. Oktober allerdings erklärte sein Chef, der Finne Ilkka Laitinen: „Die Abwehraktionen waren über Jahre Doktrin; ich würde sogar sagen, eine Strategie, die viele EU-Staaten anwandten.“ Und auf die Nachfrage des Reporters, ob auch er Push-back angewandt habe, meinte der Frontex-Chef: „Ja, wir mussten ja der Verordnung folgen.“ In dieser Verordnung aus dem Jahr 2010 steht, wie beim Push-back im Einzelnen vorzugehen ist.

Dass das Push-back gegen internationales Recht verstößt, hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte schon im Februar 2012 festgestellt. Er gab damit der Beschwerde von 24 Flüchtlingen aus Eritrea und Somalia recht, die drei Jahre zuvor auf hoher See von der italienischen Finanzpolizei gestoppt und nach Libyen verfrachtet worden waren, wo damals noch Berlusconis Freund Gaddafi herrschte. Nach der europäischen Menschenrechtskonvention hat jeder Flüchtling ein Recht, angehört zu werden und einen Asylantrag zu stellen. Kollektivausweisungen sind nach Artikel 19 der EU-Grundrechtecharta verboten. Und das Push-back in der Ägäis verstößt gleich mehrfach gegen die Genfer Flüchtlingskonvention. Auf die Frage des ARD-Reporters, ob es Push-back auch noch nach dem Urteil des Straßburger Gerichts gegeben habe, sagte Frontex-Chef Laitinen: „Ich kann nicht leugnen, dass es das auch nach 2012 gegeben hat.“ Nach eigenen Angaben hat sich Frontex daran allerdings nicht mehr beteiligt. Eine neue Verordnung, die zurzeit vom Europäischen Parlament und vom Rat debattiert wird, soll nun Klarheit schaffen, unter welchen Voraussetzungen Push-back doch mit dem internationalen Recht vereinbar ist.

Die menschlichen Dramen, die sich in den Fluten der Ägäis, vor allem vor den der Türkei vorgelagerten Inseln Lesbos, Chios und Samos, abspielen, sind eine direkte Folge der verstärkten Überwachung der 206 Kilometer langen türkisch-griechischen Landgrenze. Diese bildet der Evros, ein Fluss doppelt so breit wie die Spree in Berlin und mit gefährlichen Strömungen. Nur auf einer Länge von zwölf Kilometern verläuft die Grenze quer durch Felder und Wiesen. Dort wurde im vergangenen Dezember ein mit Infrarotkameras, Wärmesensoren und Stacheldraht bewehrter, schwer zu überwindender Zaun fertiggestellt. Bis zu 1 800 zusätzliche Polizisten hat die griechische Regierung zudem ins Grenzgebiet abgeordnet.

Eine halbe Stunde Fußmarsch entfernt von Sidiro, einem griechischen Dörfchen unweit der türkischen Grenze, liegt auf einer Anhöhe ein umzäuntes Gelände. Der Boden weist lauter Buckel auf. Es sind überwucherte Gräber. An die 500 Leichen von Flüchtlingen, die am Flussufer gefunden wurden, hat Mehmet Serif Damatoglou schon beerdigt. Der Mufti, der der türkischen Minderheit im äußersten Nordosten Griechenlands angehört, empfängt in weißem Kaftan und weißem Fes. „Die ersten drei Toten waren türkische Kurden“, sagt er, „das war 1989. Später waren es Iraker, die vor dem Krieg geflohen waren, Somalier, Pakistaner, Afghanen, und in letzter Zeit Syrer. Aber die meisten angeschwemmten Opfer trugen keine Dokumente bei sich. Wir kennen ihre Nationalität nicht.“ Die Toten werden sechs Monate im Kühlraum der Pathologie von Alexandropoulis, der Hauptstadt der Provinz, gelagert. Wenn sich niemand meldet, werden sie – sofern sie beschnitten, wahrscheinlich also Muslime sind – dem Mufti zur Beerdigung übergeben. „Da liegen wohl auch einige Christen begraben, den Kopf, wie bei Muslimen üblich, Richtung Mekka“, vermutet der Mufti, „oft sind ja die Leichen schon so weit verwest, dass eine Beschneidung nicht mehr festzustellen ist. Aber jeder Mensch hat ein Anrecht auf eine würdige Bestattung.“

In jüngster Zeit hat der Mufti kaum noch tote Flüchtlinge zu beerdigen. Die Grenze ist dichter denn je. Die Flüchtlinge treten nun immer öfter den gefährlicheren Weg über die Ägäis an – oder schlagen sich nach Bulgarien durch, das eine 240 Kilometer lange Landgrenze mit der Türkei hat. Der ärmste Staat der Europäischen Union kannte bislang kaum illegale Grenzübertritte. Weil er nicht dem Schengen-Raum angehört, ist er für Flüchtlinge, die nach Deutschland, Frankreich oder Skandinavien wollen, nicht sonderlich attraktiv. Trotzdem sind allein in den letzten vier Monaten ungefähr zehntausend angekommen.

„Fast alle sind Syrer“, sagt Georgi Kalaydzhiev, Kommissar der Grenzpolizei in Svilengrad, „oder sagen jedenfalls, sie seien Syrer.“ Oft gäben sich Araber anderer Staaten oder türkische Kurden als Syrer aus. Doch dank Spezialisten, die sich in Dialekten und der örtlichen Geografie auskennen würden, fliege das schnell auf. „Beim Screening hilft uns Frontex“, sagt der Kommissar. Aber gemeinsame Patrouillen mit den 24 Grenzschützern, die Frontex nach Bulgarien entsandt hat, gebe es nicht. „Ist nicht nötig. Wir haben modernste technische Ausrüstung – auch Nachtsichtgeräte. Aber zurückschicken können wir eben niemanden.“ Noch nicht. Schon in diesem Monat könnte sich dies ändern. Die Türkei will ein Rückführungsabkommen mit der EU abschließen. Im Gegenzug will die EU Verhandlungen über die Abschaffung der Visumspflicht für Türken aufnehmen.

Im Notaufnahmelager von Harmanli, einer Kleinstadt 30 Kilometer vor der türkischen Grenze, kommen jeden Tag 40 bis 50 neue Flüchtlinge an, überstellt von der Grenzpolizei, wo sie die ersten paar Tage oder auch einige Wochen verbracht haben. Hinter einer großen Stahltür sind sie auf einem ehemaligen Kasernenareal untergebracht. Ohne Erlaubnis darf keiner das Lager verlassen. Sie wärmen sich an Feuern, die sie vor ihren Wohncontainern entfacht haben. Elektrizität gibt es keine. Die hygienischen Verhältnisse sind erbärmlich.

Das Kontrastprogramm ist von Harmanli 40 Kilometer entfernt und heißt Pastrogor. Außerhalb des Dörfchens steht ein sauberes, jüngst errichtetes Transitzentrum – mit Fernsehraum, Bibliothek, Fußballplatz und einem Laden mit Lebensmitteln. Es ist für 300 Flüchtlinge errichtet und beherbergt zurzeit 462. Sie dürfen das Zentrum verlassen, müssen aber um 22 Uhr wieder zurück sein. Wer registriert ist, erhält einen Ausweis, der drei Monate gültig ist. In dieser Zeit wird meistens entschieden, ob der Immigrant als politischer Flüchtling anerkannt wird und sich dann in der ganzen EU frei bewegen kann, oder ob er den Status einer aus humanitären Gründen geduldeten Person erhält und sich nur in Bulgarien frei bewegen kann. Die Syrer erhalten in der Regel nur die „Duldung“.

Im Dorfcafé, das gleichzeitig Lebensmittelgeschäft ist, steht in arabischer Schrift über dem Tresen „Willkommen“. Im obersten Regal steht ein Elefant aus Messing, daneben Vasen, Schächtelchen – alles Geschenke von Flüchtlingen. „Eine Syrerin hat mich vor Wochen gebeten, ihr Bulgarisch beizubringen“, erzählt die Wirtin, „und ich lerne jetzt bei ihr Arabisch.“

„Mit den Leuten im Dorf gibt es keine Probleme“, sagt Halil Junu in passablem Deutsch, „sie sind freundlich zu uns.“ Der kurdische Syrer, 64 Jahre alt, eine rot-weiße Kufiya um den Kopf geschlungen, gehört der religiösen Minderheit der Jesiden an. Von 1973 bis 1975 hat er in Bad Godesberg auf dem Bau gearbeitet. Fünf seiner inzwischen erwachsenen Kinder arbeiten in Deutschland, eines in Holland. Mit zwei weiteren Kindern und seiner Frau ist er hier im Lager. „Ich liebe Assad“, betont er, „er ist gut zu uns.“ Junu ist nicht vor dem syrischen Diktator geflohen, sondern vor den Islamisten der Nusri-Brigaden, die seiner Cousine eine Kugel in den Kopf gejagt haben. Mit Frau und Kindern hat er heimlich die Grenze zur Türkei überquert, ist nach Edirne, die türkische Stadt an der bulgarischen Grenze, gefahren. „Ein Schlepper hat uns im Kleinbus für 500 Euro etwa 30 Kilometer außerhalb der Stadt über Ackerwege zu einem freien Feld gefahren“, berichtet er, „dann sagte er: „Schnell! Lauft los, da vorne ist die Grenze!“

Das war vor drei Monaten. Dort, wo Junu mit seiner Frau und den beiden Kindern die Grenze überquert hat, wird gerade ein Zaun gebaut, bestückt mit Stacheldraht, Kameras und Sensoren. Er soll über 30 Kilometer lang werden. Wenn er im Februar fertig ist, werden sich die Flüchtlinge eben weiter nördlich durch die Wälder schlagen oder den Weg übers Schwarze Meer suchen.

„Zäune sind keine Lösung“, hatte Parzyszek in der Warschauer Frontex-Zentrale gesagt. „Wenn die Menschen kommen wollen, dann schaffen sie es auch“, stellte sein Chef Laitinen klar, „wir können sie ja nicht erschießen.“ Die Strategen in Brüssel und Warschau haben Konsequenzen aus dem Dilemma gezogen. Gerade findet in der Flüchtlingsabwehr ein Paradigmenwechsel statt, das Zauberwort heißt Eurosur. Das Kürzel steht für European Border Surveillance System (Europäisches Grenzüberwachungssystem). Im Kern geht es darum, die Informationen von Hafenbehörden, Polizei, Grenzschutz, Küstenwachen international zu vernetzen und auch Daten von Satelliten und Drohnen in dieses Verbundsystem einzuspeisen. 244 Millionen Euro sind dafür bis 2020 eingeplant.

Vor allem soll verhindert werden, dass Flüchtlinge überhaupt an den Toren der Festung Europas anklopfen können. Marokko hat sich bereits vertraglich verpflichtet, Flüchtlinge vor der Küste abzufangen. Tunesien hat in dieser Woche unterschrieben. Generell werden Abkommen mit Drittstaaten angestrebt, damit diese Flüchtlingen den Weg nach Europa versperren. Die EU bietet ihnen Grenzüberwachungshilfe an. Mit Libyen wurde im Mai ein entsprechendes Abkommen geschlossen. Die EU schickt hundert Experten, darunter zwanzig deutsche Polizisten aus Bund und Ländern nach Tripolis. Sie sollen bei Ausbildung, Monitoring und Beratung der libyschen Grenzbehörden helfen. Eine solche Zusammenarbeit, das hatte der Frontex-Chef Laitinen schon 2011 verkündet, sei „der Schlüssel zum Erfolg eines europäischen Grenzmanagements“.

Am vergangenen Montag ist Eurosur offiziell für sämtliche Mittelmeer-Anrainerstaaten in Kraft getreten. Wenn die Rechnung aufgeht, wird Libyen, das die Genfer Flüchtlingskonvention nicht unterzeichnet hat und in den vergangenen zwei Jahren Zehntausende illegale Einwanderer nach Niger, Tschad und in den Sudan zurückverfrachtet hat, keine Flüchtlinge mehr nach Europa entwischen lassen und dafür sorgen, dass keine Flüchtlinge mehr über seine Südgrenze ins Land einsickern. Der Sudan seinerseits wird keine Flüchtlinge aus Eritrea mehr aufnehmen. Und Eritreer wie Mesfin, der noch das Glück hatte, auf einem Seelenverkäufer heil in Lampedusa anzukommen, werden dann eben in Eritrea bleiben müssen.

„Jeder hat das Recht, jedes Land, einschließlich seines eigenen, zu verlassen“, heißt es im Artikel 13 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, beschlossen von der UN-Vollversammlung 1948. Noch wird in Eritrea auf Republikflüchtlinge geschossen. Vielleicht wird es bald nicht mehr nötig sein.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 07./08.12.2013