Er war ein wandelndes Lexikon. Sein enzyklopädisches Wissen aber stellte er nicht zur Schau. Es floss kaum merkbar in seine scharfsinnigen Leitartikel, Analysen und Kommentare ein. Christian Semler, der 1989 Redakteur der Tageszeitung (taz) wurde und ihr bis zu seinem Tod als Autor treu blieb, war ein Intellektueller mit kühlem Kopf und warmem Herz. Er war ein Feingeist, ein Mensch mit sanfter Ironie und viel Humor, ein Kunstliebhaber, der das Leben – hierin ganz Bohemien – gerne in vollen Zügen genoss.
1938 in Berlin geboren, trat Semler schon als 19-Jähriger der SPD und dem Sozialistischen Deutschen Studentenbund (SDS) bei. Die SPD verließ er allerdings schon 1959 wieder. Sein Jura-Studium in Freiburg und München schloss er mit dem Staatsexamen ab. Er wurde bayerischer „Staatsbeamter auf Widerruf“. Für den Widerruf sorgte er dann selbst. Semler wurde neben Rudi Dutschke und Bernd Rabehl zu einem der führenden Köpfe der antiautoritären Revolte von 1968.
Nie ein Renegat
Viele, die die 68er-Bewegung mitgetragen hatten, traten nach derem Zerfall der SPD oder der DKP (in Westberlin: SEW) bei, andere verabschiedeten sich von der Politik für immer, einige wenige traten den Weg in den bewaffneten Untergrund an, wieder andere wurden Maoisten, Trotzkisten oder Spontaneisten. Semler gründete mit einigen Genossen 1970 die KPD, eine maoistische Sekte, die Marx, Engels, Lenin, Stalin und den großen Steuermann in Peking verehrte.
1980 löste sich die Partei, die sich als Vorhut einer proletarischen Revolution verstand, auf. Für den Generalsekretär Semler war es, wie er später freimütig eingestand, ein verlorenes Jahrzehnt. Aus dem Berufsrevolutionär wurde ein Arbeitsloser.
Semler schlug sich in Köln als freier Journalist durchs Leben. Aber die Politik ließ ihn nicht los. Der ehemalige Parteichef begann wieder ganz unten. Er engagierte sich – zusammen mit seiner jahrzehntelangen Lebensgefährtin Ruth Henning, die er an seinem 70. Geburtstag heiratete – in der „Solidarität mit Solidarnosc“, einem Verein, der den Kampf der unabhängigen polnischen Gewerkschaftsbewegung gegen die kommunistische Diktatur unterstützte. Viele Jahre danach, 2010, erhielt er vom polnischen Staatschef Bronislaw Komorowski dafür eine Ehrenmedaille.
Anders als viele seiner politischen Weggefährten wurde Semler nie ein Renegat, der seiner peinlichen Vergangenheit einfach abschwor und danach gegenteilige Positionen vertrat. Er blieb, nach einem gewiss mühsamen Selbstfindungs- und Lernprozess, ein Linker. Sein journalistisches Engagement galt fortan vor allem dem Rechtsstaat, den er einst frivol verhöhnt hatte. Er verteidigte die Bürgerrechte, schrieb gegen politische Entmündigung an und setzte sich für die Belange sozial Benachteiligter ein. Für sein publizistisches Werk erhielt er 2009 den renommierten Otto-Brenner-Preis.
Liebe zur Kunst
Politisches Engagement einerseits, Liebe zur Kunst und Boheme andererseits. Vielleicht ist dies seinem genetischen Erbe zu verdanken. Semlers Mutter, Ursula Herking, war Schauspielerin und Kabarettistin. Sie begründete ihre Karriere als Spelunken-Jenny in Brechts „Dreigroschenoper“. Von ihr, sagte Semler, habe er gelernt, dass Geld dafür da ist, sofort und restlos ausgegeben zu werden.
Semlers Vater Johannes war 1945 Mitgründer der CSU und wurde „Wirtschaftsminister“ der Bizone, bis er auf Druck der USA zurücktreten musste. Er hatte das von den USA gelieferte Getreide als „Hühnerfutter“ bezeichnet. Er war auch Aufsichtsratsvorsitzender von BMW. Doch hatte er „es irgendwie fertiggebracht, nichts Bares zu hinterlassen“, schrieb Christian Semler in einem der seltenen Artikel, in denen er etwas von seiner Herkunft preisgab. So lebte der Sohn eines christlich-sozialen Millionärs zum Schluss von einer – wie er selbst frotzelte – „überschaubaren Rente“.
Christian Semler starb im Alter von 74 Jahren am Mittwoch früh an einem Krebs, den er im vergangenen Jahr besiegt hatte und der ihn jetzt doch einholte.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.02.2013