Auf einer dem Meer zugekehrten Bank saß der Fürst in seiner hellgrauen Phantasieuniform, neben ihm die Fürstin, eine schlanke junge Frau, abseits hatten die Damen und Herren des Gefolges Platz genommen. Dazwischen liefen die Kinder des Herrscherpaares umher, die kleine Tochter und der Kronprinz; sie genossen, so gut es ging, die etwas enge Spielstätte, die ihnen die Politik der Erwachsenen auf einem bescheidenen Fleckchen Erde eingeräumt hatte. Und draußen, auf dem staubigen Landungsplatz vor dem Garten, stand das Volk, drängte sich an den grünen Zaun und betrachtete staunend die fremden Gäste dort drinnen, die mit einemmal vorgaben, Albaner geworden zu sein.“ So erinnert sich Friedrich Wallisch an das Bild, das sich ihm im Frühling 1914 in der albanischen Hafenstadt Durres bot. Albanien, das war „ein Landfetzen ,hinten, weit in der Türkei , der über Nacht zu einem europäischen Staat werden sollte“, schreibt der deutsche Krankenpfleger, „diese Urzeugung eines Staates mitanzusehen, wollte ich nicht versäumen.“

Bereits anderthalb Jahre zuvor, am 28. November 1912, hatte Ismail Qemal in der Hafenstadt Vlore die Unabhängigkeit Albaniens proklamiert und den türkischen Halbmond durch Skanderbegs Adler ersetzt. Doch stieß seine Macht schon wenige Kilometer außerhalb der Stadt auf ihre Grenzen. Der Norden des heutigen Albanien war von den Montenegrinern besetzt, das Zentrum um Tirana von den Serben, und im Süden standen griechische Truppen. Trotzdem anerkannte die Londoner Botschafterkonferenz der damaligen sechs Großmächte (Großbritannien, Frankreich, Deutschland, Österreich-Ungarn, Italien und Rußland) schon im Dezember 1912 die Autonomie Albaniens und sprach sich am Ende des ersten Balkankrieges schließlich für ein „autonomes, souveränes und nach dem Rechte der Erstgeburt erbliches Fürstentum unter der Garantie der sechs Mächte“ aus. In Mißachtung der zugebilligten Souveränität wurde gleichzeitig die Einsetzung einer Internationalen Kontrollkommission beschlossen, bestehend aus sechs Vertretern der Großmächte und einem Vertreter Albaniens, die die Zivilverwaltung und die Finanzen des neuen Staates zehn Jahre lang kontrollieren sollte.
Das größte Problem war die Bestimmung der Grenzen des neuen Staates. Die Albaner selbst forderten eine Grenzziehung nach ethnischen Kriterien, die Balkanstaaten hingegen wollten einen möglichst großen Teil ihrer Kriegsbeute einfahren, also ein möglichst kleines Albanien zulassen. Die Forderung der Albaner machte sich vor allem Österreich-Ungarn zu eigen, das einen großen Pufferstaat gegen Serbien errichten wollte. Rußland hingegen, traditionell Schutzmacht der Serben, drängte auf ein kleines Albanien, um so den Serben einen Zugang zur Adria zu ermöglichen. Als Kompromiß verständigte man sich auf ein Albanien in den Grenzen, wie sie im großen und ganzen auch heute noch existieren. Etwa die Hälfte der Albaner lebte somit im „Ausland“, vor allem im Kosovo und in Südserbien (heute Mazedonien), aber auch in den Grenzgebieten Montenegros und Griechenland.
Das zweite Problem war die Nominierung des künftigen Fürsten Albaniens. An Kandidaten mangelte es nicht. Aus Neapel meldete sich Marchese di Auletta, der behauptete, in direkter Linie von Skanderbeg abzustammen, und von der italienischen Regierung unterstützt wurde. In Marseille präsentierte sich Marquis Joseph Ange Aurineta als letzter Sproß der Familie des berühmten albanischen Nationalhelden aus dem 15. Jahrhundert und klagte seine dynastischen Rechte ein. In Albanien gaben lokale Potentaten ihre Ambitionen bekannt. König Nikolaus von Montenegro fand sich selbst die praktischste Lösung und empfahl für den Fall einer Absage seinen Sohn Mirko. Der Vatikan hätte gern Prinz Louis aus dem Hause Bonaparte an der albanischen Staatsspitze gesehen, dessen beide Brüder ebenfalls kandidierten. Auch die Bourbonen hielten sich nicht zurück: Franz Ferdinand, Herzog von Orleans-Montpensier, durchbrach sogar die griechische Blockade, um in Vlore höchstselbst für seine Person zu werben. Für Prinz Ahmed Fuad aus Kairo wiederum sprachen zwei Argumente. Seine Dynastie der Kheviden stammte aus Albanien, und er war Muslim. Jeder neue Thronprätendent, der sich ins Spiel brachte, war zusätzliche Nahrung für die Intrigen der Geheimdiplomatie.
Schließlich fiel die Wahl auf einen deutschen Prinzen: Wilhelm zu Wied, geboren im Schloß zu Neuwied bei Koblenz als Sohn des Fürsten Wilhelm und seiner Gemahlin, der Fürstin Marie, Prinzessin der Niederlande. Für den Rittmeister eines Kavallerieregiments der preußischen Armee in Potsdam hatte sich vor allem seine Tante Elisabeth, Königin von Rumänien und unter dem Künstlernamen Carmen Sylva Autorin von Gedichten, Romanen, Märchen und Aphorismen, stark gemacht. Für ihn sprach letztlich vor allem, daß er weder Muslim, noch Katholik, noch Orthodoxer war, sondern Protestant und als solcher keiner der drei Religionsgemeinschaften Albaniens in besonderer Weise verbunden. Nach langem Zögern akzeptierte Wied die Wahl, obwohl ihm Kaiser Wilhelm II., dessen Vetter zweiten Grades er war, dringend abriet, „den neu erfundenen albanischen ,Thron “ zu besteigen. Es sei ihm, so schrieb der deutsche Monarch in seinen Memoiren, „überhaupt unsympathisch, daß ein deutscher Fürst sich dort blamieren sollte“.
Am 7. März traf Wilhelm, Prinz zu Wied und Fürst von Albanien, auf dem österreichischen Kriegsschiff „Taurus“, eskortiert von Schiffen der französischen, britischen und italienischen Flotte, in Durres ein, das die Großmächte zur Hauptstadt des neuen Staates erklärt hatten. „Die Glocken läuteten, Musikkapellen spielten, der ganze Weg war mit Blumen bestreut“, berichtete der Korrespondent der „Neuwieder Zeitung“ in einer Sonderausgabe. Seine Residenz bezog Wied vernünftigerweise direkt am Hafen ein Umstand, der ihm sechs Monate später möglicherweise das Leben rettete.
Das Land, das er vorfand, befand sich in einem elenden Zustand. Es gab so gut wie keine Infrastruktur. „Jeder Mulitreiber ist sein eigener Verkehrsminister und macht sich seine eigene Straße“, stöhnte ein zeitgenössischer Publizist, der die Gegend bereiste, „wo man je nach der Jahreszeit am wenigsten schlecht durchkommt, dort ist die Straße.“ In den Niederungen war die Malaria weit verbreitet, und es gab keine hundert Ärzte im ganzen Land. Weiterführende Schulen existierten nur ganz wenige, Industrie war nicht vorhanden, abgesehen von einigen Mühlen. Und die von den Großmächten versprochene Finanzhilfe floß nur zäh. Ein Steuerwesen hatten die Türken ein halbes Jahrtausend über nicht durchsetzen können. Weshalb sollte es dem deutschen Prinzen gelingen? „Alles, aber auch alles, was ein Staat benötigt, mußte neu, fast aus dem Nichts geschaffen werden“, klagte Wied drei Jahre später in seiner „Denkschrift über Albanien“.
Vor allem aber hatte der Fürst keine Kontrolle über sein eigenes Land. Shkodra im Norden war von einer internationalen Streitmacht besetzt, nachdem sich die Montenegriner unter dem Druck österreichischer Interventionsdrohungen zurückgezogen hatten. Schlimmer aber sah es im Süden aus. Dort zogen sich die Griechen zwar endlich aus den Albanien zugesprochenen Gebieten, in denen eine griechische Minderheit lebte, zurück. Gleichzeitig bildeten sie aber paramilitärische Gruppen aus und schürten einen Bandenkrieg. Und schließlich proklamierte der frühere griechische Außenminister Zographos im Süden Albaniens wenige Tage nach der Ankunft des Fürsten seine provisorische Regierung von Nordepirus, dem die Großmächte alsbald eine weitreichende Autonomie zugestanden.
Die größte Gefahr aber braute sich in Mittelalbanien zusammen. Ismail Qemal, der in Vlore die Unabhängigkeit Albaniens ausgerufen hatte, war zwar auf Druck der Großmächte ins Exil an die französische Riviera verschwunden. Dessen Rivale aber, Essad Toptani, eine der schillerndsten Figuren der albanischen Geschichte, war ein weit gefährlicherer Bursche. Der mächtige Landbesitzer aus einem Geschlecht des mittelalbanischen Hochadels war einst türkischer Gendarmerieoffizier und hatte sich 1908 der Verschwörung der Jungtürken gegen den Sultan angeschlossen. Im Frühling 1913 gehörte er zu den Verteidigern der nordalbanischen Stadt Shkodra, die von montenegrinischen Truppen belagert wurde, doch ließ er seinen eigenen Stadtkommandanten erschießen, übernahm dessen Position und lieferte Shkodra den Belagerern aus. Im Sommer 1913 war er Innen- und Kriegsminister Qemals, trennte sich aber alsbald von diesem, um in Durres seine eigene Regierung auszurufen.
Seinen Rücktritt als „Präsident“ hatte Essad Toptani an zwei Bedingungen geknüpft, die die Internationale Kontrollkommission akzeptierte: Er durfte die Delegation von Albanern anführen, die nach Neuwied reiste, um Prinz Wilhelm die albanische Krone anzubieten, und er wurde Innen- und Kriegsminister der neuen Regierung.
Nun befehligte dieser Kriegsminister aber nicht nur die neue Armee, die holländische Offiziere sich aufzubauen und auszubilden bemühten, sondern als mächtiger Landbesitzer auch seine Privattruppen. Und während er die Regierungstruppen zur Bekämpfung griechischer Banden in den Süden schickte, befahl er mitunter seinen eigenen Banden, die Soldaten anzugreifen.
Als im Mai 1914 eine bewaffnete Bauernrevolte ausbrach, die von Serbien, Montenegro, den Jungtürken und vermutlich auch Essad Toptani geschürt wurde, nahm der Fürst eine Schießerei zwischen Soldaten und der privaten Miliz seines Kriegsministers zum Anlaß, diesen zu verhaften. Auf italienischen Druck durfte der prominente Häftling schließlich nach Italien ausreisen, wo er wie ein Staatsgast empfangen wurde. „Alle Ereignisse ließen auf einen geplanten Handstreich Essads schließen“, schreibt Wied in seiner Denkschrift, doch „schriftliche Beweise irgendwelcher Art wurden nicht gefunden und konnten auch kaum vorhanden sein, da Essad ja gar nicht lesen, nur seinen Namen mühsam schreiben kann.“
Schon vor Beginn des Ersten Weltkrieges, im August 1914, waren die Fronten im internationalen Machtpoker weitgehend geklärt. Italien, einst von Bismarck mit Deutschland und der Donaumonarchie im Dreibund zusammengeschweißt, orientierte sich auf die Entente hin und erhoffte sich mit dem Griff nach Albanien die Kontrolle über die Meerenge von Otranto und damit über die Adria überhaupt. So wurde der neugegründete Staat zum Streitapfel zwischen Wien und Rom. Der Fürst, der Österreich gewiß näher stand als Italien, sah sich immer mehr als Opfer römischer Machtpolitik.
Aber auch die Doppelmonarchie ließ Wied bald fallen. Anfang August forderte ihn der österreichisch-ungarische Außenminister auf, „sich an die Spitze der Albaner zu stellen und gegen Serbien zu marschieren“, also an der Seite der Mittelmächte in den Krieg zu ziehen. Wied wies dieses Ansinnen mit dem Verweis auf die Neutralität Albaniens, für die alle sechs Großmächte die Garantie übernommen hatten, zurück. Ende August verständigten sich Österreich und Italien ein letztes Mal, bevor sie sich ein Jahr später als Kriegsgegner gegenüberstanden sie einigten sich darauf, Wied die Gelder zu sperren.
Der Fürst hatte seine Soldaten bereits seit zwei Monaten nicht mehr bezahlt, und die aufständischen Bauern, angeführt von Haxhi Qamil, der die Einsetzung eines muslimischen Fürsten forderte, belagerten seit Juni schon Durres. Vergeblich forderte Wied eine internationale Besetzung seines Landes. Am 3. September, knapp sechs Monate nach seiner Ankunft in Albanien, flüchtete er schließlich auf einem italienischen Kriegsschiff nach Venedig. In einer pathetischen Proklamation an sein Volk kündigte er an, daß er sich „für einige Zeit nach Westen“ begebe. In seiner Denkschrift, die er 1917 verfaßte, als er noch immer an den Sieg der Mittelmächte glaubte, heißt es, daß er beschlossen habe, sein „Land Albanien vorübergehend zu verlassen“, um „für Deutschland, das Land meiner Väter, das Schwert zu ziehen“. Auf den Thron verzichtete Wied nie.
Drei Tage nach der Abreise des Fürsten wehte die türkische Flagge in Durres. Wenige Wochen zuvor war die griechische Armee in den autonomen Nord-Epirus einmarschiert. Im Dezember besetzten die Italiener Vlore. Im Juni 1915 überschritten die Serben die Grenze nach Albanien, und im gleichen Monat nahmen die Montenegriner wieder Shkodra ein. Schon bald wurden sie von Truppen Bulgariens und Österreich-Ungarns vertrieben, und im Süden marschierten die Franzosen ein. Sieben fremde Armeen durchzogen das Land. 70 000 Albaner, fast ein Zehntel der Bevölkerung, wurden getötet oder starben an kriegsbedingten Epidemien und Hungersnöten. Der erste Versuch, einen albanischen Staat aufzubauen, war gründlich gescheitert.
Nach drei Jahren Dienst an der Rußlandfront ließ sich der Fürst vom Kommando der Division beurlauben, um „mich jetzt ausschließlich der Arbeit für mein Land“ widmen zu können, wie er seinem Bruder Victor, Legationsrat an der deutschen Gesandtschaft in Stockholm, schrieb. Sein Land, das war Albanien. Er nahm wieder alte Kontakte auf und knüpfte neue. Doch von Österreich, das inzwischen den größten Teil Albaniens besetzt hielt, fühlte sich der Prinz verraten. Die Besatzungsmacht fange die Ergebenheitsadressen ab, die zahlreiche Untertanen ihm schrieben, und verbiete den Albanern, den 7. März, den Tag seiner Ankunft in Albanien zu feiern. Aber auch über das Land seiner Väter beklagte er sich bitterlich. „England schickt für jeden Koch oder Hausknecht, dem im Ausland ein Haar gekrümmt wird, sofort ein Kriegsschiff“, schrieb er im Sommer 1918 seinem Bruder in Schweden, „und was macht Deutschland für seinen Prinzen im Auslande?“ Der Fürst forderte seinen Thron wieder ein. Vergeblich. „Damals wußte er noch nicht“, notiert der eingangs zitierte Krankenpfleger Wallisch später, „daß er nur der erste von all den Monarchen war, denen der Weltsturm des großen Krieges die Macht aus der Hand riß.“
Nach dem Ersten Weltkrieg lebte der Fürst a. D. zunächst in Bayern und Schlesien, später vor allem auf einem Landgut in der rumänischen Moldau. Als 1944 die Rote Armee die rumänische Front aufrollte, flüchtete er, inzwischen verwitwet, mit seiner Tochter in ein Sommerschloß des rumänischen Königs in den Karpaten, wo er drei Wochen vor Kriegsende starb. Sein Grab wurde erst 1991, nach der Wende, in der Lutherischen Kirche von Bukarest entdeckt. Während der kommunistischen Diktatur war es unter einer hölzernen Verschalung versteckt.

Thomas Schmid | Berliner Zeitung – 28.06.1997