Die Trommeln der Gewerkschafter verstummen, die Männer in den blauen Arbeitsanzügen recken die Hälse, irgendwo bellt einer einen letzten Befehl, dann taucht sie in elegantem lachsfarbenem Kostüm auf dem schmuddeligen Platz neben der heruntergekommenen Fabrik auf. Trotz der gefährlich hohen Bleistiftabsätze erklimmt sie mit sicherem Schritt die improvisierte Holzbühne, lächelt, winkt nach allen Seiten, setzt sich hin und streicht mit einer koketten Handbewegung eine Strähne ihrer schulterlangen Haare aus dem Gesicht. »Man nennt mich Königin«, hat sie einmal gesagt, »es gefällt mir.« Am kommenden Sonntag wählt Argentinien, und Cristina, wie sie hier alle nennen, wird zwar nicht Königin, aber doch Präsidentin werden.
Mit vollem Namen heißt sie Cristina Fernández de Kirchner; sie ist die Gattin des amtierenden Präsidenten, der sein Land tatsächlich wie ein König regiert. In seinen vier Jahren Amtszeit hat Néstor Kirchner keine einzige Kabinettssitzung einberufen. Pressekonferenzen gibt er nicht, allenfalls lässt er Journalisten zu Verlautbarungsterminen antanzen.
Auch der Präsident hat auf der Bühne Platz genommen. Reden wird er nicht. Seine Präsenz genügt. Auf dem Gelände einer gewerkschaftseigenen Fabrik in La Matanza, einer Millionenstadt im Großraum von Buenos Aires, wird eine Berufsschule eingeweiht. Das Wort haben der Arbeitsminister, ein junger Metaller und schließlich Cristina. Sie erinnert an Emilio Tomasín, dem die Schule gewidmet wird. Der 26-jährige Gewerkschafter gehört zu den über 10000 »Verschwundenen«, zu den nie wieder aufgetauchten Opfern der Militärdiktatur, die von 1976 bis 1983 in Argentinien herrschte. Kaum hat die Präsidentschaftskandidatin ihre Rede beendet, trommeln die Gewerkschafter zum Peronistenmarsch, zum Lobe des früheren Präsidenten Juan Perón. Der Präsident, seine Frau und der Arbeitsminister fallen in den Refrain ein: »Perón, Perón, wie groß bist du! Mein General! Wie wertvoll du bist! Perón, Perón, du großer Führer!«
Nicht zufällig ist Cristina nach La Matanza gekommen. Die Stadt ist eine Hochburg der Peronisten, der Partei gehören sowohl der Präsident als auch seine Frau an. Es ist der 17. Oktober, der »Tag der Treue«. Am 17. Oktober 1945 hatten Hunderttausende Arbeiter auf den Straßen von Buenos Aires protestiert und die Freilassung des eine Woche zuvor von der Armee festgesetzten Juan Perón erzwungen. Der populäre Oberst, ein erklärter Anhänger Mussolinis, hatte den Putsch von 1943 mitgetragen und danach als Arbeitsminister soziale Reformen in die Wege geleitet, die seinen Kameraden offenbar zu weit gingen. Noch populärer als Perón war allerdings seine Gattin Eva Duarte, genannt Evita. Die graziöse, im Alter von 33 Jahren verstorbene ehemalige Schauspielerin, die eine Stiftung zugunsten der Armen leitete, wird in Argentinien noch heute weithin verehrt. Cristina hat sich selbst schon einige Male lobend auf sie bezogen, allerdings explizit nicht auf die mitunter etwas frivole Schauspielerin, sondern auf die Kämpferin für die Armen.
Der Peronismus lebt, die Peronisten sind heillos zerstritten
Cristina Fernández, 1953 geboren, geriet in den turbulenten siebziger Jahren, die dem Putsch der Generäle vorausgingen, als Jurastudentin in den Strudel der Politik. Zusammen mit Néstor, den sie an der Universität kennenlernte und 1975 heiratete, kämpfte sie bei der linken Peronistischen Jugend. Als die Armee die Macht übernahm, setzten sich die beiden nach Río Gallegos im äußersten Süden des Landes ab, wo Néstor aufgewachsen war. Dort eröffneten sie ein gemeinsames Anwaltsbüro, dort begannen sie nach dem Sturz der Diktatur ihre politische Karriere. Stufe um Stufe stiegen sie auf. Er zog schließlich in die Casa Rosada ein, in den rosafarbenen Präsidentenpalast in Buenos Aires. Sie gehört dem Senat an.
Beide sind bis heute erklärte Peronisten. Doch die einst starke peronistische Partei, die sich »Gerechtigkeitspartei« nennt, ist heillos zerstritten. So tritt die First Lady für die »Front für den Sieg« an – einen Wahlverein des Kirchner-Flügels ihrer Partei. Aber auch der traditionelle Gegner der Peronisten, die liberale UCR (Radikale Bürgerunion), geht geschwächt in den Wahlkampf. Zum ersten Mal seit 1916 schickt sie keinen Kandidaten der eigenen Partei ins Rennen, sondern mit Roberto Lavagna einen Peronisten, der bis vor zwei Jahren Kirchner als Wirtschaftsminister gedient hat. Umgekehrt kandidiert auf der Seite der Peronistin Cristina ein altgedientes UCR-Mitglied für das Amt des Vizepräsidenten. Damit ist über die Trümmerlandschaft der Parteien eigentlich alles gesagt – und vieles über die Wendigkeit argentinischer Politiker.
Als größte Herausforderin Cristinas gilt Elisa Carrió. Die Frau, die anders als Cristina immer nur beim Nachnamen genannt wird, kandidiert für die Bürgerkoalition und wird allen Umfragen zufolge noch vor Lavagna auf Platz zwei landen. Sie hat sich im Kampf gegen Korruption und Geldwäsche einen Namen erstritten und wird von vielen Nichtregierungsorganisationen unterstützt. In der Hauptstadt Buenos Aires, die drei Millionen Einwohner zählt, hat sie Chancen, Cristina zu schlagen. Doch die Vororte von Buenos Aires mit ihren insgesamt elf Millionen Einwohnern sind eine Hochburg der Peronisten, der Partei, der auch die Kirchners angehören.
Öffentlich nennt sie ihren Mann immer nur »Kirchner«
Wie stark sich Cristina Fernández schon heute in Regierungsgeschäfte einmischt, ist unklar. Sie selbst sagt: »Wir sind ein Paar, wir machen seit Jahren alles zusammen, wir diskutieren über alles, wir machen zusammen Politik, aber letztlich entscheidet Kirchner.« In der Öffentlichkeit spricht sie nie von »meinem Mann« oder »dem Präsidenten«, sondern immer nur von »Kirchner«. Ähnlich wie Hillary Clinton hat auch Cristina eine eigene politische Karriere hinter sich. Doch stand sie immer im Schatten ihres Mannes. Und natürlich profitiert sie auch von seinem Erfolg.
Denn Kirchners Bilanz kann sich durchaus sehen lassen. Er hat das Land nach dem wirtschaftlichen Kollaps 2001 aus der Krise geführt und politisch stabilisiert. Die Zahl der Armen und Arbeitslosen hat er halbiert. In seiner Amtszeit wuchs die Wirtschaft jährlich um acht bis neun Prozent. Noch steht Argentinien zwar mit über sechs Milliarden Dollar bei Gläubigerstaaten in der Kreide. Doch beim Internationalen Währungsfonds (IWF) hat das Land schon im Januar 2006 sämtliche Schulden beglichen.
»Was heißt IWF?«, werden in einem Wahlspot Cristinas die Kinder gefragt. »Eine Bande von Pferden«, vermutet ein Mädchen, »ein Satellit«, meint ein Junge, und dann die Stimme aus dem Off: »Wir haben erreicht, dass deine Kinder und Kindeskinder keine Ahnung mehr haben, was IWF bedeutet.« Der IWF hatte Argentinien in den neunziger Jahren auf einen neoliberalen Wirtschaftskurs gedrängt, der schließlich zum Ruin führte. Der damalige Präsident Carlos Menem, auch er ein Peronist, war ein williger Schüler der Lehrmeister aus Washington und hochkorrupt dazu.
»80 Prozent der Argentinier, die einst den Rechtsperonisten Menem wählten, werden nun die Linksperonistin Cristina wählen«, sagt Rosendo Fraga, Direktor eines Thinktanks in Buenos Aires. »Die peronistische Partei mag am Ende sein, als politische Kultur lebt der Peronismus weiter.« Juan Perón suchte einen dritten Weg zwischen Kapitalismus und Kommunismus, seine Nachfolger verfolgten sozialdemokratische Ziele. Inzwischen haben sie sich in unterschiedliche Gruppierungen aufgespalten. Peronismus ist aber immer auch die Hoffnung auf den Führer, der es schon richten wird. Ausgiebiger als alle seine gewählten Vorgänger hat Kirchner von Notstandsdekreten Gebrauch gemacht, um seine Vorhaben unter Umgehung des Parlaments durchzusetzen. Aber der autoritäre Regierungsstil stört die meisten Argentinier nicht, solange die Kasse stimmt.
»Cristina Fernández de Kirchner«, so vermutet Rosendo Fraga, »wird die alte Politik im Wesentlichen fortsetzen, doch einen neuen diplomatischen Stil einführen. Sie wird öfter ins Ausland reisen als ihr Mann, und sie wird zu Hugo Chávez ein bisschen mehr Distanz halten.« Néstor Kirchner hat sich mit dem linkspopulistischen Präsidenten Venezuelas immer prächtig verstanden – nicht zuletzt weil Chávez mit großzügigen Krediten Argentinien dabei half, sich den IWF vom Hals zu schaffen. Zum brasilianischen Präsidenten Lula, der zusammen mit der Chilenin Michelle Bachelet für die sozialdemokratische Perspektive Lateinamerikas steht, war Kirchners Verhältnis hingegen deutlich kühler.
Viele Argentinier fragen sich, weshalb Néstor Kirchner nicht selbst eine von der Verfassung erlaubte zweite Amtszeit angestrebt hat. Der Politologe Fraga hat einen Verdacht: Cristina wird unpopuläre Maßnahmen ergreifen müssen, möglicherweise die staatliche Preisfestsetzung für viele Produkte aufheben, um eine drohende Wirtschaftskrise abzuwenden. Das könnte Unzufriedenheit schaffen. Und wenn Néstor Kirchner in vier Jahren erneut kandidiert, würden die Leute seine Regierungszeit im Rückblick als Goldenes Zeitalter sehen.
Aber vielleicht kommt es 2011 auch ganz anders. Womöglich ist das »Projekt K« dann zu Ende, und die Konterfeis der beiden Kirchners hängen in Fragas Vorzimmer. Dort sind die Karikaturen von Präsidenten aus über hundert Jahren argentinischer Geschichte ausgestellt. Néstor mit seiner markanten Nase wird man vermutlich als Pinguin darstellen. So werden seine Mitarbeiter genannt, die er aus dem tiefsten Süden nach Buenos Aires geholt hat, und so hat er sich auch selbst einmal bezeichnet. Bei Cristina wird man an Wimperntusche und Lippenstift nicht sparen. »Auch ein Bombenangriff könnte mich nicht davon abhalten, mich zu schminken«, hat sie einmal gesagt. Und gewiss wird sie auf schwindelerregend hohen Bleistiftabsätzen gehen.
Thomas Schmid – DIE ZEIT, 25.10.2007 Nr. 44