Zwischen Mosesberg und Ararat

Löcher in den Straßen, Hausmauern, die den Putz freigeben, ein vom Rost angenagtes Auto, ein bis auf die Knochen abgemagerter Hund. Hier ist die Armut zuhause. Viele sind ihr entflohen, worauf die geschlossenen Fensterläden hindeuten. Vor einigen Häusern ist Holz gestapelt, noch kommen ja  die Eisheiligen. Am Horizont, aber zum Greifen nah, leuchten die ewig verschneiten Gipfel des über 5.000 Meter hohen Ararats. Von Eriwan aus, der Hauptstadt der kleinen Kaukasus-Republik Armenien, erreicht man das unscheinbare Dorf in einer halben Stunde. Es liegt in der Ebene und heißt Musaler, zu deutsch: Mosesberg. Auf einer kleinen Anhöhe steht ein rostrotes Denkmal. Es stellt einen riesigen Adler dar. Der Vogel gilt in Armenien weithin als Symbol des Kampfgeistes. Weshalb das Dorf in der Ebene nach einem Berg benannt wird, erfährt man im kleinen Museum der Gedenkstätte.

Musaler, Mosesberg, heißt auf türkisch Musa Dagh. Und dieser Name ist in die Weltliteratur eingegangen. In seinem 1933 erschienenen Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ schildert der Prager Jude Franz Werfel, der als österreichischer Schriftsteller Karriere machte, den Überlebenskampf von sechs armenischen Dörfern am Fuß des Musa Dagh, eines Berges, der sich in der südlichsten Ecke der heutigen Türkei, kurz vor der syrischen Grenze befindet. Als die Jungtürken 1915 – vor hundert Jahren –  im ganzen Osmanischen Reich die Deportation und anschließende Vernichtung von über einer Million Armenier organisierten, mussten auch die christlichen Bewohner der Dörfer am Musa Dagh um ihr Leben bangen. Von den 6.000 Einwohnern kam etwa ein Drittel dem Deportationsbefehl nach. Die übrigen stiegen den Berg hoch und verschanzten sich. Sie hatten sich bewaffnet und schlugen mehrere türkische Angriffe zurück, bis sie nach 53 Tagen von französischen Kriegsschiffen, die am Fuß des Bergs vor Anker gingen, gerettet wurden. Einige Dutzend ihrer Nachkommen haben sich nach einer Odyssee durch verschiedene Länder hier bei Eriwan niedergelassen – am Rand der damaligen Sowchose Mikojan. Ihre Siedlung nannten sie Musaler, Mosesberg.

Die Geschichte des heroischen Abwehrkampfs der Dörfler auf dem Musa Dagh erzählt das kleine Museum von Musaler. Fotos der 18 bei der Verteidigung gefallenen Armenier – Märtyrer –  sind ausgestellt sowie vergilbte Bilder von bärtigen Männern und einer Frau mit Pistole im Gürtel. Eine weiße Fahne mit rotem Kreuz hängt an der Wand. „Es ist die authentische Fahne, mit der die verzweifelten Bergler die französischen Marinesoldaten auf sich aufmerksam machten“, behauptet Naira, die junge Frau, die die wenigen Besucher, die sich hierher verirren, durchs Museum führt. Das Schild mit der englischen Aufschrift „the christians are in danger, save“ (die Christen sind in Gefahr, retten) sei allerdings nur eine Kopie des Schildes, das den Franzosen damals entgegengestreckt wurde.

In einer Glasvitrine werden über ein Dutzend Bücher vorgestellt: „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ auf armenisch, russisch, persisch, deutsch, französisch, hebräisch…. Werfel, der auf einer Reise durch Palästina und Syrien 1930 in Damaskus mit Überlebenden des Genozids an den Armeniern gesprochen hatte, hat einen Roman verfasst, der sich an den historischen Tatsachen orientierte. Den 53-tägigen Widerstand hat er allerdings auf 40 Tage reduziert. Denn so lange hatte dem Alten Testament zufolge auch Moses auf dem Berg Sinai ausgeharrt, nichts gegessen und nichts getrunken, bis ihm Gott erschien und die Steintafeln mit den zehn Geboten aushändigte.

Gevorg Vrtanesyan war zwölf Jahre lang Direktor des Museums von Musaler. Der 88-Jährige ist noch durchaus rüstig. Er kommt federnden Schritts zum Gartentor und bittet gleich in die Stube. Hunderte von Büchern, alle in armenischer Sprache, stehen in den Regalen, dazwischen Fotos der 18 Märtyrer vom Musa Dagh. In der Ecke türmen sich auf einem Schreibtisch lose Blätter, Manuskripte, Hefte, Briefe, Dokumente. „600 Seiten meines Buches über die Geschichte des Musa Dagh sind fertig“, sagt der alte Mann und knallt die Hände auf die Papiere, „aber ich suche noch immer einen Verlag.“

Vrtanesyan ist 1927 in Kabussieh, einem der sechs Dörfer am Musa Dagh, geboren. „Ich erinnere mich noch gut an das Leben auf dem Berg“ beginnt er seinen Bericht, „an die frische Luft, die Wälder, den Blick auf das Meer.“  Seine Eltern hatten sich 1915 dem Deportationsbefehl gebeugt, waren in die syrische Wüste getrieben worden, konnten aber aus dem berüchtigten Todeslager von Deir ez-Zor, wo Zehntausende völlig entkräftet an Durst und Hunger starben, dank der Hilfe eines türkischen Soldaten entkommen. Sie wurden in die unter britischer Kontrolle stehende ägyptische Hafenstadt Port Said gebracht, wo bereits die  von der französischen Marine geretteten 4.058 Armenier in einem Zeltlager lebten.

Im Sommer 1919 zogen die Dörfler auf den Berg zurück, der damals im von Frankreich besetzten Teil des Osmanischen Reiches lag. Sie reparierten ihre Häuser und die zerstörten Kirchen. Und auf dem Gipfel errichteten sie ein Denkmal, das an ihren heroischen Widerstand erinnern sollte. Doch 1939 traten die Franzosen das Gebiet an die Türkei ab, und die allermeisten Armenier flohen in den Norden Libanons, wo sie die Stadt Anjar gründeten, die noch heute fast ausschließlich von Armeniern bewohnt wird.

„Im Alter von zwölf Jahren kam ich also zusammen mit meiner Familie nach Anjar, das damals unter französischer Kontrolle stand“ setzt Vrtanesyan seinen Bericht fort, „mit fünfzehn Jahren fuhr ich allein nach Beirut und von dort ins britische kontrollierte Jerusalem, wo ich ins armenische Priesterseminar eintrat. Doch Priester werden wollte ich dann doch nicht, also machte ich mich 1947 nach Sowjetarmenien auf. Ich war 20 Jahre alt und Kommunist, Kommunist bin ich auch heute noch.“

Ein Großteil der Armenier des Osmanischen Reiches, die den Genozid überlebten, ließ sich in Armenien, der kleinsten Republik der Sowjetunion, mit 30.000 Quadratkilometern so groß wie Brandenburg, nieder. Schon unter der Herrschaft der Zaren hatte sich das christlich-orthodoxe Russland traditionell als Schutzmacht der christlichen Armenier im islamisch geprägten Osmanischen Reich verstanden. Viele ältere Armenier fühlen sich auch heute noch den Russen in besonderer Weise verbunden, haben ein geradezu sentimental begründetes Verhältnis zu ihnen. Die städtische gebildete Jugend hingegen sieht ihre Zukunft eher im Westen.

„Unsere Elite ist in einen prowestlichen und einen prorussischen Teil gespalten“, sagt Marina Grigoryan, die 56-jährige stellvertretende Chefredakteurin der russischsprachigen Zeitung „Golos Armenii“ (Stimme Armeniens), „Armenien möchte sich nicht entscheiden müssen. Es hat traditionelle Bande mit Russland, aber eben auch mit dem Westen, vor allem mit Frankreich und den USA, wo es große armenische Exilgemeinden gibt.“ Doch der armenische Präsident Sersch Sargsjan hat sich bereits entschieden. Im September 2013 verkündete er völlig überraschend, dass Armenien der Eurasischen Wirtschaftsunion beitreten werde. Es war eine Kehrtwendung um 180 Grad und der faktische Abschied von der Perspektive einer Assoziation mit der Europäischen Union. Danach nahm Russland die kurz zuvor verfügte Erhöhung des Gaspreises um 50 Prozent wieder zurück. Und so ist Armenien seit dem 1. Januar dieses Jahres Mitglied des Staatenverbunds, den der russische Präsident Wladimir Putin als Gegengewicht zur EU aufbauen will – zusammen mit Russland, Weißrussland, Kasachstan bildet es nun einen Binnenmarkt mit Zollunion, obwohl es mit keinem dieser Staaten eine gemeinsame Grenze hat.

„Es war die einzig realistische Wahl – leider“, sagt Grigoryan, „der russische Markt ist wichtiger als der westliche.“ Russland ist Armeniens größter Handelspartner, sowohl was Import wie Export betrifft. Zwei Millionen Armenier verdienen in Russland als Gastarbeiter, vor allem auf dem Bau und im Dienstleistungssektor, das Geld, mit dem sie ihre zurückgebliebenen Familien durchbringen. Bei Gjumri, der zweitgrößten Stadt Armeniens, sind auf der einzigen russischen Truppenbasis im Südkaukasus 5.000 Soldaten stationiert. In russischer Hand sind die beiden größten Mobilfunkanbieter sowie die Eisenbahn Armeniens. Russland liefert Öl und auch nuklearen Brennstoff für das einzige Atomkraftwerk des Landes, und vor allem Gas.

Und viele Armenier sehen in Russland weiterhin eine Schutzmacht. Die stellvertretende Chefredakteurin zeigt ein Youtube-Video über einen toten Mann mit deutlichen Schnittwunden. „Ein in Aserbaidschan zu Tode gefolterter Armenier“, behauptet sie, „wie sollen wir denen trauen?“ Mit Aserbaidschan liegt Armenien im Streit um Bergkarabach, eine armenisch besiedelte Region Aserbaidschans. Der Krieg, den die beiden Staaten 1992 bis 1994 gegeneinander geführt haben, kostete über 40.000 Menschenleben. Seither hält Aserbeidschan die Grenze geschlossen, und auch die Türken, die sich als Beschützer der sprachlich eng verwandten Aserbeidschaner verstehen, haben die Grenze dicht gemacht. Der Weg in den  Iran  führt über hohe Bergpässe. Dem armenischen Handel bleibt nur die Straße nach Georgien und von dort nach Russland. 

Beim Stichwort Türkei kurbelt Grigorjan die Jalousien ihres Bürofensters hoch und gibt mit theatralischem Gestus den Blick auf den Ararat frei. Majestätisch thront der weiße Berg über dem grauen Häusermeer Eriwans. Es ist der heilige Berg der Armenier, auf dem vor vielen tausend Jahren einst die Arche Noahs gestrandet ist. Es ist sozusagen der Hausberg Eriwans, dessen Bild tausendfach in den Stuben und Büros der Stadt hängt. Er ist das Nationalsymbol der Armenier. Ararat ist auch die Marke des besten armenischen Cognacs. Und in jeder armenischen Stadt gibt es ein Ararat-Restaurant, ein Ararat-Hotel oder eine Ararat-Straße. „Es ist unser Berg“, sagt Grigoryan. Bloß liegt der Berg, leider, auf türkischem Territorium.

Bis zum Genozid vor hundert Jahren lebte die Mehrheit der Armenier im Osten des Osmanischen Reiches, im Osten der heutigen Türkei, und nur eine Minderheit in den armenischen Provinzen des Russischen Reiches. Der Ararat steht für einen Traum und ein Trauma, für den Traum eines großen armenischen Reiches und das Trauma des Genozids. Der Traum wird nie wahr werden. Umso mehr bestehen die Armenier darauf, dass die Türkei wenigstens den Genozid anerkennt.

An vielen Geldautomaten Eriwans erscheinen die Worte „100 years of genocide“, sobald man die Pin eingetippt hat. „Recognize the genocide“ (erkenne den Genozid an), verkündet ein großes Spruchband über der Straße, die zum Völkermorddenkmal von Eriwan führt, wo am 24. April die große Gedenkfeier zum hundertsten Jahrestag des Völkermords stattfinden wird. Armenier beharrt darauf, dass die Türkei das G-Wort aussprechen muss, bevor die Beziehungen normalisiert werden können. Doch bisher hat sich noch kein türkischer Staats- oder Regierungschef den Schritt getan und den Genozid Genozid genannt. Allenfalls war von tragischen Ereignissen die Rede oder vom Leid, das den Armeniern zugefügt worden ist.

Am 11. Dezember des vergangenen Jahres aber hat ein 70-jähriger Türke in Eriwan öffentlich vom Genozid gesprochen. Im großen Saal des Lichtspielhauses „Moskau“ im Zentrum von Eriwan geißelte Hasan Cemal vor 500 Zuhörern den Völkermord an den Armeniern. „Er wurde ausgepfiffen“, sagt die Journalistin Marina Titizian, die das Gespräch mit ihm organisiert hatte und auch moderierte, „es war eine sehr aggressive, aufgeladene Atmosphäre.“ Die Pfiffe galten weniger dem Redner als seinem Großvater: Cemal Pascha. Der gehörte dem Triumvirat der Jungtürken an, das den Genozid an oberster Stelle zu verantworten hat. Er wurde 1922 von einem armenischen Geheimkommando in Tiflis, der Hauptstadt Georgiens, erschossen. Hasan Cemal, sein Enkel, hat 2012 ein Buch veröffentlicht, das den Titel „Der Genozid an den Armeniern“ trägt. Herausgegeben wurde es von der Hrant-Dink-Stiftung. Hrant Dink, ein in Istanbul lebender Armenier mit türkischer Staatsbürgerschaft, hatte sich an vorderster Stelle für eine türkisch-armenische Verständigung eingesetzt. Er wurde 2007 in Istanbul auf offener Straße erschossen.

Das Gespräch mit Hasan Cemal war Teil eines weltweiten Programms von Gesprächen zur türkisch-armenischen Verständigung, das den Titel „Climbing the mountain“ (den Berg erklimmen) trägt. Auch in Musaler, wo Nachfahren jener Armenier wohnen, die einst den Mosesberg erklommen haben, um den türkischen Soldaten Widerstand zu leisten, bereitet man sich auf den 24. April vor. Aghavi Vesinjan, seit 30 Jahren Leiterin der Franz-Werfel-Schule des Dorfs, will „Die vierzig Tage des Musa Dagh“ des österreichischen Schriftstellers als Theaterstück aufführen. Die Schüler üben schon fleißig. „Das größte Problem war“, sagt Vesinjan, „dass keiner die Rolle eines Türken spielen wollte, alle wollten die eines armenischen Helden spielen, am liebsten die eines Märtyrers.“

(erschienen am 20. April 2015 in der „Berliner Zeitung“)

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert