La Paz
Am Schluss hatten sich die Ereignisse überstürzt. Es blieb nicht einmal mehr Zeit, die Präsidentenmedaille und das Zepter aus dem Tresor der Zentralbank herbeizuschaffen, und so leistete der 50-jährige Carlos Mesa seinen Amtseid ohne die Insignien der Macht – abgesehen von der Präsidentenschärpe. So geschah es am vergangenen Freitag, 22.30 Uhr. Während der frühere Journalist vor dem bolivianischen Kongress in La Paz seine Antrittsrede hielt, bestieg Gonzalo Sánchez de Lozada alias „Goni“ in Santa Cruz, 900 Kilometer östlich der Hauptstadt, eine Maschine der Lloyd Aéreo Boliviano und verließ das Land in Richtung Miami.
Noch am Freitagmittag waren Zehntausende Bauern auf die Plaza San Francisco im Zentrum von La Paz geströmt. Später marschierten die Bergarbeiter von Oruro ein – brauner Helm auf dem Kopf, Wolldecke unter dem Arm und mit der ausgebeulten Wange derjenigen, die unablässig Coca kauen. Zwei Tage lang waren sie unterwegs gewesen. Nun zündeten sie Dynamitstangen. Höllenkrach erschütterte den Platz. Die Masse forderte den Rücktritt des Präsidenten. Eine heiße Nacht kündigte sich an. Die bange Frage lautete: Wird die Armee eingreifen? Das gäbe ein Blutbad. Ihr Abseitsstehen andererseits ließe Vandalen freie Hand. Doch dann: der Rücktritt. Die Stimmung änderte sich schlagartig. Vor der Kathedrale auf der Plaza San Francisco lagen Menschen einander in den Armen, ließen ihren Tränen freien Lauf, sangen und tanzten.
Am darauf folgenden Sonntag war der Zugang nach El Alto wieder offen. Die eine halbe Million Einwohner zählende Stadt oberhalb von La Paz, hier liegt auch der internationale Flughafen, ist von der Hauptstadt durch steile Abhänge getrennt und nur über wenige Straßen mit ihr verbunden. Wer La Paz verlassen will, muss über El Alto fahren, die anderen drei Ausfallstraßen führen in den Dschungel oder enden in den Bergen. La Paz bietet sich also geradezu an für eine Belagerung. Die ist nun wieder vorbei.
El Alto mit seinen zahlreichen vom Land zugewanderten Aymara, einem Indianervolk, war die Hochburg des Aufstands. Nun zelebriert – unter den Trümmern einer Fußgängerbrücke – ein Priester vor einem improvisierten Altar die Messe für „die Märtyrer des Gases“, wie er sagt. Gas war ein wichtiges Thema: Die Aufständischen hatten verlangt, das bolivianische Erdgas für die Versorgung der Bevölkerung zu verwenden, anstatt es in die Vereinigten Staaten zu exportieren. An der Shell-Tankstelle, hundert Meter weiter, liegt ein Blumenkranz für den „Helden des Gases, den Soldaten, der gemeutert hat und füsiliert wurde“.
Begonnen hatte alles mit einem Viehdiebstahl. Im Hochland um den Titicacasee, etwa hundert Kilometer von La Paz entfernt, hatte eine Dorfgemeinschaft von Aymara-Bauern zwei Männer, die sie beschuldigte, Tiere gestohlen zu haben, nach überkommener Gewohnheit gefoltert und getötet. Als die Regierung davon erfuhr, ließ sie den Bauernführer Edwin Huampo, dem sie die Selbstjustiz zur Last legte, festnehmen. Anfang September marschierten Aymara nach La Paz, um seine Freilassung zu fordern. Vergeblich.
Kurz danach kam es in mehreren Städten zu Demonstrationen, aber aus anderem Anlass: Sie richteten sich gegen die Erdgas-Politik der Regierung. Die Protestbewegung wurde von Evo Morales angeführt, einem Quechua-Indianer, der als Anführer der Coca-Bauern bei den Wahlen im vergangenen Jahr nur anderthalb Prozent weniger Stimmen als Goni erhalten hatte. Die Aymara machten sich nun die Forderungen der Demonstranten zu eigen und errichteten im Hochland Straßenblockaden. Innerhalb weniger Stunden saßen 400 Touristen – unter ihnen etwa 70 Ausländer – unweit des Titicacasees fest. Die Militärs holten sie heraus. Auf dem Weg nach La Paz wurden die Soldaten von einem Steinhagel empfangen. Sie schossen. Fünf Aymara starben.
Ende September rief der nationale Gewerkschaftsverband wegen der Erdgas-Politik einen landesweiten, unbefristeten Streik aus. Am 8.Oktober errichteten die Streikenden in El Alto die Barrikaden und schnitten La Paz von der Versorgung mit Lebensmitteln, Benzin und Diesel ab. Am 12.Oktober fuhr die Armee mit Panzern auf und erschoss 26 Menschen, weitere 28 starben am Tag danach. Allein in El Alto gab es 54 Tote in zwei Tagen. Nun wurde der Protest zum Aufstand.
Da erst gab Goni nach. Er versprach eine Volksabstimmung über die Erdgas-Politik (allerdings nur mit konsultativem Charakter), eine Reform des Energiegesetzes und die Bildung einer verfassunggebenden Versammlung. Doch es war zu spät. Carlos Mesa, der parteilose Vizepräsident, kündigte seinem Chef die Zusammenarbeit und begründete dies mit den Worten: „Die Fähigkeit zu töten geht mir ab.“ Die Neue Republikanische Kraft (NFR), neben der rechtsliberalen Nationalrevolutionären Bewegung (MNR) des Präsidenten zweitstärkste Partei der Regierungskoalition, zog ihre Minister zurück. Nun forderten die Demonstranten nur noch eines: den Rücktritt des Präsidenten, des „Mörders“, des „Gringo“. Der 73-jährige Gonzalo Sánchez de Lozada, der in den USA aufgewachsen ist und starken amerikanischen Akzent spricht, war vor allem bei der linken Opposition und den Gewerkschaften verhasst. Er stand für die umstandslose Durchsetzung einer Strukturanpassungspolitik, wie sie von der internationalen Finanzwelt gefordert wird. Zwar gab es für seine Erdgas-Politik durchaus gute Gründe – das Land braucht Geld. Aber der notorisch arrogante Expräsident, mit einem Vermögen von schätzungsweise 200 Millionen Dollar einer der reichsten Männer Boliviens, hat es nie für nötig befunden, einer gesellschaftlichen Opposition, die im Internationalen Währungsfond nur die Ausgeburt des ewigen imperialistischen Feindes sieht, seine Politik zu erklären. Evo Morales, Chef der parlamentarischen Opposition und Führer der Gewerkschaft der Coca-Pflanzer, hatte da leichtes Spiel: Für die spanischen Kolonialherrren haben die Quechua und Aymara in den Silberminen geschuftet. Für die bolivianischen Zinnbarone haben sie ihre Gesundheit ruiniert. Den Gewinn der Kokain-Produktion haben andere eingestrichen. Spricht nicht alles dafür, dass sie beim Verkauf des Erdgases – Bolivien hat nach Venezuela die zweitgrößten Reserven des Kontinents – wieder einmal leer ausgehen würden?
Die Indios machen etwa zwei Drittel der Bevölkerung Boliviens aus. Auf dem Land leben sie in geschlossenen Dorfgemeinschaften, in aller Regel unter erbärmlichen Bedingungen. Jetzt haben sie sich wieder erhoben: Etwas muss sich ändern. Eine verfassunggebende Versammlung soll eine neue Konstitution ausarbeiten, die mit partizipativer Demokratie die indianische Gesellschaft integriert. Man spricht von einer „gesellschaftlichen Demokratisierung“: große Worte.
„Das Hauptproblem“, gibt Ricardo Calla zu, „besteht darin, zwei Gesellschaften, die nach verschiedenen Prinzipien funktionieren, in einem gemeinsamen Staat zusammenzufassen.“ Der Präsident der Universidad de la Cordillera ist Anthropologe und Soziologe. Er wohnt in einer Dorfgemeinschaft auf dem Land. „Als in meiner Gegend vor drei Jahren die Straßen blockiert wurden, musste jeder mitmachen“, erinnert er sich, „wer sich weigerte, dem wurde für ein Jahr die Elektrizität abgestellt.“ In El Alto konnte man sich von der kollektiven Pflicht freistellen, in dem man einen Sack Zement spendierte. Solchen sozialen Druck findet Calla keineswegs verwerflich. Die indianische Gesellschaft fordere von ihren Mitgliedern die Erfüllung von Pflichten, argumentiert er, genauso wie die weiße auch, deren Staat von jedem Bürger verlange, seinen Militärdienst abzuleisten. Viele indianische Dorfgemeinschaften beraten vor Wahlen tagelang, bevor dann all ihre Mitglieder dieselbe Partei wählen. Kann eine Gesellschaft, für die das Kollektiv Vorrang hat, ihre Angelegenheiten in einem Staat, der den individuellen Bürger als Hauptperson begreift, angemessen regeln?
Felipe Quispe bestreitet das. Der 63-Jährige ist unbestrittener Führer der Aymara. Er leitet nicht nur den nationalen Bauernverband, sondern ist auch Präsident des Movimiento Indígeno Pachakuti (MIP), als dessen Abgeordneter er im bolivianischen Parlament sitzt. In den neunziger Jahren war er Führer des Ejército guerrillero Túpac Katari. Die bewaffnete Truppe sprengte Hochspannungsmasten, beschädigte Gasleitungen und zerstörte Tankstellen und Telefonzentralen. Neun Jahre hat Quispe im Gefängnis gesessen.
Wird er – wie Evo Morales – dem neuen Präsidenten, der schon zwei Tage nach seinem Amtsantritt ein Kabinett von parteiunabhängigen Ministern eingesetzt hat, eine Chance einräumen? Immerhin hat Carlos Mesa eine bindende Volksabstimmung über die Erdgas-Politik zugesagt. „Wir werden ihn an den Taten messen“, brummt Quispe, „unser Ziel ist das Collasuyo.“ Er fordert die Wiederherstellung der Provinz des Inka-Reiches, in der die Aymara siedelten. Das Collasuyo umfasste Teile des bolivianischen und peruanischen Hochlandes. Quispe will einen Aymara-Staat. Und natürlich gehört La Paz dazu. Und die Weißen? „Die werden bessere Minderheitenrechte haben als wir Aymara heute im bolivianischen Staat. Wir sind keine Rassisten, wie unsere Feinde uns unterstellen, wir sind bloß für die Separation, für die Trennung der Gesellschaften.“
Und was soll nun mit den Straßensperren geschehen? „Wir beharren auf unseren 72 Punkten“, sagt der Aymara-Führer, einen taktischen Rückzug und den Abbau der Barrikaden will er nicht ausschließen. Zu den Forderungen gehören die Einhaltung von Menschenrechten, die Übergabe von 3,8 Millionen Hektar Land, der Bau von Straßen, Krankenhäusern und einer indianischen Universität und die Lieferung von 1000 Traktoren. Außerdem verlangt Quispe, dass die Privatisierung staatlicher Unternehmen und die Eliminierung von Coca-Sträuchern gestoppt wird.
Auf der Plaza Francisco zeigt sich der Bauernführer am Montagabend konzilianter. Etwa 3000 Aymara sind zusammengekommen. Auf dem Podest stehen der Präsident und der Exguerillero. Carlos Mesa bittet die Bauern, ihm Zeit zu lassen. Quispe gibt ihm 90 Tage.
Thomas Schmid – DIE ZEIT 23.10.2003 Nr.44