Eine Stadt im Wartestand. Sanski Most döst vor sich hin. Sommerliche Hitze. Der Verkehr fließt spärlich. Nirgends Geschäftigkeit. Nur in den Straßencafés ist wie immer jeder Tisch besetzt. Damir sitzt den Tag in einem Restaurant an der Sana-Brücke ab. Er bestellt den dritten türkischen Kaffee. Sein Deutsch ist gut genug, um falsche Grammatik genau an der richtigen Stelle einzusetzen. „Ich wurde freiwillig zurückgekehrt“, sagt er.
Zweimal ist die Front über diese Stadt hinweggerollt. Nach Ausbruch des Krieges, in dem 1992 serbische Verbände 30000 Muslime und Kroaten aus Sanski Most verjagten und drei Jahre später die bosnische Armee 28000 Serben vertrieb, nach Ausbruch dieses Krieges war Damir geflohen und in Heidenheim auf der Schwäbischen Alb untergekommen. Im Juni kehrte der 24jährige Mechaniker zurück. Freiwillig, sofern man von freiem Willen sprechen kann bei einem Menschen, dem ab 1. Juli die Abschiebung gedroht hätte. Tausend Mark Rückkehrhilfe hatte er auf diese Weise noch mitnehmen können.

Damir lebt deshalb bei einer Tante, die in die Wohnung eines geflüchteten Serben eingezogen ist. In ein paar Tagen soll eine weitere Tante mit ihren drei Kindern einziehen. Auch sie kommt aus Deutschland zurück; auch sie stammt aus Kozarac – ebenso wie die beiden Freunde, mit denen Damir die Tage im Café vorüberziehen läßt. Kaum aus dem berüchtigten Gefangenenlager Omarska entlassen, waren sie nach Deutschland geflüchtet. Mit der freiwilligen Rückkehr ließen sie es, fanden die deutschen Behörden, langsam angehen, zu langsam. Beide wurden abgeschoben, was die Wiedereinreise nach Deutschland auf fünf Jahre unmöglich macht und ihnen an den Cafétischen von Sanski Most den Ruf einträgt, nicht gerade zu den Gewieftesten zu zählen. Überhaupt stünden sie als Flüchtlinge „ganz unten“, sagt der eine, der seinen Namen nicht nennen will. Denn wer geflohen war, hat sich in den Augen der Heimatverbliebenen gedrückt. Im Ausland ist er womöglich noch reich geworden.
Damir freut sich, bald zur Armee zu dürfen. Dort verdient er dreißig Mark Sold im Monat. Seine beiden Freunde haben keine Arbeit und werden in absehbarer Zeit keine finden. Also sitzen sie im Café und beobachten, wie Sanski Most zu einem riesigen Wartesaal wird.
„Alle Flüchtlinge und Vertriebenen haben das Recht, frei in ihre früheren Häuser und Wohnungen zurückzukehren“, heißt es im Friedensabkommen von Dayton. In dieser Formulierung spiegelt sich der Wille der Vertragspartner, „ethnische Säuberungen“ nicht hinzunehmen. In Sanski Most warten die Menschen darauf, daß diese Klausel des Vertrages Wirklichkeit wird. Tausende Muslime haben sich bereits für die Rückkehr in ihre angestammten Dörfer und Städte ein paar Kilometer weiter registrieren lassen. Doch hinter der Demarkationslinie, in der Republika Srpska, gibt es bis heute keine Bereitschaft, Muslime oder Kroaten wieder in die serbische Enklave hineinzulassen. Deshalb häufen sich die Warnungen internationaler Organisationen, zur Unzeit die Rückkehr der Flüchtlinge nach Bosnien zu forcieren und damit die Umsetzung des Vertrages von Dayton zu erschweren. Diese Kritik zielt besonders auf die Bundesrepublik Deutschland, jenes Land, das nach Kriegsbeginn mehr bosnische Flüchtlinge aufgenommen hat als alle anderen EU-Länder zusammen: Insgesamt 350000 Menschen fanden Aufnahme. 160000 leben noch in Deutschland – die meisten, 130000, sind Muslime und Kroaten aus der Republika Srpska. Je schneller sie zur Rückkehr gezwungen werden, ohne zurück in ihre Heimatorte zu dürfen, desto größer die Gefahr, daß sie in den Gebieten der bosnjakisch-kroatischen Föderation bleiben müssen. Nach der Definition des Völkerrechts sind sie nun nicht mehr Flüchtlinge, sondern displaced persons, Vertriebene, die innerhalb der Landesgrenzen Zuflucht gefunden haben – in diesem Fall im ethnisch homogenen Sanski Most, dessen Bewohner heute zu 99 Prozent Muslime sind, zwei Drittel Vertriebene. Allein aus Deutschland sind bereits 15000 Bosnier in der Stadt gestrandet, was nicht zuletzt dem Rufen und Locken des Bürgermeisters zuzuschreiben ist.
Mehmed Alagic, der Sanski Most als Kommandant des 7. Armeekorps für die bosnische Regierung zurückeroberte und dessen Schreibtisch zwei Handgranaten zieren, hat muslimische Flüchtlinge immer wieder aufgefordert, sich in Sanski Most niederzulassen. Leerstehende Wohnungen von Serben hat er ihnen versprochen. In deutschen Amtsstuben vernimmt man das Werben mit Wohlwollen. Die Versorgung der bosnischen Bürgerkriegsflüchtlinge ist längst nicht mehr humanitäre Aufgabe, sondern Last. Die Kassen der Kommunen und Länder sind leer, da überhört man leicht die kritischen Stimmen in Bosnien. Dort wird Alagic nämlich vorgeworfen, mit den Flüchtlingen ein ethnisches Kalkül zu verfolgen; der Bürgermeister wolle Umsiedlung statt Rücksiedlung fördern und Sanski Most damit zur muslimischen Frontstadt machen.
„Die bevorzugte Lösung ist ganz klar die freiwillige Rückkehr in die Vorkriegshäuser. Das ist das Herz der Anlage 7“ des Dayton-Abkommens, schreibt das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in einem Strategiepapier vom 9.Juni. Wenn in den Häusern aber andere Flüchtlinge oder Vertriebene lebten, „müssen die Behörden gesetzliche Räumungen erzwingen und den gegenwärtigen Bewohnern der Häuser von Rückkehrern alternative Wohnmöglichkeiten, beispielsweise vorübergehende Unterkunft oder Gastfamilien“, besorgen. Umsiedlung an neue Wohnorte sieht das Abkommen von Dayton nur als letztes Mittel vor – und auch nur dann, wenn die Eigentumsrechte anderer Menschen respektiert werden, die Umsiedlung freiwillig ist und der Umsiedler seine Entscheidung auf Basis einer umfassenden Informationslage treffen kann.
Dietmar Schlee, der Flüchtlingsbeauftragte der Bundesregierung, weist diese Kritik zurück. Deutschland, das seit Kriegsbeginn neunzehn Milliarden Mark für die Flüchtlinge ausgegeben habe, brauche keinen Nachhilfeunterricht. „Wir führen zügig zurück“, sagt er, „und solange die Flüchtlinge zügig zurückgehen, spielt ja auch die Abschiebung keine entscheidende Rolle.“ Deutschland hat tatsächlich gezögert, massenhaft abzuschieben: 927 Menschen im vergangenen Jahr, 1056 in der ersten Hälfte 1998, das ist noch nicht einmal ein Prozent aller Bosnien-Flüchtlinge.
Doch nun wächst der Druck. Zehntausende, deren Duldung oder Aufenthaltserlaubnis ausgelaufen ist, haben von den Behörden die Warnung erhalten, sie müßten mit einer Abschiebung rechnen, wenn sie nicht freiwillig zurückkehrten. Berlin hat vor wenigen Wochen 74 Flüchtlinge innerhalb von zwei Tagen abgeschoben, etwa so viele wie im gesamten vergangenen Jahr. Viele wurden im Morgengrauen aus den polizeilich umstellten Flüchtlingsheimen geholt. Angesichts der Umstände wettert Hans Koschnick, der frühere EU-Administrator von Mostar: „Wenn man über Nacht einbricht wie zu Gestapo-Zeiten, kann man sich nicht hinter dem Argument verstecken, man wolle die Bosnier zur freiwilligen Rückkehr bewegen.“ Koschnick fordert, noch wenigstens ein „halbes Jahr oder neun Monate zu warten“. Vor der erzwungenen Rückkehr zum gegenwärtigen Zeitpunkt warnt auch das UNHCR – allerdings ohne die Adressaten der Kritik zu benennen: „Eine nichtfreiwillige Repatriierung in Gegenden, wo bereits viele Vertriebene leben, verschärft den Druck auf die begrenzte Anzahl der Wohnmöglichkeiten, verhindert die Rückkehr von Minderheiten, weil die Umsiedler oft ihre Häuser besetzen, erhöht die Anzahl der Vertriebenen, kompliziert somit die Suche nach dauerhaften Lösungen und sät die Samen künftiger Instabilität.“ Damir, der junge Mechaniker, drückt es einfacher aus. „Hier geht bald die Post ab“, prophezeit er in Erwartung weiterer Flüchtlinge, die im August von Deutschland nach Sanski Most kommen sollen und dort auf die Rückkehr in ihre Heimatdörfer in der Republika Srpska warten müssen. Dayton ist für sie ein Versprechen. Real ist einstweilen nur die soziale Lage in der Stadt. Die Arbeitslosenrate in Sanski Most beträgt neunzig Prozent, sagt der Bürgermeister. Oft teilten sich fünf Familien eine Wohnung.
Von Sanski Most ist es eine halbe Autostunde nach Kozarac, jenem Ort, aus dem Damir, seine Tanten und seine beiden Freunde stammen. Am Straßenrand bieten junge Frauen Musikkassetten und CDs an, Raubkopien aus Bulgarien. Dieser Schwarzhandel ist vorerst das einzige Indiz dafür, daß man die Grenze zur Republika Srpska überquert hat. Dann taucht Kozarac auf, kein Dorf mehr, sondern eine Ruinenlandschaft. Unkraut überwuchert die Reste von Hausmauern. Ein Krieg hat hier nie stattgefunden. Es waren die Serben, die sämtliche Häuser vertriebener Muslime sprengten. Das Dorf, früher mehrheitlich von Muslimen bewohnt, ist heute fast ausgestorben. Nur in der Schule am Ortseingang sind etwa 150 Flüchtlinge untergekommen, vorwiegend Serben aus Sanski Most. Keiner will reden.
Für Gespräche mit Journalisten sei der Direktor der Unterkunft zuständig, heißt es im Empfangsbüro, in dem zwischen Photos nackter Pin-up-Girls ein großes Plakat hängt. Es zeigt Vojislav Secelj, den serbischen Kriegshelden, dessen paramilitärische Tschetnik-Verbände die „ethnische Säuberung“ Ostbosniens vorantrieben. Heute ist Secelj Vizepremierminister Serbiens.
Das Büro des Direktors befindet sich im ersten Stock. Predrag Brankovic ist Angestellter des Flüchtlingsministeriums der Republika Srpska und seit 1995 in Kozarac. Was er vorher gemacht hat, will er nicht verraten. „Im Prinzip können die Muslime zurückkehren. Aber es wird dann zugehen wie in Drvar.“ Das ist eine Drohung. In Drvar, das bosnische Kroaten kontrollieren, wurden im April 180 Serben bei ihrem Versuch, zurückzukehren, aus dem Ort gejagt. „Serben und Muslime können nun mal nicht zusammenleben“, meint Brankovic und gibt zu verstehen, daß er das Gespräch zu beenden wünscht.
Tatsächlich gibt es kaum eine Region, in der Brankovic‘ Wunschvorstellung von ethnisch homogenen Reservaten brutaler verfolgt worden ist als in dieser Gegend: Hier befanden sich die berüchtigsten Gefangenenlager Omarska, Trnopolje und Keraterm. Hier wurden 1992 Tausende gefangengehalten, gefoltert, ermordet. Hunderttausende wurden vertrieben. Können die Menschen nach all dem Terror wieder zusammenleben? Wollen sie es überhaupt? Die internationale Kommission für Haus- und Grundbesitzansprüche von Vertriebenen und Flüchtlingen (CRPC) hat die Betroffenen selbst befragt. Sie konnten mit „Ja“, „Vielleicht“ oder „Nein“ antworten. Das Ergebnis: 80 Prozent der Muslime, 62 Prozent der Kroaten und 23 Prozent der Serben wollen in ihre Häuser und Wohnungen zurück. Mit „Vielleicht“ antworteten weitere 13 Prozent der Muslime, 22 Prozent der Kroaten und 23 Prozent der Serben – und man darf annehmen, daß die Befragten ihre Rückkehr von der Entwicklung der Situation abhängig machen. Als „wichtig“ für ihre Entscheidung nannten 93 Prozent „Vertrauen in die lokalen Behörden“. Nur 44 Prozent legen Wert darauf, daß ihre Nachbarn derselben Ethnie angehören. Selbst einem Hardliner wie Predrag Brankovic dürfte nicht verborgen geblieben sein, daß sich auch Serben inzwischen zu einer „Vereinigung der Rückkehrwilligen“ zusammengeschlossen haben. Ihre Mitglieder warten darauf, zurück nach Sanski Most ziehen zu können. 12000 Menschen haben sich nach Angaben der Vereinigung bereits registrieren lassen.
Es geht nicht darum, Menschen zu nötigen, in ihre Heimatorte zurückzukehren. Viele haben sich längst anderswo eine Existenz aufgebaut. Wieder andere meiden ihre alten Dörfer und Städte, weil sie an Verbrechen beteiligt waren. Die Frage ist vielmehr, ob sich die Unterzeichner des Abkommens von Dayton des Vertragstextes noch entsinnen; ob der politische Wille vorhanden ist, jenen zu ihrem verbrieften Recht zu verhelfen, die als ethnische Minderheit in ihre Häuser und Wohnungen zurückkehren wollen. Als Mitglied der Kontaktgruppe hat auch Deutschland das Abkommen unterzeichnet.
„Die Rückkehr von Flüchtlingen der muslimischen und kroatischen Minderheit in die Republika Srpska ist längst im Gang“, sagt Dietmar Schlee in seinem Büro im vierzehnten Stockwerk jenes Turmhauses, das – im Krieg halb ausgebrannt – zum traurigen Wahrzeichen Sarajevos wurde. Der Beauftragte der Bundesregierung für „Flüchtlingsrückkehr und rückkehrbegleitenden Wiederaufbau“ fliegt fast wöchentlich von Bonn nach Sarajevo. Er müßte die Lage vor Ort eigentlich besser kennen. Doch das Drängen der zuständigen Ministerien, die Flüchtlinge möglichst schnell loswerden wollen, verrückt offenbar die Optik. Im selben Gebäude, neun Stockwerke tiefer, gibt das UNHCR eine monatliche Statistik heraus, deren Zahlen eine andere Realität abbilden: Genau 269 Personen wurden registriert, die in den ersten vier Monaten des Jahres 1998 als Minderheitenflüchtlinge in die Republika Srpska zurückgekehrt sind. Sieht man von den Rückkehrern in den vier Kilometer breiten international kontrollierten Grenzstreifen zwischen der bosnisch-kroatischen Föderation und der Republika Srpska ab, dann ist die Zahl kleiner als die Vergleichszahl für den gleichen Zeitraum des Vorjahres. Der Trend hat sich seither nicht geändert.
Dabei hat sich die Situation in der Republika Srpska zweifellos verbessert. Die Extremisten von der SDS, der Partei des Kriegsverbrechers Radovan Karad*ic, sind aus dem Machtzentrum verdrängt. Nur in vielen Kommunen haben sie noch das Sagen. Der neue Premierminister Milorad Dodik, Chef der kleinen Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei, ist ein Pragmatiker. Mehrmals hat er öffentlich die Umsetzung des Dayton-Abkommens versprochen. Er sagte zu, daß noch in diesem Jahr 70000 Nichtserben in die Republika Srpska zurücksiedeln könnten. Doch stützt sich seine Regierung auch auf die Stimmen der nationalistischen Abgeordneten aus der Partei der Präsidentin Biljana Plavcic, die vor zwei Jahren noch eine glühende Verehrerin von Karad*ic war.
In der Föderation, wo 450000 Vertriebene leben, traten hingegen im April Gesetze in Kraft, die eine Rückgabe von Privateigentum ermöglichen. Alle Enteignungsgesetze, die während des Kriegs erlassen wurden, sind nun null und nichtig. Bereits mehr als 100000 Gesuche zur Feststellung des Vorkriegseigentums hat die internationale Kommission für Haus- und Grundbesitzansprüche von Vertriebenen und Flüchtlingen (CRPC) entgegengenommen. Nach dem neuen Gesetz müssen die Bürger bis zum 4. Oktober bei ihrer Vorkriegsgemeinde beantragen, ihre Wohnungen und Häuser zurückzuerhalten. Innerhalb von 45 Tagen muß die Gemeinde eine Entscheidung treffen. Versäumt sie es, entscheidet die CRPC, die auf der Grundlage des Dayton-Abkommens gebildet wurde. Kommt sie dem Gesuch nach, muß die Gemeinde innerhalb von neunzig Tagen dafür sorgen, daß die Wohnung leer ist und vom alten Eigentümer bezogen werden kann. Trotz des regen Andrangs herrscht bei der CRPC Skepsis. Viele der Vertriebenen trauen sich nicht in ihre alten Gemeinden; die Post funktioniert schlecht, manches Gesuch kommt einfach nicht an, oder dem Antragsteller wird die Antwort nicht zugestellt.
Der Ort Stolac ist fest in Händen von Kroaten. Die Stadt liegt in der Herzegowina, fünfzig Kilometer südöstlich von Mostar, umstellt von kahlen Bergen. Schon die weiß-rote Schachbrettflagge am Rathaus weist darauf hin, wer hier das Sagen hat. Noch findet man überall die Insignien der Republik Herceg-Bosna, jener kroatischen Teilrepublik, die, formell schon mehrfach aufgelöst, noch immer Steuern einzieht. Und selbstverständlich bezahlt man in Kuna, der Währung aus Zagreb. Wer nach Sarajevo telephonieren will, wählt 0038771. Das ist ein Auslandsgespräch im Inland, weil Stolac ans kroatische Netz angeschlossen ist. Mit Zagreb, das im Ausland liegt, telephoniert man hingegen zum Inlandstarif.
Auch Stolac wurde im Krieg zweimal erobert, zuerst von den Serben, dann von den Kroaten. Die größte Volksgruppe in der Stadt stellten vor dem Krieg die Muslime. Anfangs hatten die noch zusammen mit den Kroaten gegen die Serben gekämpft, dann aber richteten die Kroaten ihre Gewehre auf die Waffenbrüder. „Die Serben waren unsere Feinde“, sagt Haris, ein ehemaliger Soldat, „die Kroaten hingegen Verräter.“ Für den Feind kann man notfalls Respekt aufbringen, für den Verräter nicht. Vor zwei Monaten ist der Muslim nach Stolac zu den Verrätern zurückgekehrt. „Zusammenleben kann ich mit ihnen“, sagt er, „aber vertrauen kann ich ihnen nicht mehr.“ Ein Jahr lang hat Haris in der HVO, der Armee der bosnischen Kroaten, gekämpft, hat mit Kroaten in Schützengräben gelegen, bis er sich eines Tages – weshalb, weiß er bis heute nicht – in einem kroatischen Gefangenenlager bei Capljina wiederfand. Er redet nicht über das, was ihm dort wiederfahren ist. Das sei – inschallah! – Vergangenheit. Sein zweites Leben in Stolac wäre wohl nicht auszuhalten, gäbe es nicht Mirko, seinen Freund, mit dem er vor zwanzig Jahren die Schulbank gedrückt hat. „Ein guter Kroate“, versichert Haris. Nun hilft Mirko dem guten Bosnjaken Haris, das Haus wieder herzurichten. Ein neues Ehebett aus Eichenholz hat er, der gelernte Tischler, gezimmert und ans Fußende unauffällig die Worte „Von Deinem Freund Mirko“ eingraviert. Davor liegt ein Teppich, den Haris‘ alter Friseur vorbeigebracht hat. Ansonsten herrscht gespenstische Leere. Der Kühlschrank, der Fernseher, der Wandteppich mit der Kaba von Mekka, alles wurde geplündert. Fünf Jahre lang ist Haris mit seiner Frau und den drei Kindern bei Verwandten in Sarajevo untergekommen. Noch ist seine Familie in der Hauptstadt, doch sobald sich die Lage hier beruhigt, will sie nachkommen.
Von Ruhe kann in Stolac allerdings noch keine Rede sein. 35 Häuser sind im Frühling abgebrannt, als die ersten Bosnjaken zurückkamen, das letzte zündeten Kroaten Anfang Juni an. Trotzdem sind inzwischen 900 Flüchtlinge, deren Häuser leer standen, zurückgekehrt. Doch noch hat kein zugezogener Kroate das Haus eines muslimischen Heimkehrers geräumt. Vor ein paar Wochen fand man einen muslimischen Lehrer, der nach seinem Haus sehen wollte, bewußtlos und schwer verletzt auf der Straße.
In Orten wie Stolac wird sich entscheiden, ob ethnische Minderheiten in Bosnien wieder eine Heimat finden werden oder ob die internationale Gemeinschaft die „ethnische Säuberung“ am Ende doch noch akzeptiert. Zwei Jahre lang haben die Garantiemächte des Daytoner Abkommens nicht viel getan, und die Nationalisten aller Ethnien haben das Wenige blockiert. Jetzt aber brechen die nationalistischen Blöcke auf. Jetzt besteht die Chance, Dayton durchzusetzen – ganz im Sinne der Menschen. Denn trotz aller Verbrechen, die im Namen der „ethnischen Säuberung“ verübt worden sind, trotz aller sichtbaren und unsichtbaren Gräben, will die Mehrheit der Flüchtlinge wieder genau dorthin zurück, von wo sie vertrieben wurde: im wörtlichen Sinne nach Hause.

Thomas Schmid – © DIE ZEIT 1998