Schon über eine Stunde sitzt Salih Jasarevic hinter seinem Bier, und noch immer ist das Glas nicht leer. Und es ist doch nur ein kleines. In drei Tagen wird er in seine Heimat zurückfahren. Täglich nimmt er nun ein bißchen Abschied von Deutschland. Fünf Jahre schließlich hat er hier gelebt, im sächsischen Kamenz. Nein, schlecht habe man ihn nicht behandelt, sagt der 32jährige, dessen Haar schon vollständig ergraut ist, aber täglich ein Eßpaket und monatlich 80 DM Taschengeld dazu, das geht eben schon an die Würde. Gearbeitet hätte er gerne, aber er durfte nicht. Und so fiel er dem Staat zur Last, wo er doch gewohnt war, seine fünfköpfige Familie mit eigener Hände Arbeit durchzubringen. Nächste Woche wird Jasarevic zu den hunderttausend Bosniern gehören, die, um mit Dietmar Schlee, dem Beauftragten der Bundesregierung für die Flüchtlingsrückkehr, zu sprechen, „aus freien Stücken“ in ihre Heimat abgereist sind. Aber anders als die meisten von ihnen wird er dort eine gut bezahlte Arbeit haben. Jasarevic wird ein Zertifikat besitzen, das ihn als „Munitionsräumfacharbeiter“ ausweist. Morgen hat er Examen.
Der Krieg in Bosnien ist längst vorbei, doch die Waffen schweigen noch lange nicht. Täglich explodieren Blindgänger und Minen. An die hundert Unglücksfälle werden monatlich registriert, in den meisten Fällen gibt es Tote. Zwei bis drei Millionen Minen liegen im ganzen Land verstreut. Nur etwa ein Drittel von ihnen ist wenigstens grob geortet. Fruchtbares Ackerland liegt brach, weil jeder Schritt zu viel tödlich sein kann; Häuser werden nicht instandgesetzt, weil Sprengfallen lauern. Salih Jasarevic wird also Minen räumen. „Es ist nicht mein Traumjob“, sagt der frühere Lastwagenchauffeur, „aber mein Visum läuft Ende März aus, und bald werden hunderttausend weitere Bosnier zurückkommen, freiwillig oder abgeschoben, und alle werden Arbeit suchen.“ Wer freiwillig geht, darf wenigstens besuchsweise wieder nach Deutschland zurück. Macht ihm denn die gefährliche Arbeit keine Angst? Immerhin hat er Frau und drei Kinder. „Mehr Angst als vor den Minen“, sagt Jasarevic, „habe ich vor dem Hunger.“
„Das Räumen von Blindgängern und Minen“, behauptet Dietmar Höhne, „ist ein normaler Beruf wie jeder andere auch. Man muß viel lernen. Man muß wissen, was man anfassen darf und wie man es anfassen muß. Ein Restrisiko bleibt immer, aber das gibt es ja auch auf der Autobahn.“ Die allermeisten Unfälle seien der Mißachtung von Sicherheitsbestimmungen geschuldet.“ Höhne ist Dozent für Kampfmittelbeseitigung an der Sprengschule Dresden. Der frühere Oberstleutnant der Nationalen Volksarmee der DDR, Absolvent der sowjetischen Militärakademie zu Moskau, hat in Angola und Sarajevo tausende Minen und Blindgänger entschärft. Sein rechter Zeigefinger ist verkrüppelt – „nicht von einer Mine, sondern wegen eines Motorradunfalls“, wie er sich beeilt, klarzustellen. Und dann macht er eine gespenstische Rechnung auf: 110 Millionen Minen liegen weltweit verstreut, etwa hunderttausend werden jährlich entschärft. Wenn dieses Tempo beibehalten wird, dauert es also 1.100 Jahre bis der Globus clean ist – vorausgesetzt, es werden keine neuen Minen gelegt. „Auf jede Mine aber, die entschärft wird“, weiß Höhne, „kommen 25, die neu gelegt werden“. Da hat es selbst Sisyphus leichter gehabt. Sein Stein fiel nur bis an den Ursprungsort zurück.
Die fünf Bosnier, unter ihnen eine Frau, die bei Höhne in die Schule gehen, sind die Vorhut von 200 Kriegsflüchtlingen, die die Sprengschule Dresden zu Munitionsräumarbeitern ausbilden will. Träger des von der Europäischen Union finanzierten Projekts ist das sächsische Innenministerium. Die Bosnier absolvieren einen zweiwöchigen Kurs, den die Sprengschule sonst vor allem gewerblichen Betrieben anbietet. Vornehmlich Baufirmen sind mit dem Problem von Blindgängern konfrontiert. Jährlich werden in Deutschland weit über tausend liegengebliebene Bomben und Granaten aus dem Zweiten Weltkrieg entdeckt. Neben Kampfmittelbeseitigung bietet die Sprengschule Dresden Kurse über Sprengtechnik, Beförderung explosionsgefährlicher Stoffe, Sprengarbeiten unter Tage und Sprengungen in heißen Massen an, aber auch Kurse in Pyrotechnik. „Jüngst hielt sogar ein Gastdozent aus Hollywood einen Vortrag“, sagt Geschäftsführer Reithe, „die Schüler kamen von Firmen, die ‘special effects’ für Filmteams anbieten.“ Auch der Bühnentechniker, der in der Semper-Oper ein Feuerwerk zündet oder die Nebelmaschine anwirft, ging hier eine Woche lang zur Schule. „Man muß ja wissen, wie man das Zeug bedient, damit es nicht ins Publikum losgeht.“
Seit 1969 leitet Reithe die Sprengschule, die in einem Taleinschnitt am Rande Dresdens liegt. Zu DDR-Zeiten wurden hier für über 400 Betriebe Spezialisten, vor allem im Wismut- und Kalibergbau, ausgebildet. Nach der Wende mußte man sich nach neuen Aufträgen umsehen. Es wurden nun Fachkräfte für die Sanierung verlassener sowjetischer Truppenübungsplätze ausgebildet und ein „Sonderlehrgang Munition des ehemaligen Warschauer Paktes“ angeboten. 1993 erhielt die zu einer GmbH mutierte Schule, eine hundertprozentige Tochter der französischen Societe Generale des Entreprises, die staatliche Anerkennung für Lehrgänge zur Kampfmittelbeseitigung.
Auf dem Lehrerpult in seinem Unterrichtszimmer hat Höhne Granaten und Bomben aufgestellt, nach Kaliber geordnet, in Reih und Glied, Spitze nach oben, eine wahrlich phallische Phalanx.. Daneben liegen allerlei Minen. Die tellergroßen Panzerminen mit 6,5 Kilogramm Sprengstoff dienen vor allem der Sperrung von Straßen und Brücken, die kleinen Sprengminen mit nur 45 Gramm Sprengstoff, werden nur wenige Zentimeter tief in die Erde eingegraben. Wer darauftritt, hat gute Überlebenschancen, wenn ärztliche Hilfe in der Nähe ist, doch der Fuß muß fast immer amputiert werden, oft das halbe Bein. Die Toten vergräbt man, die Krüppel aber sind lebende Mahnmale. Es ist eine besondere Art der Abschreckungsstrategie. Und dann gibt es die Ampelminen, aus der 624 Stahlbolzen spritzen, wenn sie explodiert. Es gibt Minen mit Zugzündern. Sie detonieren zum Beispiel, wenn jemand über einen kaum sichtbaren Stolperdraht strauchelt, und es gibt Minen mit Entlastungszündern, die losgehen, wenn der Gegenstand, unter dem sie verborgen liegen, beiseitegeschoben wird. Am allerfiesesten aber sind die Sprengfallen. Es sind getarnte Minen, sie können in Cola-Dosen, Puppen oder andern Gegenständen des alltäglichen Gebrauchs versteckt sein. Die tödliche Phantastie kennt keine Grenzen. Nichts scheint so abwegig zu sein, als daß es nicht von einem kranken Gehirn erfunden werden könnte. Vor allem in verlassenen Häusern und Autowracks, natürlichen Kinderspielplätzen also, ist Vorsicht geboten.
Vom Mai bis Oktober vergangenen Jahres hat Höhne vor Ort gearbeitet, in Dobrinja, dem zerschossenen Viertel am Rand des Flughafens von Sarajevo. In den sechs Monaten hat er mit seiner zehn Mann starken Truppe gerade 75.000 Quadratmeter geschafft, das waren 52 Häuser mit 208 Wohnungen und Außenflächen. Das heißt ein Mann allein braucht für die Räumung eines Hauses ungefähr einen Monat. 480 Blindgänger wurden geborgen. Etwa 70 Minen wurden entschärft. Die Schuttberge zerschossener Mauern wurden Stein für Stein weggetragen, „und immer mußt du aufpassen, daß nichts ins Rutschen kommt“, sagt Höhne, „es ist wie beim Mikado-Spiel.“
Sind die Häuser erst einigermaßen sicher, steht die Herkules-Arbeit noch bevor: die Entminung von Wiesen und Feldern. Früher, als die Minen noch aus Metall waren, rückte man ihnen mit dem Metalldetektor zuleibe. Doch heute sind die allermeisten Minen aus Plastik. Es bleibt dann nichts anderes übrig, als den Boden mit der Minenräumnadel zu sondieren. Diese wird im Abstand von fünf Zentimetern sorgfältig in den Boden gestoßen. Stößt sie auf Widerstand, wird die Erde vorsichtig abgetragen. Kommt eine Mine zum Vorschein, wird das Gelände gesichert. Auf einem 50 Meter breiten Streifen beispielsweise wird also dann tausendmal in die Erde gestochen, dann heißt es fünf Zentimeter vorrücken, und wieder wird tausendmal in die Erde gestochen, undsoweiter undsofort. Und all dies mit Helm, Splitterschutzweste und auf Knien. Nach fünfzehn Minuten läßt die Konzentration nach, der Munitionsräumarbeiter wird ausgewechselt. Die Entminung Bosniens wird noch Jahrzehnte dauern, und die verseuchten Wälder, vermutet Höhne, werden wohl überhaupt nie entmint werden. Da heißt es dann einfach: Zutritt auf eigene Gefahr.
Saliha Jasarevic weiß, was in Bosnien auf ihn zukommt. Das ist für ihn umso wichtiger als er nicht weiß, ob er sich in dem Land, das er vor bald sechs Jahren verlassen hat, je wieder heimisch fühlen wird. In Zivinice bei Tuzla wird er bei einer Filiale der Sprengschulde Dresden noch vier Wochen vor Ort ausgebildet, und dann beginnt die eigentliche Arbeit. Eine Firma, die mit der Sprengschule zusammenarbeitet, gibt ihm anderthalb Jahre Beschäftigungsgarantie und etwa tausend Mark pro Monat, ein Spitzenlohn für bosnische Verhältnisse. Ja, er freut sich, wieder seine Heimat zu sehen. Doch nach Kozara, in sein Dorf, das heute in der bosnsichen Serbenrepublik liegt, will der Bosniake Jasarevic – „Ihr nennt uns Muslime, aber ich bin Atheist“ – nicht mehr zurück. Zwei Monate lang hat man ihn dort in der Ziegelfabrik Keraterm, einem der schlimmsten Gefangenenlager von Karadzics Truppen, festgehalten. Täglich wurde er von seinen serbischen Bewachern verprügelt. Den Ort des Schreckens verließ er schließlich unter Geleitschutz der UNO, auf 45 Kilo abgemagert, mit zwei gebrochenen Rippen und zerschlagenem Oberkiefer. „Ich kenne sie alle, mit einigen von ihnen bin ich zur Schule gegangen“, sagt er, „ich will sie nicht wiedersehen.“ Dann stützt er das Kinn auf seine Fäuste, wiegt kaum merklich den Kopf, fixiert irgendeinen Punkt weit hinter dem Tresen und murmelt: „Weshalb dieser verdammte Krieg ausgebrochen ist, weiß ich bis heute nicht.“
Thomas Schmid, „Die Tageszeitung“ (taz), 04.02.1998
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