MÜNCHEN. Es wird schlagartig still, als sich die Tür in der Ecke öffnet. Endlich. Auf diesen Augenblick haben sie alle gewartet, die zahlreichen Journalisten, vor allem aber die 21 Nebenkläger, die von weither angereist sind, aus den USA, aus Israel und viele aus den Niederlanden. Eine Art Krankentrage wird hereingeschoben. Auf der Trage liegt ein Greis mit halboffenem Mund, geschlossenen Augen, unter einer himmelblauen Decke. Die blaue Baseballmütze verleiht der Szene etwas Frivoles. Ab und zu zupfen eine ukrainische Übersetzerin und ein Rechtsanwalt an der Decke, wenn sie herunterrutscht und einen Blick auf die braune Lederjacke und das graue Hemd freigibt. Hinter dem Rollstuhl sitzen zwei weiß gekleidete Sanitäter. Der Prozess gegen John Demjanjuk, geboren 1920 als Iwan Mykolajowytsch Demjanjuk, hat begonnen. Der staatenlose Ukrainer, der vor einem halben Jahr aus den USA abgeschoben wurde, ist in München wegen Beihilfe zum Mord in 27 900 Fällen angeklagt. Der letzte große Naziprozess, hört man nun immer wieder. Vielleicht.

Um 4.30 Uhr hatten sich die ersten Journalisten vor dem Landgericht München II eingefunden. Am vergangenen Freitag erst hatte die Justizpressestelle überraschend bekannt gegeben, die Verhandlungen würden „aus rechtlichen Gründen“, die nicht weiter erklärt wurden, nun doch nicht über Video in einen weiteren Saal übertragen. Von den 147 Plätzen im größten Saal des Gerichts würden 68 für die Medienvertreter zur Verfügung stehen. Über 250 Journalisten hatten sich akkreditiert. Um sechs Uhr früh schlotterte schon die Hälfte von ihnen vor dem Gebäude, das laut Pressemitteilung um 7.15 Uhr öffnen sollte. Als die Tür dann kurz vor neun Uhr aufging, wurden die vordersten in einen Raum geschickt, um sich aufzuwärmen, während die späten Ankömmlinge als erste durchgeschleust wurden. Bald gab es keine Regeln mehr, nur ein Hauen und Stechen. Die beiden Franzosen, die um 4.30 Uhr die Schlange eröffnet hatten, kamen nicht mehr in den Gerichtssaal hinein.

Hinter den Anwälten, aber vor den Journalisten haben die Nebenkläger Platz genommen. Es sind vorwiegend Rentner, die ihre Eltern oder Geschwister in Sobibor verloren haben, in dem Vernichtungslager, in dem Demjanjuk als „fremdvölkischer Wachmann“, als sogenannter Trawniki, Dienst tat. Einige tragen eine Kipa. Einer steht mit hochgekrempeltem Ärmel vor den Fotografen. Auf dem linken Unterarm ist seine KZ-Nummer eintätowiert. Robert Cohen, geboren 1926, hat Vater, Mutter und Bruder in Sobibor verloren. Er selber hat eine Reihe von Konzentrations- und Arbeitslagern überlebt, weil er als erster der Familie verhaftet wurde – noch vor der Zeit, als die Juden direkt nach ihrer Ankunft ins Gas geschickt wurden. Auch in Auschwitz war er zeitweilig. „In diesem Prozess geht es nicht mehr um Sühne“, sagt er, „nur noch darum, der Wahrheit zum Durchbruch zu verhelfen.“

Kleider sortieren, Haare scheren

Drei der Nebenkläger werden im Frühjahr auch als Zeugen aussagen. Sie haben die Todesfabrik überlebt: Jules Schelvis, Thomas Blatt und Philip Bialowicz. Sobibor war ausschließlich für die Vernichtung von Menschen gebaut worden. Die allermeisten der über 250 000 Juden, die mit Transporten aus dem holländischen Durchgangslager Westerbork ankamen, wurden noch am Tag ihrer Ankunft ermordet. Sie starben in einer Mischung von Kohlenmonoxid und Kohlendioxid, das als Abgas eines Dieselmotors in die Kammern geleitet wurde. Blatt hatte Glück. Er war damals 15 Jahre alt und wurde einer Gruppe zugeteilt, die im Lager arbeiten musste. „Was für Arbeit?“ – „Kleider sortieren, Haare scheren.“ Auch er hatte gedacht, er würde in ein Arbeitslager in den Osten transportiert.

Doch muss ihm schnell klar geworden sein, was für ein Schicksal ihm bevorstand. Er schloss sich im Lager der jüdischen Widerstandsgruppe an. Von den 600 Häftlingen, die den Aufstand wagten, überlebten nur 47 Flucht und Krieg. „Können Sie sich denn an Demjanjuk erinnern?“ – „Nein, ich erinnere mich nicht einmal an das Gesicht meiner Eltern.“ Sie starben beide am Tag ihrer Ankunft in Sobibor. Thomas Blatt ist extra aus Kalifornien angereist, um als Zeuge aufzutreten.

Auch Jules Schelvis, geboren 1921 in Amsterdam, ist gekommen. Er hat nur drei Stunden im Lager verbracht. „Aber in diesen drei Stunden habe ich gesehen“, berichtet er, „wie die Juden sich auf dem Platz entkleiden mussten, wie sie unter Schlägen von Gewehrkolben und Peitschen in die Gaskammern getrieben wurden.“ Schelvis ging damals auf einen SS-Mann zu. „Der entschied innerhalb einer Sekunde zwischen Leben und Tod. Ich wurde zum Torfstechen abkommandiert.“

Zehn Konzentrationslager hat der Niederländer überlebt. Heute arbeitet er als Historiker, er doziert noch immer an der Universität Amsterdam. Welche Gefühle hat er hier, in dem Gerichtssaal, in den gleich John Demjanjuk gebracht werden wird? „Historiker müssen ihre Gefühle hinter sich lassen“, sagt Jules Schelvis in fließendem Deutsch, „sie müssen objektiv sein“, sagt der Mann, der 41 Familienangehörige im Holocaust verloren hat.

Wäre Demjanjuk erschossen worden, wenn er sich geweigert hätte, für die Nazis die Drecksarbeit zu erledigen? „Er hätte desertieren können“, sagt der Historiker, „ich habe Dokumente mitgebracht, die beweisen, dass zwei ukrainische Wachmänner mit drei jüdischen Frauen aus dem Lager geflohen sind.“ Dass aber ein Drittel der Trawniki geflohen ist, wie immer wieder behauptet wird, hält er für reichlich übertrieben.

Und nun starren alle auf Demjanjuk, der endlich auf seiner Krankentrage hereingeschoben wurde und der sich minutenlang mit geschlossenen Augen dem Blitzlichtgewitter von einem Dutzend Kameras aussetzt. Der Mann, der im kommenden Frühjahr 90 Jahre alt wird, liegt da wie ein Häufchen Elend. Ab und zu scheint er nach Luft zu schnappen. Er leidet zwar an verschiedenen Krankheiten, doch haben die Ärzte seine Verhandlungsfähigkeit bestätigt, dem Gericht aber aufgetragen, die Sitzungen auf zweimal anderthalb Stunden pro Tag zu begrenzen. Es ist schwer, sich hinter dem Greis, der mit geschlossenen Augen im Rollstuhl sitzt, den 23-jährigen Trawniki vorzustellen, der laut Anklage vor 66 Jahren „in gefühlloser und unbarmherziger Gesinnung (…) bereitwillig an der Tötung der Juden mitwirkte“.

Man muss sich immer wieder in Erinnerung rufen, dass viele der Nazischergen, der materiellen Täter, im Studentenalter waren, dass man im Dritten Reich mit 30 Jahren schon eine hohe Position bekleiden konnte.

Doch Demjanjuk hatte keine Aufstiegschancen. Aufgewachsen in der Ukraine, als Sohn eines Bauern, ging er vier Jahre zur Schule, bevor er als Traktorist in einem Kolchos arbeitete. 1940 wurde er von der Roten Armee eingezogen und geriet zwei Jahre später auf der Krim in deutsche Kriegsgefangenschaft. Im Kriegsgefangenenlager von Chelm, das damals zum Generalgouvernement gehörte und heute in Ostpolen liegt, wurde er als Hilfswilliger rekrutiert und im Lager Trawniki zum Wachmann ausgebildet. Das war der niedrigste militärische Grad der etwa 5 000 Mann starken Truppe, die sich vor allem aus Ukrainern, Balten und auch wenigen Polen zusammensetzte und zur Räumung der jüdischen Ghettos und als Wachpersonal in Vernichtungslagern, aber auch im Kampf gegen Partisanen eingesetzt wurde. Viele sowjetische Kriegsgefangene wurden damals getötet, verhungerten oder starben an Krankheiten. Demjanjuk jedenfalls überlebte. Möglicherweise nur, weil er sich an der Tötung der Juden beteiligte.

In München findet nun zum ersten Mal in Deutschland ein Prozess gegen ein Mitglied der ausländischen Hilfstruppen der SS statt, die der Historiker Peter Black einst als „Fußvolk des Genozids“ bezeichnete. Bis Anfang Mai sind 35 Verhandlungstage geplant, „weitere Termine nach Bedarf“. Es gibt viele Fallstricke in diesem juristischen Verfahren. Lebende Zeugen, die sich an Demjanjuk erinnern, gibt es nicht. Hauptbeweisstück ist der Dienstausweis des Angeklagten mit der Nummer 1393, der dessen Überstellung nach Sobibor festhält und über den das bayerische LKA urteilte, dass er „wohl echt sein dürfte“. Kann aber die individuelle Schuld nachgewiesen werden? Können niedere Beweggründe, kann Mordlust nachgewiesen werden? Hat sich Demjanjuk freiwillig für die Trawniki gemeldet oder wurde er zwangsrekrutiert? Wäre er erschossen worden, wenn er die Drecksarbeit in Sobibor verweigert hätte, oder hätte er wenigstens annehmen müssen, erschossen zu werden?

Erstes Vorgeplänkel

Zurück in den Sitzungssaal der Schwurgerichtskammer im Landgericht München II. Dort findet gerade das Vorspiel zur juristischen Querele statt. Kaum hat der Gerichtspräsident die Dolmetscher für Ukrainisch, Niederländisch und Englisch vereidigt, ergreift Demjanuks Wahlverteidiger Ulrich Busch das Wort. Er wirft dem Gerichtspräsidenten und den beiden Staatsanwälten Befangenheit vor und begründet dies sehr ausführlich mit früheren Urteilen. Im Hagener Prozess wurden 1966 die SS-Scharführer Erich Lachmann, Leiter der Trawniki-Wachmannschaft von Sobibor vor Demjanjuks Ankunft im Lager, und Hans-Heinz Schütt, zuständig für Büroarbeiten und Gehaltsabrechnungen, wegen Befehlsnotstand freigesprochen. Wenn schon deutsche SS-Offiziere befürchten mussten, bei Befehlsverweigerung erschossen zu werden, dann musste dies doch erst recht ein ausländischer Hilfswilliger, so die Argumentation Buschs.

Lässt man die großen Deutschen laufen und die kleinen Ausländer hängen? Tatsächlich ist die frühere juristische Bewältigung der Naziverbrechen, wie zahlreiche Urteile der 60er-Jahre bezeugen, ein Skandal erster Güte. Doch ist das Gericht nicht an frühere Urteile gebunden. Und wenn jetzt – spät, aber immerhin – gegen Demjanjuk, der gewiss das letzte Glied der Befehlskette war, ein Urteil gefällt werden sollte, das andere erst recht verdient hätten, dann wäre dies doch ein Fortschritt.

Im Gerichtssaal herrscht Aufregung. Gerade hat Demjnajuks Verteidiger Busch die Notlage des Juden Thomas Blatt und die des bewaffneten ukrainischen Trawniki John Demjanjuk gleichgesetzt. Beide sitzen im Raum. Beide hätten durch Kollaboration mit den Nazis ihr eigenes Leben gerettet, behauptet der Rechtsanwalt. Die Nebenkläger sind entsetzt. Demjanjuk sitzt noch immer regungslos mit geschlossenen Augen in seinem Rollstuhl. Wer weiß, wie viel er selbst noch von alldem mitbekommt. Von diesem Prozess, der vielleicht zu spät kommt, um die Wahrheit zu ergründen. Um mehr zu schaffen als einen Präzedenzfall.
© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 01.12.2009