ESSEN/DUISBURG. Melancholie schwingt in seiner Stimme mit, vor allem aber Respekt vor den Menschen dieser so wenig geliebten Region. „Das Ruhrgebiet hat es immer schwer gehabt“, sagt Fritz Pleitgen, „nichts wurde seinen Bewohnern geschenkt. Sie haben sich alles selbst erarbeitet.“ Dann spricht er von den Wunden, die die Industrialisierung der Landschaft zugefügt hat, und ergänzt: „Die Menschen bauen wieder auf, was sie selbst zerstört haben.“
Der Journalist, geboren in Duisburg, einst ARD-Korrespondent in Moskau und danach in Washington, ist in das Ruhrgebiet zurückgekehrt. Es sei ihm ans Herz gewachsen, sagt er – ohne jedes Pathos, ganz bescheiden, und man glaubt es ihm sofort. Schließlich ist es ein Stück Heimat. Er kennt den Menschenschlag im Revier, und er mag ihn.
Sein Büro hat der langjährige Intendant des Westdeutschen Rundfunks nun im Alfred-Herrhausen-Haus in Essen. Das Gebäude ist nach dem früheren Vorstandssprecher der Deutschen Bank benannt, der aus Essen stammte und 1989 einem Bombenattentat der RAF zum Opfer fiel. Herrhausen hatte den „Initiativkreis Ruhr“ mitgegründet, einen Industriellenverband für die Förderung des Ruhrgebiets. Pleitgen ist Vorsitzender der Geschäftsführung der Ruhr 2010 GmbH, die für die Durchführung des Kulturhauptstadtprogramms verantwortlich zeichnet.
Das Ruhrgebiet mit Essen als Bannerträgerin ist seit gestern – zusammen mit Pécs (Ungarn) und Istanbul – Kulturhauptstadt Europas. Das Programm, das sich über das ganze Jahr erstreckt, wird am 9. Januar in der Zeche Zollverein mit einem zweitägigen Kulturfest eröffnet. Zum Feuerwerk in Essen werden Zehntausende erwartet, und Herbert Grönemeyer wird ihnen seine neue Hymne auf das Revier vorstellen. Das 1986 stillgelegte Kohlebergwerk gehörte einst zu den größten der Welt. Heute ist es Weltkulturerbe der Unesco, das einzige in der Metropole Ruhr, wie das Ruhrgebiet nun aus Marketinggründen gerne genannt wird.
„Mythos Ruhr begreifen – Metropole gestalten – Europa bewegen“. So präsentiert das offizielle Programm seine zentralen Ideen. Das ist schön formuliert, wo aber ist die Metropole? Das Ruhrgebiet besteht aus 53 Städten, doch hat es keine Hauptstadt, kein Gravitationszentrum, kein metropolitanes Flair. Es ist eine polyzentrische Stadtlandschaft mit fünf Millionen Einwohnern und damit – nach Moskau, Istanbul, London und Paris – das fünftgrößte Ballungsgebiet Europas. „Das Ruhrgebiet wird grotesk unterschätzt“, behauptet Pleitgen, „auf engem Raum finden Sie hier mehr Kultur als in anderen Metropolregionen Europas.“ In der Tat: Es gibt im Ruhrgebiet ungefähr hundert Konzertstätten, 120 Theater, 200 Museen und über tausend Industriedenkmäler. „Trotzdem hat die Region ein lausiges Image“, sagt der Geschäftsführer von Ruhr 2010, „und genau das wollen wir ändern.“
Es ist das Image von verrußten Häusern, grauen Städten, schlechter Luft. Ein Image, das mit der Realität wenig zu tun hat. Man braucht nur auf das Dach der Kohlenwäsche der Zeche Zollverein, auf die Aussichtsplattform des alten Gasometers in Oberhausen oder auf den Tetraeder in Bottrop, ein 60 Meter hohes pyramidenförmiges Stahlgerüst, zu steigen und den Blick schweifen zu lassen. Ein friedliches Ensemble von Stadt und Land liegt dem Betrachter zu Füßen, ein von Mensch und Maschine gezeichnetes Panorama, aber erstaunlich viel Grün und überraschend viel Wasser: Ruhr und Rhein, Emscher und Rhein-Herne-Kanal. Sanfte Hügel am Horizont, im südlichen Teil des Ruhrgebiets von der Natur geschaffen, im nördlichen von Menschenhand: Abraumhalden längst stillgelegter Zechen, viele von Wäldern überwachsen. Nur noch wenige Schlote rauchen.
Die Hochöfen des stillgelegten Stahlwerks von Krupp in Duisburg-Rheinhausen sind längst abmontiert, die Anlagen der Hermannshütte von Dortmund-Hörde an China verschachert. Noch gibt es das Stahlwerk von Thyssen-Krupp in Duisburg-Bruckhausen. Aber die Produktion ist weitgehend automatisiert. Von über 3 200 Zechen, die das Ruhrgebiet im Lauf von zwei Jahrhunderten prägten und die zum Teil so wunderliche Namen tragen wie „Bergmannsglück“, „Fröhliche Morgensonne“ oder „Wohlverwahrt“, sind gerade noch vier in Betrieb.
Von der Zeche zur Brautmode
Die Welt der Stahlkocher und Kumpel ist verschwunden. Geblieben sind einige Werksiedlungen, wo die Arbeiter in betriebseigenen Mehrfamilien- und Reihenhäusern wohnten und in den Gärten Kaninchen oder Tauben züchteten, Hühner hielten, Gemüse pflanzten und bei Geburtstagsfeiern „Glückauf, der Steiger kommt“ sangen. Geblieben sind die Trinkhallen, wo die Kumpel nach getaner Arbeit sich zum Bier trafen, Kinder für einen Pfennig Klümpchen (Bonbons) kauften und die Tasse Kaffee noch heute nur 70 Cent kostet. Und geblieben ist die Liebe zum Fußball.
„Der Fußball gehört zum Pott wie die Kohle“, sagt Willi Lippens, der heute in einem Wald am Stadtrand von Bottrop mit zwei Söhnen eine gut besuchte Gaststätte führt mit dem seltsamen Namen „Ich danke Sie“. Die Geschichte kennt im Ruhrgebiet jeder. Sie steht auch auf der Speisekarte. Lippens war von 1965 bis 1981 Profi-Fußballer, 13 Jahre bei Rot-Weiss Essen, ein Jahr in Dallas (USA) und drei Jahre bei Borussia Dortmund. Seine Dribbelkünste haben eine ganze Generation von Fans verzückt. Und auf den Mund gefallen war er nie. Als ihn der Schiedsrichter einst anbellte: „Herr Lippens, ich verwarne Ihnen!“ und ihm die gelbe Karte zeigte, gab der Fußballer schlagfertig zurück: „Herr Schiedsrichter, ich danke Sie!“ – worauf dieser ihm prompt die rote Karte vor die Nase hielt. An einer Wand von Lippens‘ Waldrestaurant hängen Sportschuhe mit Stahlkappen. Sie gehörten einst einer anderen Fußballlegende des Ruhrpotts: Helmut Rahn, der seine größten Erfolge ebenfalls bei Rot-Weiss Essen feierte und 1954 mit seinem historischen Tor das „Wunder von Bern“ vollbrachte und Deutschland zum Weltmeister machte.
„Der Fußball ist Teil der Volkskultur“, sagt Lippens, „hier im Pott allemal.“ In der Tat: Was die Quote von Kickern und Zuschauern betrifft, liegt die Region zwischen Lippe und Ruhr mit Fußballhochburgen wie Brasilien oder Greater London an der Weltspitze. Mit Borussia Dortmund und Schalke 04 spielen gleich zwei Vereine aus dem Revier seit über zehn Jahren ununterbrochen in der Bundesliga. Der FC Schalke 04 ist mit über 80 000 Mitgliedern nach dem FC Bayern München der zweitgrößte Sportverein Deutschlands. Und die Heimspiele tragen die Gelsenkirchener in der Veltins-Arena aus, die mit ihrem ausfahrbaren Rasen zu den modernsten Stadien der Welt gehört. Angesichts all dieser Superlative erwiesen dann auch die Organisatoren der Kulturhauptstadt Europa dem runden Leder ihre Reverenz: Im Mai findet der „Ruhr-Lit-Cup“ statt, ein internationaler Cup der Literaten. Die deutsche Mannschaft wird der Münchner Lyriker Albert Ostermaier anführen. Ob er da hingehen wird, weiß Lippens noch nicht. „Aber die ‚Ruhr 2010′“, so hofft er, „wird der Region helfen, ihr schlechtes Image loszuwerden.“ Aufgewachsen ist Lippens in Deutschland, am Niederrhein, doch sein Vater war Holländer, und er selbst ist es, den Papieren nach, bis heute. Trotzdem gehört er längst zum Ruhrpott.
Auch Asli Sevindim ist gewissermaßen eine typische Pflanze des Reviers. Aber die 36-jährige Journalistin und Buchautorin steht für eine andere Generation. Ihr aus der Türkei eingewanderter Vater arbeitet als Kranführer bei Thyssen. Sie moderiert die „Aktuelle Stunde“ beim Westdeutschen Rundfunk. Aufgewachsen ist sie in Duisburg-Marxloh, einem Stadtteil, bei dessen bloßer Erwähnung schon mancheiner die Nase rümpft. Marxloh hat den Ruf, abgehängt, ein soziales Getto zu sein. Sevindim sieht jedoch auch die andere Seite. Zwar sind viele Arbeitsplätze verloren gegangen, aber es entstehen neue. Die Zeche Walsum mit ihren 3 000 Beschäftigten, von denen viele in Marxloh wohnten, wurde vor anderthalb Jahren geschlossen. „Aber allein an der Weseler Straße, der Hauptstraße des Stadtteils, gibt es nun über 20 Brautmodegeschäfte – auch eines für XXL“, berichtet die Marxloherin, die noch immer in Duisburg wohnt. „Früher reisten die Türken in ihre Heimat, um Kleider für den Hochzeitstag zu günstigen Preisen zu besorgen. Jetzt kommen viele, und beileibe nicht nur Türken, aus dem Rheinland, ja sogar aus Belgien und Holland, um in Marxloh Brautkleider zu kaufen.“
Von den 18 000 Einwohnern Duisburg-Marxlohs haben heute 60 Prozent einen Migrationshintergrund, die meisten einen türkischen. Neben den Brautmodegeschäften, die einen Allroundservice – Catering, Musik, Einladungskärtchen, Goldschmuck – für den Hochzeitstag bieten, findet man an der Weseler Straße Teestuben, Döner-Kebab-Buden, Frisiersalons, Bäcker, die Simit und Baklava in der Auslage haben, und Metzger die Halal-Fleisch anbieten. Und in der alten Trinkhalle liegen mehr türkische als deutsche Zeitungen aus. Diese Entwicklung mag viele Deutsche ängstigen. Auch die Türken scheinen sich dessen bewusst zu sein. Gegen den Bau der 2008 fertiggestellten Moschee, die über tausend Gläubigen Platz bietet, ein 34 Meter hohes Minarett hat und ein interreligiöses Begegnungszentrum beherbergt, gab es keine Proteste. Der Moscheeverein hatte bei der Planung mit den christlichen Kirchen kooperiert und auch das Gespräch mit interessierten deutschen Einwohnern gesucht.
Das Ruhrgebiet hat seit Beginn der Industrialisierung Zuwanderer angezogen. 1910 lebten etwa 500 000 Ruhr-Polen im Revier, das damals drei Millionen Einwohner zählte. Schalke 04 verdankte Ruhr-Polen in den 30er- und 40er-Jahren seinen Aufstieg und den von seinen Rivalen damals gepflegten Ruf eines „Polacken-Vereins“. Und auch Götz Georges Alter Ego, der Duisburger Kriminalhauptkommissar Schimanski, ist polenstämmig, wie sein Name – polnisch: Szymanski – verrät. Nach dem Zweiten Weltkrieg kamen Griechen, Italiener, Jugoslawen und schließlich Türken.
Tauchen im Gasometer
„Die Immigration hat im Ruhrgebiet eine Tradition des Zusammenlebens, der Nachbarschaftshilfe und Solidarität geschaffen“, sagt Sevindim, „eine Tradition, mit der ich groß geworden bin.“ Nun ist sie als eine der vier künstlerischen Direktoren von Ruhr 2010 für den Bereich „Stadt der Kulturen“ zuständig. Ihr Geheimtipp fürs Kulturhauptstadtprogramm, verrät sie, sei das Projekt „Mehr Licht! Die europäische Aufklärung weitergedacht“. Es ist eine Diskussion von regionalen wie internationalen Schriftstellern, Philosophen und Wissenschaftlern, bei der es wesentlich auch um das Zusammenleben der Menschen im Ruhrgebiet geht und um die Zukunft der Region im europäischen wie globalen Kontext.
„Das Ruhrgebiet atmet nicht mehr Staub, sondern Zukunft“ so die pathetischen Worte des Schweizer Schriftstellers Adolf Muschg, der der europäischen Jury angehörte, die den Titel der Kulturhauptstadt zu vergeben hatte. Es ist die lyrische Umschreibung von „Strukturwandel“, einem Wort, das den Bewohnern des Potts zum Hals heraushängt. In den letzten beiden Jahrzehnten des vergangenen Jahrhunderts gingen 500 000 Arbeitsplätze im produktiven Bereich verloren, und es entstanden 300 000 Jobs im Dienstleistungsbereich.
Wer durch die Metropole Ruhr reist, kann diesen Wandel sinnlich erfahren. Auf dem Gelände des früheren Krupp-Stahlwerks in Duisburg-Rheinhausen steht heute die Zentrale eines Logistikunternehmens. In der Essener Zeche Zollverein wird am 10. Januar das neue Ruhr-Museum eröffnet.Und aus Thyssens Eisenhüttenwerk in Duisburg ist ein Erlebnispark besonderer Art geworden: Der alte Gasometer wurde mit 20 Millionen Liter Wasser gefüllt, sodass man dort nun in luftiger Höhe 13 Meter tief zum Wrack eines Schiffs tauchen kann; in der riesigen Kraftzentrale finden Regisseure eine Theaterbühne, von der andere nur träumen können; die Gießhalle mit ihrem imposanten Knäuel von Rohren, Kesseln, Treppen und Brücken bietet das richtige Ambiente für ein Gala-Dinner, und nachts erstrahlen Hochöfen, Kamine und Stahlgerüste in grellen Farben – es ist eine artifizielle Traumlandschaft.
Das Ruhrgebiet hat durchaus touristisches Potenzial. Die Kulturhauptstadt Ruhr 2010 wird es zum Teil erschließen. Und die Bewohner des Reviers? Wie verkraften sie den Wandel? „Wir dürfen nicht alles kaputtreden, wir müssen den Menschen Mut machen“, meint die Journalistin Asli Sevendim.
„Fragt man einen Bayern, weshalb er in Bayern lebt“, erzählt der Duisburger Kabarettist und Krimi-Autor Klaus Magnus Sting, “ so sagt er: Wir lieben unsere grünen Wiesen, unsere Brezeln und unsere Berge, mir san mir! Fragen Sie einen Kölner, wird er Ihnen vom Dom und vom Kölsch erzählen. Weshalb aber bloß soll ein Ruhri im Pott bleiben?“ Dann findet der Künstler eine einfache Antwort: „Na ja, vielleicht einfach, weil es anderswo ja auch Scheiße ist.“
Mit dem Satz verweist der Kabarettist auf den Kern des Problems. Essen hat seine Zeche Zollverein, Bottrop seinen Tetraeder, Oberhausen seinen Gasometer. Man ist Duisburger oder Dortmunder, den Ruhri aber gibt es nicht. Die Metropole Ruhr hat noch keine Identität gefunden. Aber in einem Jahr, wenn der Marathon von Shows, Spektakeln, Spielen, Ausstellungen, Konzerten und Festen vorbei ist und Fritz Pleitgen sein Büro in Essen räumt, ist man vielleicht einen Schritt weiter.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, 02./03.01.2010