Wälder und Wiesen, soweit das Auge reicht. Und mittendrin ein graues Band, schnurgerade, drei Kilometer lang. Es herrscht eine gespenstische Ruhe, nur manchmal unterbrochen vom Krächzen der Krähen, die ihre Kreise ziehen. Der Flughafen Parchim, auf halber Strecke zwischen Hamburg und Berlin, liegt verlassen in einer menschenleeren Landschaft. Nur drei- bis viermal in der Woche landet hier ein Flugzeug – aus dem fernen Zhengzou, der über sieben Millionen Einwohner zählenden Hauptstadt der zentralchinesischen Provinz Henan. Parchim ist die Kreisstadt des gleichnamigen Landkreises  in Mecklenburg-Vorpommern und zählt knapp 20.000 Seelen.

„Parchim International Airport“ verkündet ein Schild am verschlafenen Terminal, und über den lateinischen Buchstaben prangen große chinesische Schriftzeichen. Der Mann, der dem von Arbeitslosigkeit gebeutelten Landstrich eine neue Zukunft verspricht, heißt Yuliang Pang und ist 41 Jahre alt. Als erster Chinese will der millionenschwere Geschäftsmann einen europäischen Flughafen kaufen – und zwar komplett, das heißt Tower, Terminal, Cargogebäude, Pisten und Flughafenbetreibergesellschaft sowie ein angrenzendes Gewerbegebiet. Alles zusammen für 31 Millionen Euro. Der Kaufvertrag ist unterzeichnet. Seit zwei Monaten schon landen Flugzeuge aus China. Bis zum 15. Dezember muss Pang dem Landkreis Parchim, Besitzer des Flughafens, das Geld überweisen. 70 weitere Millionen will er investieren.

Noch wartet Pang auf die Entscheidung des chinesischen Handelsministeriums, das bei Geschäften dieses Ausmaßes seine Zustimmung geben muss. Doch dass Peking das Plazet erteilt, daran zweifelt, jedenfalls öffentlich, in Parchim niemand – weder im Landratsamt noch im Verbindungsbüro des Herrn Pang, das sich praktischerweise im selben Gebäude befindet, einer ehemaligen sowjetischen Kaserne. Auch Klaus Grützmacher, der das Geschäft eingefädelt hat, ist überzeugt, dass es trotz der diplomatischen Irritationen zwischen Peking und Berlin nach dem Empfang des Dalai Lama bei der Bundeskanzlerin erfoglreich abgeschlossen wird. Der habilitierte Wirtschaftspsychologe hat in Zhenzou eine Honorarprofessur, lebt seit sieben Jahren hauptsächlich in China und arbeitet als Berater deutscher Firmen, die ins China-Geschäft einsteigen wollen, und chinesischer Investoren, die es nach Deutschland drängt. Pang, Eigentümer der weltweit agierenden Link Global Logistics,  ist zur Zeit zweifellos sein wichtigster Kunde.

Der Flughafen Parchim soll ein Frachtdrehkreuz für den Handel zwischen China, Europa und Afrika werden. Die Bedingungen sind optimal. Als einer von nur vier deutschen Flughäfen kann er aufgrund der dünnen Besiedelung des Umlands rund um die Uhr angeflogen werden. Er liegt nahe der Autobahn, die die beiden größten Städte Deutschlands verbindet. In Reichweite sind die Seehäfen Wismar und Rostock, die für den Transport der Ware nach Skandinavien und St. Petersburg interessant sind. Auf der drei Kilometer langen Piste können auch die größten Flugzeuge der Welt landen. Mit Lufthansa Cargo sei man schon im Gespräch, um den Weitertransport der angelandeten Güter sicherzustellen, sagt Grützmacher. Auch mit der Deutschen Bahn werde verhandelt. Schließlich soll eine Schiene zum Flughafen führen, und „der ICE zwischen Berlin und Hamburg wird in Parchim einen Zwischenstopp einlegen“.  Das steht für Grützmacher außer Frage. „Eine Reisedauer von zusätzlich vier Minuten kann man den Passagieren schon  zumuten.“

Auf der Gewerbefläche, die er neben dem Flughafen erworben hat, will Pang, Fertigungsunternehmen ansiedeln. Zum Beispiel könnten Autoteile aus China eingeflogen  und in Parchim montiert werden. Das fertige Auto wäre dann „made in Germany“. „Noch machen sich die Europäer über die Qualität chinesischer Autos lustig“,  sagt Grützmacher, „aber das Lachen könnte ihnen bald vergehen, denn die Chinesen lernen schnell.“ Eine so genannte bond free zone am Flughafen würde zudem erlauben, dass die importierten Waren zollfrei ins außereuropäische Ausland ausgeführt werden können. „Künftig werden viele Chinesen ihren Afrika-Handel statt über Dubai eben über Parchim abwickeln“, schwärmt der Professor, „und auf dem Rückflug werden Blumen aus Uganda und Kenia transportiert.“

Die Nationalsozialisten hatten den Flugplatz als Fliegerhorst der Wehrmacht errichtet. Nach der Zerstörung durch amerikanische Bomber im letzten Kriegsmonat bauten ihn die Sowjets wieder auf und kasernierten in Parchim zeitweilig bis zu 16.000 Mann. 1992 verabschiedeten sich die letzten russischen Soldaten. Danach lag der Airport weitgehend brach. Ab und zu diente er Sportfliegern und der Ausbildung von Piloten. Die Bundeswehr benutzte ihn im vergangenen Jahr, um Hilfsgüter nach Afghanistan zu fliegen. Hin und wieder buchten Touristen einen Rundflug über Parchim und Schwerin. In der Regel aber dämmerte der Flughafen  vor sich hin. Nun aber landen regelmäßig Flugzeuge aus dem Fernen Osten. Noch sind es wenige. Doch wenn die Rechnung von Professor Grützmacher aufgeht, wird Parchim schon bald zu einer wichtigen Drehscheibe des rapide expandierenden Chinahandels.  Über Straße und Schiene,  zu Wasser und zu Luft sollen die chinesischen Waren auf die europäischen Märkte gebracht werden.

Zum Beispiel nach Budapest. Die Donaumetropole gilt als die heimliche Hauptstadt der Chinesen in Europa. Die ersten Migranten aus dem Reich der Mitte kamen 1989 an, als ein Handelsabkommen zwischen China und Ungarn die gegenseitige Visafreiheit brachte. Nach dem Massaker auf dem Tiananmen, dem Platz des himmlischen Friedens, und der Zerschlagung der demokratischen Opposition flüchteten viele Studenten nach Ungarn. Noch mehr aber waren Glücksritter, die einfach ein besseres Leben suchten. Und als 1992 die Visafreiheit wieder abgeschafft wurde, hatten sich schon ungefähr 40.000 Chinesen in Ungarn niedergelassen.

Tausende gründeten Kleinunternehmen und stiegen in den Handel ein. Der riesige „Markt der vier Tiger“ gilt als Europas größter Umschlagsplatz für Plagiate. Man findet hier Nike-Schuhe wie Chanel-Parfums zu Spottpreisen. Auch die chinesische Regierung weiß Budapest als Brückenkopf in Europa zu schätzen. Im September unterzeichneten Vertreter des chinesischen Handelsministeriums und der ungarischen  Regierung einen Vertrag über die Gründung eines China Brand Trade Center. Peking will 250 Millionen Euro in das Handelszentrem an der Donau investieren, wo chinesische Firmen ihre Waren ausstellen und chinesische Köche das Business verköstigen werden.

Auch im benachbarten Rumänien sind die Chinesen längst angekommen. In einem der zahlreichen trostlosen Viertel am Rand von Bukarest steht ein unauffälliges Haus. Man erreicht es über verschlammte Wege. Nichts deutet auf die Pracht hinter den grauen Mauern hin. Im festlich geschmückten Saal sitzt Buddha in weißem Marmor, glücklich strahlend, mit Babyface und dickem Bauch. „Das Lächeln steht für die universale Freude“, erklärt Hsu Chin-Huan, die den Tempel pflegt, „der große Bauch für barmherzige Toleranz, die langen Ohrläppchen für Gehorsam und Verständnis.“ Auf einem Tisch türmen sich Orangen, Opfergaben der Gläubigen. Aus einem Kessel steigt Weihrauch auf. Rote chinesische Schriftzeichen hängen an den Wänden. „Jeden Tag kommen Chinesen vorbei, um hier Ruhe zu finden“, sagt Hsu Chin-Huan, „der Tempel ist für viele ein Stück Heimat.“

An die 7.000 Chinesen leben in Bukarest. Die meisten von ihnen arbeiten auf dem weitläufigen chinesischen Markt, der seltsamerweise den Namen „Europa“ trägt. Weshalb, weiß hier niemand. Sie verkaufen Stoffe, Pantoffeln, Lampen, Bettdecken, Porzellan – alles Importware aus dem Reich der Mitte. Viele von ihnen sind über Belgrad  nach Europa eingereist. Der serbische Machthaber Slobodan Milosevic, bedrängt und geächtet vom Westen, suchte gute Beziehungen zur Vetomacht China. Entsprechend großzügig  war seineVisumspolitik. Wöchentlich landeten zeitweilig zwei voll besetzte DC-10 auf dem Belgrader Flughafen. Schlepper – oder „Schlangenköpfe“, wie die Chinesen sagen – brachten viele der Ankömmlinge über die Grenze nach Rumänien.

Zwei- bis dreimal im Jahr fliege er nach China, um einzukaufen, sagt ein Händler, der auf einem Ballen Stoffe sitzt. „Die Ware wird dann in Schanghai verschifft und im rumänischen Schwarzmeerhafen von Constanta ausgeladen.“ Wie alle hier verschweigt er seinen Namen. Er ist hochgradig misstrauisch. Und wie alle hier findet er schon nach der ersten Frage einen Vorwand zu verschwinden. Man will schließlich keinen Ärger mit dem Steueramt und keine Scherereien mit der Ausländerpolizei.

Die Flüge wird sich der Mann bald sparen können. Künftig wird er die Ware der chinesischen Produzenten in einer Ausstellungshalle begutachten und ordern. Denn am Rand des Marktes wird zur Zeit die größte kommerzielle Chinatown Europas gebaut. Der „Rote Drachen“, ein riesiges Einkaufszentrum mit zehn Restaurants und 8.000 kleinen Läden, steht schon. Im großen Foyer sorgen meterhohe Lampions für chinesisches Flair. Noch ist erst die Hälfte der Läden verkauft oder vermietet. Und noch stehen die meisten der 4.000 Parkplätze leer. Aber das wird sich ändern, wenn das Business Center von Chinatown mit seinem 16stöckigem Rundbau, in dem Büros und Konferenzsäle untergebracht werden, und seinen riesigen Ausstellungshallen fertiggebaut ist. Dazu kommen noch zwölf Wohnblocks mit Tiefgaragen, Kindergärten, Spielplätzen, Restaurants, Spielhallen und Banken. Wie Chinatown einmal aussehen wird, kann man sich in der luftigen Höhe des obersten Stockwerks des „Roten Drachen“ vorstellen. Hier zeigt Ion Badea ein Modell der imposanten Anlage. Der drahtige Rumäne ist PR-Mann der Niro Group. Die zu hundert Prozent rumänische Holding ist Bauherr von Chinatown,  „Für die Chinesen wird Rumänien das Tor zum Markt der Europäischen Union“, prophezeit Badea.

Doch die Chinesen sind nicht nur im Klein- und Großhandel tätig. Zehn Prozent aller Rumänen – Kinder und Greise eingeschlossen –  sind seit dem Kollaps des Kommunismus ausgewandert. Vorwiegend nach Italien und Spanien, beides Länder, deren Sprachen sie leicht lernen, weil auch das Rumänische zur lateinischen Sprachgruppe gehört, und wo sie bei der Obsternte oder auf dem Bau schnell dreimal mehr verdienen als zu Hause. In Rumänien fehlen seit dem großen Exodus die Arbeitskräfte. Chinesen füllen die Lücke.

„Im Jahr 2000 hatte ich tausend Arbeiter, ein Jahr später waren es noch 600, und 2003 musste ich schließen“, erzählt der Textilunternehmer Sorin Nicolescu. Heute ist er Manager der vor einem Jahr gegründeten Wear Company in Bacau, einer Großstadt am Rand der Karpaten. Rumänische Arbeiter fand er keine – jedenfalls nicht zum angebotenen  Lohn, „also habe ich sie aus China geholt.“ Eine in Schanghai ansäßige Agentur vermittelte ihm 400 Arbeiterinnen, die jetzt an Nähmaschinen arbeiten und Anoraks, Skianzüge und andere Sportkleidung herstellen. Umgerechnet 250 Euro würden sie verdienen, sagt Nicolescu, das sei fast viermal mehr als in China, Kost und Logis (in Fünfbettzimmern) seien gratis. Gegessen und geschlafen wird in der Fabrik. Die Wear Company hat sogar extra einen chinesischen Koch eingestellt, und über Satellit können die Arbeiterinnen chinesische Fernsehsender empfangen.

Ein Gespräch mit seinen Chinesinnen lässt Nicolescu nicht zu, aber immerhin  gestattet er einen Blick in Fabrikhalle.  „Sie sind sehr zufrieden“, behauptet der Manager, „und glücklich  darüber, Geld nach Hause schicken zu können.“ Tatsächlich nicken die Näherinnen dem Gast alle freundlich zu, und viele lächeln sogar. Zwei Wochen nach dem Besuch titelt die rumänische Presse: „Aufstand der Chinesinnen in Bacau“ und „Chinesinnen greifen Manager mit Löffel und Gabel an“. Die Arbeiterinnen waren zuvor in Streik gegangen. Die Lokalzeitung zitiert Nicolescu mit den Worten: „Als sie heute (Sonntag) arbeiten kommen mussten, um die verlorenen Tage nachzuholen, haben sie sich mit Gabeln, Messern und Löffeln über mich hergemacht. Ich habe die Polizei und die Wache gerufen. Ich werde sie aus dem Land rauskriegen. Ich war in China und ich habe tausend Arbeiterinnen über eine andere Agentur rekrutiert, die ich herbringe.“

Während sich Osteuropa gerade an die Präsenz von zehntausenden Chinesen zu gewöhnen beginnt,  gibt es in drei Ländern Westeuropas schon  lange  chinesische Communities: in Großbritannien, in Frankreich und in den Niederlanden.  In London und Liverpool waren schon gegen Ende des 19. Jahrhunderts chinesische Viertel entstanden. Vor allem Seeleute, die bei der Ostindischen Kompanie gearbeitet hatten, setzten sich auf der Insel fest. Damals hatten sich die Briten in China bereits eingenistet. Sie hatten einen Stadtteil Schanghais besetzt und eine so genannte „Konzession“ errichtet, ein Gebiet unter britischer Hoheit, um auf dem wichtigsten Marktplatz Ostasiens frei Handel treiben zu können. Das britische Empire gehört längst der Vergangenheit an, China ist Weltmacht, und so haben sich die Verhältnisse verkehrt. „Wir wollen, dass London für die chinesische Wirtschaft zum Eingangstor  nach Europa wird“, sagt Ken Livingstone, der Bürgermeister der britischen Hauptstadt, in der 60.000 Chinesen leben. Da konkurriert er nun mit Budapest, Bukarest und vielleicht schon bald auch mit Parchim.

Chinesische Waren, produziert zu Billiglöhnen unter sträflicher Missachtung der ökologischen Folgen, überschwemmen den Weltmarkt.  Aber was passiert, wenn China, das im übrigen noch immer deutsche Entwicklungshilfe erhält, auch seine Kapitalschleusen öffnet? Das Land hat 1,3 Billionen Dollar an Devisenreserven gebunkert. Ende September wurde die mit 200 Milliarden Dollar ausgestattete staatliche China Investment Corporation gegründet. Die Graalshüter der Marktwirtschaft kriegen das Muffensausen. Schon befürchten sie, die Chinesen könnten sich systematisch in Volkswirtschaften westlicher Länder einkaufen und über die Kontrolle von Schlüsselindustrien deren Politik  steuern – so wie sich einst die USA die Länder Lateinamerikas gefügig gemacht haben. Oder so wie die Briten Mitte des 19. Jahrhunderts nach dem Opiumkrieg dem stolzen China die Politik diktierten. So scheint die Geschichte vielleicht auf ihre Weise für späte Gerechtigkeit zu sorgen.

Nach den von den Briten aufgezwungenen Opiumkriegen und dem unter deutschem Oberkommando niederkartätschten Boxeraufstand war China auf den Status einer Halbkolonie gesunken und lieferte den Kolonialmächten schon bald billige Arbeitskräfte. Als der Erste Weltkrieg  in sein viertes Jahr ging, nahmen die alliierten Engländer und Franzosen nach Verhandlungen mit Peking150.000 Chinesen unter Vertrag. Einige  wurden in der britischen Armee beschäftigt. Die allermeisten aber hielten die industrelle Produktion in Frankreich aufrecht. Sie arbeiteten in der Landwirtschaft, in den Werften, in den Munitionsfabriken sowie im Hoch- und Tiefbau, während die Franzosen in den Schützengräben lagen. Nach dem Krieg ließen sich viele von ihnen in Amsterdam und Rotterdam nieder, wo sich Chinatowns bildeten. Die chinesische Community Frankreichs erhielt erst in den 70er Jahren wieder massiven Zuwachs, als nach dem Abzug der Amerikaner aus Indochina die Boat people aus Vietnam, Kambodscha und Laos in Frankreich Zuflucht fanden. Sie gehörten überwiegend der chinesischen Minderheit jener Länder an. Heute leben in Frankreich etwa eine Millionen Chinesen und chinastämmige Franzosen.

In Italien sind es weniger. Noch. Dass sie längst auch bei ihnen angekommen sind, merkten die meisten Italiener erst, als in diesem Frühjahr einige hundert Demonstranten im Zentrum von Mailand die Piazza del Duomo besetzten, die sonst Tauben und Touristen gehört. Viele schwenkten eine rote Fahne. Es waren keine Kommunisten, bloß Chinesen, deren Nationalfahne eben rot ist. Die Botschaft war klar: „Wir sind Chinesen, und wir leben hier.“ Vorausgegangen war ein Streit an der Via Sarpi. Zwei Polizistinnen hatten einen Bußzettel unter den Scheibenwischer eines Autos geklemmt, das einer Chinesin gehörte. Ein Wort gab das andere. Bald eilten aus allen Ecken Chinesen herbei. Es kam zu einer Schlägerei, bei der auf beiden Seiten etwa zwei Dutzend Personen verletzt wurden.

Ein kleines Missverständnis, eine falsch verstandene Geste kann schnell zum Streit ausarten, wenn man sich nicht kennt, wenn man sich misstraut. Und so klebt nun an vielen Schaufenstern der Mailänder Via Sarpi ein Plakat: „Spucken ist unhygienisch, gehört sich nicht, ist strafbar“. Nicht dass die Inhaber des Modegeschäftes „Ri Xhin Fashion“, der Import-Export-Firma „Bai Yi Dian“, der Handelsfirma „Xin Xing“ oder des Sojakäsegeschäfts  „Da Zhang“ Angst um die Sauberkeit ihrer Läden hätten. Die chinesischen Geschäftsleute bitten bloß ihre Kundschaft, auf die Empfindlichkeiten der Italiener Rücksicht zu nehmen. In Peking ist es gang und gäbe, dass einer dem andern vor die Füße spuckt. Ein Mailänder hingegen könnte die Spucke als feindliches Geschoss auffassen, und dann droht womöglich ein clash of civilizations.

„Wenn ich auf die Straße gehe“, schimpft Pierfranco Lionetto, „versperrt mir eine vollbepackte Schubkarre den Weg, und wenn ich nach Hause komme, finde ich keinen Parkplatz, weil die Grossisten ständig ein- und ausladen.“ Lionetto, Ingenieur und kurz vor der Rente, ist Präsident von „Vivi Sarpi“. Einige der Mitglieder seines Bürgervereins haben eine orangefarbene Fahne aus dem Fenster gehängt – mit der Parole: „Weg mit den Grossisten.“

In der Via Sarpi, der 800 Meter langen Hauptader der Chinatown von Mailand, findet man 19 chinesische Restaurants, elf chinesische Lederwarengeschäfte, zehn chineische Supermärkte, sieben chinesische  Heilkräuterläden, sechs chinesische Phone Centers und 149 chinesische Großhandelsgeschäfte.  Es gibt eine chinesische Zeitung, zwei chinesische Buchhandlungen und chinesische Videotheken. Junge Chinesen hantieren mit Handy und iPod, die Männer das schwarze kurze Haar mit Gel zu Borsten aufgerichtet, die Frauen auch im Herbst noch in bauchfreier Kleidung.

80 Prozent der Geschäfte in der Mailänder Chinatown um die Via Sarpi gehören Chinesen.  80 Prozent der Einwohner des Viertels, das nur eine halbe Fußstunde von der zentralen Piazza del Duomo entfernt liegt, aber sind Italiener. Viele leiden unter dem rasanten Wandel, den ihr Stadtteil durchmacht. Überall diese fremden Schriftzeichen. Der Bäcker um die Ecke ist verschwunden, der Zeitungskiosk weg, und in der Bar wird chinesisch gesprochen. Nichts ist wie früher. Das vertraute Ambiente hat sich verflüchtigt. So wünschen  sich immer mehr Mailänder die „Mandelaugen“ zum Teufel. „Schuld aber sind nicht die Chinesen“, beteuert Lionetto von „Vivi Sarpi“, „schuld ist die Stadtregierung, die es zugelassen hat, dass ein Ghetto entsteht.“ Es gebe hier klandestine Banken, klandestine Abtreibungsambulatorien und klandestine Hotels – acht Euro die Nacht im Vierbettzimmer – und viele Bordelle, getarnt als Massagesalons. Doch vor Raub und Überfall braucht man sich in der Chinatown nicht zu fürchten. Anders als die Straßenzüge um die Via Monza und Via Padova, in denen sich Überfälle arabischer und lateinamerikanischer häufen, gilt das Viertel als sicher. Zwar wurden vor zwei Monaten am hellichten Tag zwei Chinesen erschossen. Aber das war bloß eine Abrechnung innerhalb der Community. Natürlich fand die Polizei keine Zeugen. „ Omertà cinese“ – chinesische Schweigepflicht. „Hier entwickelt sich ein Viertel, das nach seinen eigenen Gesetzen lebt“, warnt Lionetto.

„An der Ghettobildung sind die Italiener nicht unschuldig“, meint der Sinologe Alessandro De Toni, der die Via Sarpi wie seine Hosentasche kennt, „schließlich verkaufen die Italiener ihre Geschäfte an die Chinesen, weil die doppelt so viel bezahlen – und vor allem cash auf die Hand.“ Natürlich wird den chinesischen Ladeninhabern der „pizzo“, ein Schutzgeld, abgepresst. Und in den Hinterzimmern wird beim Ma-Jong-Spiel viel Geld umgesetzt. Doch dass die Triaden, die mächtigen Verbrechersyndikate Chinas, die Mailänder Chinatown im Griff haben, hält De Toni für blanken Unsinn, für Geschwätz von Boulevard-Journalisten, die ein sensationslüsternes Publikum kitzeln wollen.

Auch der Besitzer der Bar an der Via Niccolini – nennen wir ihn Sonn Wang,  seinen Namen will er nicht preisgeben – glaubt nicht, dass die Triaden in Mailand Fuß gefasst haben. Der zerdepperte Tisch in der Ecke des Lokals war nur eine Warnung einer der zahlreichen chinesischen Jugendbanden, die sich die Straßenzüge bei der Erhebung des „pizzo“ streitig machen. Wang führt ein gut frequentiertes Lokal. Doch die meisten kommen nur, um einen schnellen Espresso zu trinken oder um für einen Euro einen Zettel zu kaufen, auf dem zwei Dutzend Telefonnummern von Personen stehen, die Arbeit anbieten. Wovon Wang lebt, bleibt sein Geheimnis. Immerhin hat er dem italienischen Vorbesitzer 100.000 Euro „buona uscita“ (guten Ausgang) –  Abstandssumme – bezahlt, um einen Kaufvertrag abschließen zu können. „Jeder zahlt hier das Schmiergeld“, versichert er, „100.000 Euro ist die unterste Grenze für die Eröffnung eines Geschäfts. Viele löhnen deutlich mehr.“

60 Mitglieder seines Familienclans seien für die „buona uscita“ aufgekommen, sagt Wang. Nach und nach sind sie fast alle nach Mailand gekommen. Der Vater arbeitet hinter dem Tresen. Zwei Brüder haben ein paar Häuser weiter ein Restaurant eröffnet. Und da viele seiner Verwandten in China geheiratet haben, sind auch verschwägerte Familienmitglieder  nachgezogen.  Sie alle – wie überhaupt 90 Prozent der Mailänder Chinesen – kommen aus Wenzhou, das in der südostchinesischen Provinz Zhejiang liegt. Die Siebenmillionenstadt gilt als das Mekka der chinesischen Privatwirtschaft. Die Wenzhouren, wie die Bewohner der Stadt genannt werden, gelten als die geschäftstüchtigsten Chinesen schlechthin. Schon vor der wirtschaftlichen Öffnung des Reichs der Mitte zu Beginn  der 80er Jahre bezeichnete Jiang Qing, die scharfzüngige Ehefrau des Vorsitzenden Mao Tsetung, Wenzhou als „Schwanz des Kapitalismus“, der abgehackt werden müsse. Heute werden 80 Prozent aller auf dem Globus benutzten Feuerzeuge in Wenzhou hergestellt, und die Hälfte aller Schuhe weltweit stammen aus der Provinz Zhejiang.

Die Mailänder werden sich an die Chinesen gewöhnen müssen. In Prato hingegen, einer Kleinstadt vor den Toren von Florenz, haben die Italiener sich mit ihnen längst arrangiert. In keiner Stadt Italiens gibt es proportional zur Bevölkerung auch nur annähernd so viel Chinesen wie in der alten toskanischen Tuchmacherstadt. Registriert sind im 180.000 Einwohner zählenden Prato etwa gleich viel Chinesen wie im siebenmal größeren Mailand: ungefähr 12.000. Während in Mailand vielleicht noch etwa 3.000 illegale (oder klandestine, wie man hier sagt) Chinesen hinzukommen, sind es in Prato wohl an die 20.000, die „ohne Papiere“ leben. Die meisten von ihnen sind mit einem Touristenvisum eingereist und nach dessen Ablauf nicht zurückgekehrt. Auch wenn die Polizei sie bei einer Kontrolle erwischt, werden sie nur selten abgeschoben. In der Regel drückt man beide Augen zu – weil man sich andernfalls nur bürokratischen Stress einhandelt, weil eine Rückführung ohnehin teuer ist und vielleicht auch, weil hier Polizisten, deren Väter oft noch selbst auswandern mussten, um die Familie durchzubringen, ein größeres Herz haben als anderswo. Und so hoffen die Illegalen einfach auf die nächste „sanatoria“, Massenlegalisierung.

In gewisser Weise haben die Chinesen den Standort Prato gerettet. Anfang 90er Jahre geriet die Textilindustrie– nicht zuletzt aufgrund der aus Fernost importierten Billigware – in eine tödliche Krise. In Prato schlossen die Produktionsstätten reihenweisen ihre Tore. Da sprangen tausende Chinesen ein, die1989 im Rahmen einer „sanatoria“ legalisiert worden waren. Sie kauften die leeren Fabrikhallen zu Spottpreisen, stellten Familienmitglieder als Näherinnen und Näher ein. Heute gibt es in der Stadt rund 3.000 Nähklitschen mit durchschnittlich fünf bis zehn Beschäftigten.

Viele Arbeiter wohnen in der Fabrik – in kleinen Blechverschlägen  innerhalb der Produktionshalle unter ärmlichsten Bedingungen.  Auch die 24-jährige Ginzia. Jahrelang hat sie oft 15 bis 16 Stunden am Tag gearbeitet. Trotz des Hungerlohns hat sie sich so viel absparen können, dass es schließlich für den Kauf einer Nähwerkstatt reichte. Nun beschäftigt sie fünf Personen, alles Verwandte. Ihre Wohnung besteht aus einem etwa sechs Quadratmeter großen Zimmer. Da passen genau das Ehebett, der Tisch, der Stuhl und der Computer hinein, an dem ihr Ehemann Zheng über Skype sich mit seinen Freunden in China unterhält. Gekocht wird in der großen Halle, wo auch die Gemeinschaftstoiletten und die Nähmaschinen stehen.

Jiang, gerade 20 geworden, schiebt mit flinken Fingern den Stoff unter die ratternde Nadel. Beim Gespräch schaut er kaum auf. Er könnte Zeit verlieren. Hier wird im Akkord gearbeitet. Seit anderthalb Jahren schon schuftet Jiang hier. Wie so viele seiner Freunde hat er sein Dorf in China verlassen und ist in die aufblühende Metropole  Wenzhou geflohen. Dort hat er ebenfalls an der Nähmaschine gesessen.  Aber in Prato verdient er deutlich mehr. Zudem sind Kost und Logis gratis. Der Chef stellt ihm einen Verschlag zur Verfügung, noch winziger als jener von Ginzia und  Zheng, und der Chef verköstigt ihn auch zweimal am Tag – korrekter müsste man sagen: füttert ihn ab. Zehn Minuten Zeit gibt man den Nähern für das Mittagessen. Dann heißt es wieder: zurück an die Maschine. Es ist ein freudloses Leben. Aber für Jjang ist es, wie für alle hier, nur der Anfang einer erträumten Karriere. Der Chef selbst, ein etwa 30-jähriger Chinese, ist wortkarg. Er sagt nur: „Ich habe auch so begonnen.“

„Wir sind machtlos“, sagt Massimiliano Brezza, Chef der Textilgewerkschaft von Prato, „ die Chinesen bilden eine sehr geschlossene Gesellschaft, sie schotten sich ab. Chinesen arbeiten für Chinesen. Da kommen wir nicht ran.“ Nicht einer von ihnen ist in der Gewerkschaft.

„Jedes Jahr werden einige dutzend chinesische Nähfabriken polizeilich geschlossen“, versichert Oberst Marco Defila, Kommandant der Guardia di Finanza, der Zollbehörde, von Prato, „wegen Beschäftigung nicht gemeldeter Personen, wegen Zweckentfremdung von Gewerberaum und wegen Steuerbetrug.“ Trotzdem werden von Jahr zu Jahr mehr Textilien hergestellt. Gewiss weiß im überschaubaren Prato die Polizei, wo gesetzeswidrig gewohnt, gearbeitet und am Fiskus vorbei gewirtschaftet wird. Aber wenn sie konsequent durchgreifen würde, müsste die Stadt wohl einigen tausend Chinesen eine Notunterkunft bereitstellen. Da ist es allemal billiger, sie unbehelligt in ihren Fabriken schlafen zu lassen.

Das große Problem, mit dem sich Oberst Defila herumschlägt, sind Import und Herstellung von Plagiaten. Vor allem im Ledersektor – Schuhe, Taschen, Gürtel, Portefeuille – wird keine Top-Marke verschont. Gucci und Nike sind zur Zeit die Hauptopfer. Zudem werden Hunderttausende von Kleidungsstücken aus China eingeführt, die dann – nach einem  kleinen Eingriff von wenigen Nadelstichen – als „made in Italy“ verkauft werden. Im vergangenen Jahr hat die Zollbehörde allein in der Provinz Prato 2,2 Millionen Stück gefälschter oder falsch deklarierter Ware beschlagnahmt, im laufenden Jahr sind es jetzt schon über drei Millionen – zum großen Teil Importware, zu einem kleinen Teil vor Ort produzierte Güter. „Der Wert der in Prato in den letzten zweieinhalb Jahren konfiszierten Ware beläuft sich auf über 100 Millionen Euro“, sagt Defila, der im übrigen  kein schlechtes Wort über die Chinesen redet. Er bescheinigt ihnen sogar den Willen, sich integrieren zu wollen. „Aber es fehlt an Kommunikation.“

Bis vor fünf Jahren haben die Chinesen als Näher und Subunternehmer für italienische Firmen gearbeitet. Doch nach und nach haben sie ihre eigenen  gegründet. Die Straße nach Macrolotto, der Industriezone von Prato, ist von Tafeln gesäumt, die auf italienisch und chinesisch für „Pronto moda“, für die rund 300 Konfektionsfirmen in der Stadt, werben. Zu den erfolgreichsten unter ihnen zählt „Koralline“. Sie gehört Francesco Zhan, der, wie so viele Chinesen hier, sich einen italienischen Vornamen zugelegt hat, „weil die Italiener sich chinesische Namen so schlecht merken können“.

Zhan braust im Offroader, Marke Mercedes, an. Wie ein arrivierter Firmeninhaber sieht der 26-Jährige in seinen Jeans und dem weißen T-Shirt nicht gerade aus. Mit 18 Jahren hat er das Unternehmen gegründet. Heute beschäftigt er sechs italienische Designer. Auf dem Tisch liegen Hochglanzbroschüren seiner Kollektionen. „Ich bin anders als alle andern hier“, sagt er selbstbewusst, „ich produziere keine Billigware.“ Seine eleganten Röcke, sportlichen Hosen, ausgefallenen T-Shirts, Pants, Tops und Jackets preist er in mehrseitigen Inseraten in „Glamour“, „Cosmopolitain“, „Elle“ und „Vanity Fair“ an. Fünf Millionen Umsatz machte der Jungunternehmer im vergangenen Jahr.

Zhan steht für eine neue chinesische Generation, die nicht mehr als Immigranten ein Schattendasein führen will, sondern sich als Vorbote einer expandierenden  Weltmacht versteht. In Deutschland ist diese noch nirgends so sichtbar angekommen wie in Budapest, Bukarest oder Mailand. Doch auch hierzulande gab es einst ein kleines Chinesenviertel. Es entstand nach dem Abschluss des deutsch-chinesischen Vertrags von 1921, der die Niederlassungs- und Handelsbedingungen der Chinesen in Deutschland regelte. Ihr Zentrum war die kleine Schmuckstraße im Hamburger Stadtteil St. Pauli. Dort und in den anliegenden Straßen hatten einige hundert Chinesen, fast ausschließlich Männer, vor allem ausgemusterte Seeleute, Wohnsitz genommen.  „Haus bei Haus in der Schmuckstraße ist von der gelben Rasse bewohnt, jedes Kellerloch hat über oder neben dem Eingang seine seltsamen Schriftzeichen“, schrieb Ludwig Jürgens, der Heimatdichter der Hansestadt 1930, „die Fenster sind dicht verhängt, über schmale Lichtritzen huschen Schatten, kein Laut dringt nach außen. Alles trägt den Schleier eines großen Geheimnisses. Geht ein Mensch über die Straße, vielleicht mit kurzen, abgehackten Schritten, so ist es ein Chinese, eine Tür klappt irgendwo und er ist verschwunden. Niemand weiß, was diese Menschen unter sich in den Wohnungen treiben.“

Das Klischee vom verschlagenen Chinesen, der zwischen Opiumhöhlen und Spielhöllen dunklen Geschäften nachgeht,  war in Polizei- und Presseberichten, in der Literatur wie im Alltag weit verbreitet. Es leistete der generellen Kriminalisierung der Chinesen Vorschub. Die Nationalsozialisten, die zudem befürchteten, das „fremdvölkische Element“ könne in den Betten St. Paulis deutsches Blut verunreinigen, nahmen in der so genannten „Chinesenaktion“ im Mai 1944 schließlich unter dem Vorwurf der „Feindbegünstigung“, also Spionage, sämtliche Chinesen fest, derer sie in St. Pauli habhaft werden konnten. Es waren 130 Männer. Nach dreimonatiger Haft im Gestapo-Gefängnis von Hamburg-Fuhlsbüttel wurden sie zum großen Teil ins Arbeitserziehungslager im linkselbischen Stadtteil Wilhelmsburg eingewiesen, wo sie unter den Schlägen ukrainischer Wachleute Schwerarbeit verrichten mussten. Mindestens 17 von ihnen überlebten Strapazen und Misshandlungen nicht.

An das Chinesenviertel von Sant Pauli erinnert heute nur noch eine kleine Gedenktafel an der Schmuckstraße. Aber die Chinesen sind längst zurückgekommen. Etwa zehntausend Menschen aus Rotchina, wie man einst sagte, als die gelbe Gefahr noch ein geflügeltes Wort war, leben heute in Hamburg. Der Hafen der Stadt ist der größte Umschlagplatz für chinesische Güter in Europa. Jeder vierte der jährlich rund acht Millionen Container, die hier ver- und entladen werden, wird nach China verschifft oder kommt von dort. Über 400 chinesische Unternehmer, zumeist Kleinhändler, sind in der Hansestadt gemeldet. Hamburg ist in Deutschland die Stadt mit den meisten Chinesen. Aber eine Chinatown sucht man an der Alster vergeblich.

Die erste „Chinatown“ auf deutschem Nachkriegsboden soll anderswo entstehen, in Oranienburg, wenige Kilometer nördlich von Berlin – wenn Stefan Kunigam seinen Traum verwirklichen kann. Der diplomierte Ingenieur und Geschäftsführer der in Frankfurt (Oder) ansäßigen Brandenburg China Project Management GmbH will eine chinesische Stadt bauen. Die Siedlung, die man – ähnlich wie die Chinatown von San Francisco – durch ein imposantes Tor betreten wird, soll von einer chinesischen Mauer umgeben sein und 2.000 Chinesen beherbergen. Pagoden, Teehäuser, Kräuterläden, Heilkundepraxen, Restaurants und auch eine Sprachschule sollen für chinesisches Flair sorgen.  Der Bauausschuss der Stadtverordnetenversammlung hat sich im Prinzip für das Projekt ausgesprochen. Christian Kielczynski, Leiter des Stadtplanungsamtes von Oranienburg, der für das Vorhaben durchaus offen ist, wartet nun darauf, dass Kunigam seine Pläne konkretisiert. Der Ingenieur seinerseits, der offenbar mit chinesischen Investoren in Verhandlungen ist, findet es allerdings „wenig zweckdienlich“, schon jetzt das Projekt in der Öffentlichkeit hochzukochen.

Oranienburgs Bürgermeister Hans-Joachim Laesicke, der einer Chinatown durchaus etwas abgewinnen kann, meinte gegenüber der Presse lakonisch, falls nur eine weitere Investitionsruine entstünde, würde das auf dem fraglichen Gelände ohnehin nicht weiter auffallen. Kunigam will seine Chinatown auf dem 1939 fertiggestellten ehemaligen Flugplatz der Heinkel-Werke errichten. Diese wollten ursprünglich Passagier- und Frachtflugzeuge für die Lufthansa bauen, produzierten dann aber Bomber für die Luftwaffe der Wehrmacht. Der Flugplatz wurde im letzten Kriegsmonat von amerikanischen Bombern vollständig zerstört. Die Sowjets bauten ihn wieder auf, die letzten russischen Soldaten zogen 1994 ab. Der Flugplatz liegt auf einer Brache zwischen einem Industriekanal und der Bundesstraße Berlin-Stralsund. Der Tower ist eine Ruine, und die riesige Einfliegehalle, in der vor der Auslieferung der Flugzeuge letzte Einstellarbeiten vorgenommen wurden und die heute unter Denkmalschutz steht, sieht schwer mitgenommen aus. Die Piste ist zu großen Teilen von Unkraut überwuchert. Und – genauso wie in Parchim – kreisen Krähen über der gespenstischen Industrielandschaft.

Thomas Schmid, „Die Zeit“, 29.11 2007

(in der Print-Ausgabe der „Zeit“ erschien der Beitrag auf die Hälfte gekürzt, in der Online-Ausgabe vollständig)

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