Ein „Déjeuner“ im Elysée


Abdelmadjid Tebboune griff zur ganz großen Keule. Per Pressemitteilung verkündete Algeriens Präsident, es handele sich hier um „eine nicht hinnehmbare Beschädigung des Gedenkens der 5.630.000 tapferen Märtyrer, die im heroischen Widerstand gegen die Invasion der Kolonialmacht Frankreich sowie in der Ruhmreichen Revolution der nationalen Befreiung ihr Leben geopfert haben.“ 132 Jahre lang hat Frankreich über Algerien geherrscht. Über die offizielle algerische Zahl von über fünf Millionen Todesopfern mag man streiten. Unbestritten ist, dass allein im Unabhängigkeitskrieg 1954-1962 mindestens 300.000 Algerierinnen und Algerier ums Leben kamen. Hunderttausende wurden von den Franzosen gefoltert, zwei Millionen zwangsumgesiedelt, hunderte Dörfer zerstört. Das Trauma sitzt tief. Normalisiert haben sich die Beziehungen zwischen Algier und Paris nie. Zur Zeit sind sie wieder zerrüttet. Algerien hat seinen Botschafter in Paris zurückgerufen und Frankreichs Militärmaschinen dürfen seit dem Wochenende nicht mehr über algerisches Territorium fliegen.

Am Anfang der aktuellen Querele zwischen Algerien und Frankreich stand ein Mittagessen. Emmanuel Macron hatte am Donnerstag vergangener Woche 18 junge Frauen und Männer in den Elysée-Palast geladen und mit ihnen zwei Stunden lang parliert. „Ihr tragt einen Teil der Geschichte und auch eine Last“, sagte der Präsident zu seinen Gästen. Diese kamen aus verschiedenen Milieus, hatten aber eines gemeinsam: Ihre Großeltern hatten in den Reihen der algerischen Unabhängigkeitsbewegung FLN oder als Soldaten der französischen Armee gekämpft, als Pieds-noirs (in Algerien geborene französische Siedler) oder Juden ihr Land verlassen müssen oder waren Harkis, Angehörige der algerischen Hilfstruppen der französischen Armee.

Unter den Geladenen war auch der Enkel von Mehdi Boumendjel, den die Franzosen zu Tode gefoltert hatten, was Macron im März 2020 öffentlich eingestand – übrigens 19 Jahre, nachdem der verantwortliche Kommandant Paul Aussaresses, der den Mord damals als Suizid tarnen ließ, dies in seinen Memoiren selbst zugegeben hatte. Ebenfalls mit von der Partie war der Urenkel von General Raoul Salan, einst Oberbefehlshaber der französischen Truppen in Algerien, später Chef der rechtsextremen Terrortruppe OAS, die in Algerien und in Frankreich über 2.000 Menschen ermordete. Zugegen waren also Kindeskinder von Opfern wie von Tätern. Und eingeladen war auch ein Mitarbeiter von „Le Monde“. Denn Macron wollte nicht ein trautes Gespräch im kleinen Kreis. Er suchte die Öffentlichkeit.

Und was die Zeitung danach – nie dementiert – berichtete, war Zündstoff. Der Präsident beklagte beim Mittagsschmaus, dass es in Algerien eine offizielle Geschichtsschreibung gebe, die „nicht auf Wahrheiten basiert“, sondern „auf einem Diskurs, der auf einem Hass gegen Frankreich beruht“. Auf den Einwand eines in Algier aufgewachsenen Teilnehmers der illustren Runde, die algerische Jugend habe keinen Hass auf die Franzosen, präzisierte Macron: „Ich spreche nicht von der algerischen Gesellschaft, sondern vom politisch-militärischen System“ und fügte hinzu: „Ich stehe in gutem Gespräch mit Präsident Tebboune, aber ich sehe, dass er in einem System festsitzt, das sehr hart ist.“ Und nebenbei fragte Macron rhetorisch: „Hat es denn vor der französischen Kolonisierung überhaupt eine algerische Nation gegeben?“

Gewiss hat Macron in vielem recht. Die offizielle Geschichtsschreibung ist in Algerien tatsächlich oft weniger der Wahrheit als der Legitimierung der Herrschaft verpflichtet. Dass die Macht des algerischen Präsidenten von einem opaken Klüngel von Clans aus Armee und Geheimdienst begrenzt wird, ist in Algerien ein offenes Geheimnis. Und es lässt sich trefflich darüber streiten, ob es eine algerische Nation vor der französischen Kolonisierung gegeben hat. Welcher Teufel aber hat Macron geritten, alle diplomatischen Gepflogenheiten über Bord zu werfen und Algerien, dessen Aussöhnung mit Frankreich er seit geraumer Zeit erklärtermaßen anstrebt, über die einkalkulierte Veröffentlichung seiner brisanten Aussagen zu brüskieren?

Ist Macron frustriert, weil die Aussöhnung nicht vorankommt? Der französische Präsident hat sich deutlicher als all seine Vorgänger zur Verantwortung des französischen Staats für Kriegsverbrechen bekannt. Er nannte den Kolonialismus ein „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, machte den französischen Staat verantwortlich für die Ermordung von FLN-Partisanen und entschuldigte sich vor zwei Wochen öffentlich bei den „Harkis“ und ihren Nachkommen. Von den 160.000 algerischen Hilfssoldaten der französischen Armee wurden bei Kriegsende etwa 42.500 evakuiert – und in Frankreich oft über ein Jahrzehnt lang in stacheldrahtumzäunte Lager eingesperrt. Die „weißen“ Pieds-noirs nahm man widerwillig auf, von den arabischen Harkis wollte man nichts wissen. Sie waren verachtet, verfemt und in jeder Hinsicht benachteiligt.

Noch schlimmer ging es den Harkis in Algerien. Dort wurden nach Kriegsende Zehntausende als Kollaborateure Frankreichs massakriert. Es ist bis heute ein Tabu. Auch die politischen Auseinandersetzungen innerhalb der FLN, die oft in Haftstrafen, manchmal auch zur physischen Eliminierung führten, passen nicht ins Narrativ von einem heroischen Krieg, das bis heute die Herrschaft der algerischen Machthaber legitimiert. Wer dieses Narrativ in Frage stellt, stellt immer auch die Legitimität der Herrschaft in Frage.

Macron hat es da leichter, auch wenn seine Eingeständnisse und versöhnlichen Gesten regelmäßig zum Furor der rechten Opposition führen. Doch ist die von ihm angestrebte Aussöhnung kein Selbstzweck. Vor allem aber geht es ihm um die Aussöhnung der Franzosen mit ihrer eigenen Geschichte. Denn im April nächsten Jahres wird in Frankreich ein neuer Präsident gewählt oder eine neue Präsidentin oder wieder der alte. In Frankreich leben sieben Millionen Menschen, die vom Algerienkrieg persönlich betroffen sind, weil sie selbst algerischer Abstammung sind, ihre Eltern oder ihre Großeltern in Algerien gekämpft haben, auf welcher Seite auch immer, oder weil sie aus dem Land geflüchtet oder vertrieben wurden. Die allermeisten von ihnen sind stimmberechtigt.

(erschienen in der „Wochenzeitung“ [Zürich] am 07.10.2021)

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