„Bringt Feuerlöscher, bitte!“

Der Hilferuf kam über Facebook: „Man brennt mein Haus in Cota Cota nieder. Ich bitte um Hilfe, bitte bringt Feuerlöscher in die 34. Straße.“ Cota Cota ist ein Stadtteil von La Paz, Verwaltungshauptstadt von Bolivien, und in der 34. Straße wohnt, nein: wohnte, muss man nun sagen, Waldo Albarracín, Rektor der Universidad Mayor de San Andrés, der ältesten, schon 1830 gegründeten Universität des Landes. Das in meterhohen Flammen stehende zweistöckige Haus des 62-jährigen Professors kann man auf einem youtube-Filmchen sehen. Man hört verzweifelte Schreie. Weder Feuerwehr noch Polizei schreiten ein. Das war am Sonntag, dem 10. November, abends um neun Uhr. Drei Stunden zuvor hatte Präsident Evo Morales seinen Rücktritt verkündet, zu dem ihm der Armeechef „geraten“ hatte, was nur eine schlecht verblümte Aufforderung war. Anhänger des gestürzten Präsidenten errichteten umgehend Barrikaden, setzten Busse in Brand. Das Haus Albarracíns wurde niedergebrannt.

Albarracín ist ein Wissenschaftler. Aber bekannter ist er in Bolivien als Mann, der sich seit Jahrzehnten an vorderter Front für Bürger- und Menschenrechte einsetzt. Von 1988 bis 1993 gehörte er einem Komitee an, das sich zum Ziel setzte, einen Prozess gegen Luis García Mesa durchzusetzen, den wohl schrecklichsten der zahlreichen Militärdiktatoren der jüngeren Geschichte des Landes. García Mesa, der zwar nur ein Jahr nach seinem Putsch die Macht 1981 wieder abgeben musste, hatte sich 1987 ins Ausland abgesetzt und wurde 1993 zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt. 1994 wurde er in Brasilien aufgespürt und im Folgejahr an Bolivien ausgeliefert, wo er im vergangenen Jahr starb.

1992 bis 2003 war Albarracín Präsident der APDHB, der bekanntesten Menschenrechtsvereinigung des Landes. In jenem Jahrzehnt fand auch das „Weihnachtsmassaker“ statt: Zwei Tage vor Heiligabend starben 1996 bei der polizeilichen Räumung von zwei besetzten Goldminen in der Provinz Potosí elf Menschen. Die APDHB recherchierte hartnäckig, ohne viel Erfolg – aber mit der Folge, dass im Januar 1997 Albarracín auf dem Weg zur Universität entführt wurde. „Acht Männer in Zivilkleidung zerrten ihn aus dem Fahrzeug“, heißt es in einem Appell von Amnesty International, „mit verbundenen Augen wurde er an einen unbekannten Ort geführt, wo er während mehrerer Stunden auf Kopf, Ohren und Hoden geschlagen wurde. Man drohte ihm, ihn zu töten.“ Schließlich wurde der Entführte ins Hauptquartier der Kriminalpolizei gebracht, die ihn mit gebrochenen Rippen ins Polizeikrankenhaus überwies.

In den 90er Jahren setzte sich Albarracín für die politischen Gefangenen und die politischen Flüchtlinge ein, die in Bolivien Schutz suchten, aber auch für Kokapflanzer, die sich gegen die Zerstörung ihrer Plantagen durch die Antidrogenpolizei wehrten. Für sein langjähriges Engagement für Bürger- und Menschenrechte wurde er 1998 in Frankfurt am Main mit dem Menschenrechtspreis der deutschen Sektion von Amnesty International ausgezeichnet. 2003-2008 war Albarracín als Ombudsman gemäß der Verfassung für die Verteidigung der Menschenrechte und der Rechte der indigenen Gemeinschaften gegenüber den staatlichen Institutionen zuständig. Seit 2013 ist er Rektor der Universidad Mayor de San Andres.

Albarracín gehört zu den bekanntesten Exponenten der Zivilgesellschaft Boliviens. Dass sein Haus am 20. November lichterloh brannte, war aber weniger eine Antwort auf sein menschenrechtliches als auf sein politisches Engagement. Schon drei Wochen vor den dramatischen Ereignissen, die Evo Morales ins mexikanische Exil trieben, hatte Albarracín für Schlagzeilen gesorgt.  Da stand er, getroffen von einer Tränengasgranate, mit einer großen Platzwunde an der Stirn, blutüberlaufenem Gesicht und blutdurchtränktem Hemd vor der Fernsehkamera. Am Vortag, dem 20. Oktober, hatte Bolivien gewählt. Evo Morales, seit Januar 2006 an der Macht, der erste Präsident Boliviens, der nicht der weißen Oberschicht, sondern als Abkömmling einer Aymara-Familie der indigenen Unterschicht entstammt, wollte ein viertes Mandat antreten. Die unter seiner Regierung verabschiedete Verfassung erlaubt zwar nur zwei Mandate hintereinander. Ein drittes hatte ihm das Verfassungsgericht jedoch zugestanden, weil er das erste noch aufgrund der alten Verfassung angetreten hatte. Um ein viertes Mandat antreten zu können, versuchte Morales 2016, über ein Referendum die neue Verfassung zu ändern. Doch verlor er, wenn auch sehr knapp, die Volksabstimmung. Dies hinderte das Verfassungsgericht jedoch nicht, ihm 2017 verfassungswidrig ein viertes Mandat zuzubilligen – mit der seltsamen Begründung, dass die Beschränkung der Anzahl von Mandaten die „politischen Rechte“ von Evo Morales unzulässig beschneide. Die Opposition sprach von Putsch. Soweit zur Vorgeschichte der umstrittenen Wahl vom 20. Oktober.

Am Wahltag selbst geschah dann Seltsames: Nach Auszählung von 83,8% der Stimmen lag Morales mit 45,3% vor Carlos Mesa, dem Zweitplatzierten, der nur 38,2% erreichte. Das bolivianische Wahlgesetz sieht eine Stichwahl vor, wenn kein Kandidat eine absolute Mehrheit erreicht oder wenigstens einen Vorsprung von zehn Prozent. So sah also alles – bei einer Differenz von nur 7,1% – nach einer Stichwahl aus, die Carlos Mesa, unterstützt von den andern Kandidaten der Opposition, vermutlich gewonnen hätte. Aber dann wurden – angeblich auf Grund technischer Schwierigkeiten – für über 23 Stunden keine weiteren Ergebnisse verkündet, bis am 21. Oktober das Wahlgericht vor die Presse trat und bekanntgab, dass nach Auszählung von 95,30% hätten 46,86% für Morales und 36,72% für Mesa gestimmt hätten. Macht einen Unterschied von 10.14%. Stichwahl unnötig. Morales Präsident.

Die Opposition sprach sofort von Wahlbetrug. Albarracín, nicht nur Universitätsrektor, sondern auch Präsident des „Nationalen Komitees zur Verteidigung der Demokratie Boliviens“ (CONADE), einer zivilgesellschaftlichen Organisation, forderte umgehend ein neues Wahlgericht und Neuwahlen. Er rief zu Massenprotesten auf, die sich ausweiteten und den Armeechef schließlich bewogen, Morales zum Rücktritt zu „raten“. Der Präsident, den Albarracín in jüngster Zeit immer wieder als „Diktator“ bezeichnet hatte, trat den Weg ins Exil an. Nicht nur seine Anhänger sprechen von einem Staatsstreich. Ein klassischer Putsch war es gewiss nicht. Weder wurde der Notstand ausgerufen, noch das Parlament aufgelöst, noch eine Pressezensur eingeführt, und es kam auch zu keinen Massenfestnahmen.

Und doch riecht es nach Putsch. Jeanine Áñez, die verfassungsgemäß – bei Absenz des Präsidenten, des Vizepräsidenten und der Präsidenten des Senats und des Abgeordnetenhauses (alle hatten sich abgesetzt) – nur interimistisch bis zu Neuwahlen spätestens in drei Monaten Präsidentin sein dürfte, traf sogleich weitreichende außenpolitische Entscheidungen und setzte klare Signale. Sie verkündete den Abbruch der Beziehungen zu Venezuela, dem bislang wichtigsten Partner Boliviens. Zu ihrem Innenminister ernannte sie Arturo Murillo, der sogleich versprach, seinen abgetauchten Vorgänger im Amt zu „jagen“. Der Armee, stellte Áñez, für die Morales ein „Dieb“ und „Verbrecher“ ist, einen Freibrief aus, der dann doch international Aufsehen erregte. Sie unterzeichnete ein Dekret, wonach Militärs „für Operationen zur Wiederherstellung der inneren Ordnung und öffentlichen Stabilität“ strafrechtlich nicht zur Verantwortung gezogen werden. Es ist unübersehbar: Die revanchistischen, weit rechts angesiedelten Kräfte der weißen Oberschicht, die die Präsidentschaft von Morales, dem Indigenen aus der Unterschicht, immer nur als Unfall in der Geschichte Boliviens begriffen haben, greifen nach der Macht.

Die Situation ist explosiv. Morales’Anhänger drohen, mit Straßenblockaden die Versorgung der Metropole La Paz zu unterbinden. Die neue Regierung kündigt an, hart durchzugreifen.  Die bolivianische Bischofskonferenz, die UNO und die EU versuchen zu vermitteln. Und Waldo Albarracín? Der Rektor erstattete nach der Zerstörung seines Hauses gegen einen örtlichen Funktionär der Partei von Morales Anzeige wegen ersuchten Mordes und fordert die Interimspräsidentin auf, die Bolivianer zur Versöhnung aufzurufen, denn „ein Zusammenleben in gegenseitigem Respekt ist möglich.“

(erschienen im Januar 2020 im „Amnesty Journal“)