Es war eine bizarre Szene. Da sassen, leger gekleidet, zwei junge Reporterinnen und ein Reporter vor dem alten Herrn. Sie hatten weder Block noch Bleistift bei sich. Die brauchten sie auch gar nicht. Denn Tunesiens Präsident Kais Saied hatte am vergangenen Freitag das Trio der New York Times in den Palast geladen, nicht um ein Interview zu geben, wie er gleich eingangs klarstellte, sondern um eine Botschaft an die Welt zu senden. „In meinem Alter“, sagte er, de Gaulle zitierend, „werde ich doch nicht eine Karriere als Diktator beginnen.“
Saied stand offenbar unter Rechtfertigungszwang. Am 25. Juli hatte er den Ministerpräsidenten, zwei weitere Minister, den Chef des Staatsfernsehens gefeuert, die Kompetenzen des Generalstaatsanwalts übernommen, die Arbeit des Parlaments für 30 Tage suspendiert und die Immunität der Abgeordneten aufgehoben. Und dann hat der Mann noch die Chuzpe zu behaupten, er habe ganz im Einklang mit der Verfassung gehandelt.
Saied, muss man wissen, dozierte bis zu seiner Pensionierung vor drei Jahren an der Universität Tunis Verfassungsrecht und gehörte der Expertenkommission an, die die Ausarbeitung der Verfassung von 2014 überwachte, die sich Tunesien nach dem Sturz des langjährigen Diktators Zine el-Abidine Ben Ali gab. Im Artikel 80, auf den sich Saied beruft, heisst es, dass bei „unmittelbarer Gefahr für die Institutionen der Nation sowie für die Sicherheit und Unabhängigkeit des Landes“ der Präsident die „notwendigen Massnahmen“ ergreifen kann. Was unter diesen zu verstehen ist, wird nicht präzisiert. Wohl aber hält der Artikel fest, dass der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident konsultiert werden müssen und das Verfassungsgericht informiert werden muss. Der Parlamentspräsident, Rached Ghannouchi, Chef der islamistischen Ennahda, behauptet, nicht konsultiert worden zu sein, und ein Verfassungsgericht, das im Übrigen einer Verlängerung der Massnahmen, wie sie Saied bereits angedroht hat, zustimmen müsste, existiert in Tunesien bis heute nicht. Zudem steht im Artikel 80, dass während der Notstandsperiode das Parlament permanent tagt – Saied aber hat es in die Wüste geschickt.
Yadh Ben Achour, renommierter Professor für Öffentliches Recht und nach dem Sturz der Diktatur im Arabischen Frühling 2011 Präsident der staatlichen Behörde „für die Verwirklichung der Ziele der Revolution, der politischen Reformen und des demokratischen Übergangs“ nimmt kein Blatt vor den Mund und spricht von einem „veritablen Staatsstreich“. Er warnt eindringlich vor einer Diktatur.
Doch in Tunis wurde der Putsch mit einem ohrenbetäubenden Hupkonzert begrüsst. Es war, als ob der Präsident den Forderungen der Demonstrierenden nachgekommen sei. Tagsüber waren in der tunesischen Hauptstadt Tausende gegen die dramatischen Folgen der Wirtschaftskrise und gegen das katastrophale Versagen der Regierung bei der Bekämpfung der Pandemie auf die Strassen gegangen und hatten die Auflösung des von den Islamisten dominierten Parlaments sowie den Rücktritt der Regierung gefordert.
Nicht nur in Tunis, sondern in zahlreichen weiteren Städten an der Küste und im Landesinnern wurde protestiert. „Man hat uns vergessen, wir leben in Armut und sind dazu noch schutzlos dem Virus ausgesetzt“, sagt Ghzela M‘hamdi, eine politische Aktivistin, Feministin, links, Gewerkschaftlerin, im Gespräch mit der WOZ. Sie lebt in Gafsa, dem Zentrum der staatlichen Phosphat-Industrie, traditionell einem der wichtigsten Devisenbringer Tunesiens. „Am 25. Juli gingen wir auf die Strasse, forderten die Auflösung des Parlaments und demonstrierten gegen die Ennahda. Wir beschlossen, zu protestieren, bis sich etwas ändert. Aber was sollte sich je ändern? Am Abend kam die Antwort von unserem Präsidenten. Wir waren sehr glücklich über seine Entscheidung. Bei mir mischt sich Hoffnung mit Vorsicht. Es kann ja auch schief gehen, obwohl der Präsident ein ehrlicher Knochen ist, anständig und seriös. Wir warten ab.“
Saied wirkt steif und professoral. Er strahlt den Charme eines Staubsaugerverkäufers aus, aber gilt weithin als integer. Bei den Präsidentschaftswahlen 2019 gewann er als parteiloser Kandidat im Stichentscheid 73 Prozent der Stimmen. Bei den Jugendlichen unter 25 Jahren waren es sogar 90%. Diesen überwältigenden Sieg hat er vor allem seinem Versprechen zu verdanken, die Korruption zu bekämpfen, aber auch einem durchaus populistischen Diskurs. Seine Verachtung für Parteien und Parlament, seine Reden gegen die parasitäre Kleptokratie, gegen die Eliten schlechthin, versprachen einen Neuanfang, ja für viele sogar eine Wiederbelebung einer abgewürgten Revolution.
Für Freiheit, aber noch mehr für Brot und Würde, war im Polizeistaat Tunesien 2011 eine frustrierte Jugend ohne Lebensperspektive auf die Strasse gegangen. Heute darf man die Regierung ungestraft kritisieren, man darf demonstrieren, Parteien gründen, doch den allermeisten Menschen in Tunesien geht es wirtschaftlich deutlich schlechter als unter der Diktatur. Die Pandemie hat schon das zweite Jahr in Folge die Tourismusbranche arg gebeutelt. Aber das Problem liegt tiefer. Eine ineffiziente, aufgeblähte Bürokratie und vor allem eine wild wuchernde Korruption behindern jeden wirtschaftlichen Fortschritt.
Und dafür wird vor allem die islamistische Ennahda verantwortlich gemacht. Zahlreiche ihrer Büros wurden vergangene Woche verwüstet. Die Ennahda stellt im Parlament die grösste Fraktion, obwohl sie nicht einmal ein Viertel der Mandate innehat. Sie war seit dem Sturz der Diktatur Stützpfeiler aller Regierungen, auch wenn sie diese in den letzten acht Jahren nicht mehr selbst anführte. An der politischen Blockade, die alle dringend notwendigen Reformen und auch die Bildung eines Verfassungsgerichts verhindert, trifft sie zweifellos die Hauptschuld. Die Ennahda hat zudem viele Kader der RCD, der Staatspartei des 2011 gestürzten Diktators, in ihre Seilschaften eingebunden. Bei vielen Jugendlichen gilt sie schlicht als die neue Staatspartei einer verhassten Elite.
In dieser Situation empfanden in Tunesien viele – einer Umfrage zufolge eine Mehrheit von 87 Prozent – den Staatsstreich als einen Befreiungsschlag. Der politisch mächtige Gewerkschaftsbund UGTT, die Anwaltskammer und die Menschenrechtsliga, die – zusammen mit dem Arbeitgeberverband – 2015 den Friedensnobelpreis erhielten, weil sie über eine Mobilisierung der Zivilgesellschaft die schleichende Islamisierung der tunesischen Politik gestoppt und einen nationalen Dialog erzwungen hatten, haben sich in einer gemeinsamen Erklärung hinter den Staatspräsidenten gestellt.
Schon hat Saied eine Liste von 460 Industriellen, Geschäftsleuten und Verwaltungsangestellten veröffentlichen lassen, die sich unter Ben Ali auf Kosten der öffentlichen Hand illegal bereichert haben. Der Präsident bot ihnen einen Deal an: Wenn sie einen Teil des Geldes zurückerstatteten, das dann in den Bau von Schulen und Krankenhäusern in traditionell vernachlässigten Gegenden des Landesinnern investiert werde, könnten sie einer Gefängnisstrafe entgehen.
Wenn Saied im Kampf gegen die Korruption nachhaltige Erfolge vorweisen und er Reformen in Gang setzen kann, wird man ihm den Staatsstreich, den viele so nicht nennen mögen, wohl nachsehen. Schliesslich hat man ja auch de Gaulle, den Saied vor dem Trio der New York Times zitiert hatte, später verziehen, dass er 1958 im Alter von 67 Jahren nach einem Putsch an die Macht gekommen war. Eine Karriere als Diktator hat er damals nicht begonnen, sondern die Fünfte Republik etabliert, eine Präsidialrepublik, die die parlamentarische Vierte Republik ablöste. Saied ist heute 68 Jahre alt. In Tunesien geht die Rede von einer Dritten Republik um. Sie soll die nach dem Arabischen Frühling gegründete Zweite Republik ablösen, in der sich Staatspräsident und Ministerpräsident die Exekutive teilen, was immer wieder zu politischen Blockaden geführt hat.
Vielleicht will es die Ironie der Geschichte, dass gerade ein Staatsstreich der einzigen Demokratie im arabischen Raum eine neue Chance eröffnet hat.
(erschienen in der „Wochenzeitung“ [Zürich]) am 05.08.2021)