Heim in den Schoß der Familie

Es war ein theatralischer Abschied. In Addis Abeba, der Hauptstadt Äthiopiens, wo sich die Staatsoberhäupter ganz Afrikas zu einem Gipfel trafen, trat der Vertreter Marokkos vor das Mikrophon und verlas eine Botschaft seines Königs: „Ich bedaure es, aber nun schlägt die Stunde der Trennung. Auf bessere Zeiten wartend, sagen wir euch Adieu und wünschen euch viel Glück mit eurem neuen Partner.“  Die Mitglieder der marokkanischen Delegation skandierten unisono: „Die Sahara ist marokkanisch und wird es bleiben!“ – und verliessen den Gipfel.

Das war im November 1984. Die panafrikanische Organisation nannte sich damals noch „Organisation der Afrikanischen Einheit“ (OAU). Marokkos König hiess Hassan II., und der neue Partner war Mohamed Abdelaziz, Chef der Befreiungsfront Polisario und Präsident der Demokratischen Arabischen Republik Sahara (DARS). Seine Majestät fand es eine Zumutung, neben dem Guerillaführer sitzen, der ihm die frühere spanische Kolonie Westsahara streitig machte, und war dem Gipfel ferngeblieben.

Am kommenden Montag kommen die Staatsoberhäupter der Afrikanischen Union (AU), zu der die alte OAU sich weiterentwickelt hat, erneut in Addis Abeba zu einem Gipfeltreffen zusammen. Marokko, der einzige Staat Afrikas, der der Union nicht angehört, beantragt nach über 32 Jahren seine Aufnahme. König Mohammed VI., Sohn von Hassan II., will persönlich in der äthiopischen Hauptstadt erscheinen. Vor einem halben Jahr hatte der Monarch bekannt gegeben, Marokko wolle in die „afrikanische Familie“ zurückkehren. „Diese Entscheidung“, liess er damals verlautbaren, „bedeutet keineswegs den Verzicht Marokkos auf seine legitimen Rechte oder die Anerkennung einer fiktiven Entität, bar der elementarsten Attribute von Souveränität.“

Mit der „fiktiven Entität“ meinte Mohammed VI. die DARS, die von der Polisario 1976 in Bir Lehlou, einer Oase in der Wüste auf dem Gebiet der ehemaligen spanischen Kolonie Westafrika, ausgerufene Republik. Diese hat zwar einen Präsidenten, eine Regierung, ein Parlament, eine Staatsflagge und eine eigene Währung, die sahraouische Peseta, aber kontrolliert das von ihr beanspruchte Territorium, die Westsahara, nur zu einem geringen Teil. Und die Bürger dieser Republik sind im wesentlichen die etwa 100.000 Flüchtlinge, die in fünf grossen Lagern im Ausland leben, bei Tindouf  auf algerischem Boden. Dort hat auch die Regierung ihren Sitz. Aufgrund dieser Anomalität hat die UNO – anders als viele Staaten Afrikas – die DARS nie anerkannt. Es ist ein Schattenstaat unter algerischer Kuratel.

Ein kurzer Rückblick zu dessen Entstehungsgeschichte: Während der spanische Diktator Francisco Franco im November 1975 auf dem Sterbebett lag, liess König Hassan II. über 350.000 unbewaffnete Zivilisten an die Südgrenze seines Reiches karren und unter wehenden grünen Fahnen etwa 15 Kilometer in die spanische Kolonie einmarschieren. Es war ein genialer Streich, ein grosser Bluff, medial geschickt als „Grüner Marsch“ inszeniert. Die Bilder von flutenden Menschenmassen gingen um die Welt. Das gewaltige Spektakel verdeckte, was wirklich geschah: Die marokkanische Armee war schon sechs Tage zuvor in die Kolonie eingedrungen und hatte zur militärischen Eroberung des Wüstenstreifens, sechsmal so gross wie Schweiz, angesetzt.

Marokko besetzte die nördlichen zwei Drittel der Kolonie, Mauretanien das südliche. Und die bereits 1973 gegründete, von Algerien und Libyen militärische ausgerüstete Polisario, die Befreiungsfront der Sahraouis, der autochthonen Bewohner der Westsahara, nahm den Kampf gegen die Besatzungsmächte auf. Zehntausende Sahraouis aber flüchteten nach Algerien, wo sie oder ihre Nachkommen bis heute mitten in der Wüste in Flüchtlingscamps unter erbärmlichen Bedingungen leben.

Mauretanien verzichtete 1979 auf den von ihm besetzten Anteil der  Westsahara zugunsten der Polisario, wonach Marokko das von Mauretanien geräumte Territorium besetzte. Danach errichtete Marokko quer durch die Wüste der Westsahara einen 2.700 Kilometer langen befestigten und verminten Sandwall, um ein Einsickern der Polisario aus Algerien zu verhindern. 1991 vermittelte die UNO einen Waffenstillstand und richtete zu dessen Überwachung eine Mission ein, die „Minurso“. Seither kontrolliert die Polisario die 20 Prozent der ehemaligen Kolonie, die östlich des Sandwalls liegen. Marokko hat sich die übrigen 80 Prozent einverleibt, einschliesslich der grössten Phosphatreserven der Welt und der Küstengewässer mit ihren reichen Fischbeständen.

Der Minurso obliegt es auch, ein Referendum durchzuführen:  Die Bevölkerung der „letzten Kolonie Afrikas“ hat das vom UN-Sicherheitsrat in einer Resolution verbriefte Recht selbst darüber entscheiden, ob sie in einem eigenen unabhängigen Staat leben will oder nicht. Die Polisario besteht auf diesem Referendum. Aber Marokko, das die Westsahara völkerrechtswidrig annektiert hat, will seinen „Provinzen des Südens“ allenfalls eine Autonomie zugestehen. „Wir werden auf kein Sandkorn verzichten“, hatte Mohammed VI. einst gesagt. Und die UNO verlängert seit einem Vierteljahrhundert das Mandat der Minurso mit ihren rund 250 Blauhelmen jedes Jahr wieder, zuletzt im vergangenen April. Zumindest hält der Waffenstillstand. Aber wie lange noch?

Als im vergangenen Frühling der UN-Generalsekretär Ban Ki Moon von einer „Besetzung“ der Westsahara sprach, verwies der König umgehend 84 zivile Mitarbeiter der Minurso des Landes und stellte die Zusammenarbeit mit der Mission ein. Und auf beiden Seiten wurde danach bedrohlich mit den Säbeln gerasselt. Inzwischen durften die ausgewiesenen UN-Mitarbeiter zwar wieder zurück. Aber die Spannungen nehmen trotzdem zu. Am 14. August drangen marokkanische Soldaten bei Guergerat im äussersten Süden der Westsahara in die Pufferzone jenseits des Sandwalls ein und begannen, die Piste, die nach Mauretanien führt, zu asphaltieren. Marokko begründete dies mit dem Kampf gegen den Schmuggel, der dort tatsächlich blüht.

Schon zwei Wochen später tauchten auch 32 Polisario-Soldaten in der Pufferzone auf. Die Blauhelme bezogen Position zwischen den verfeindeten Gruppen. Inzwischen dürften über hundert Polisario-Soldaten im schmalen Streifen zwischen dem marokkanischen Sandwall und der Grenze zu Mauretanien stationiert sein. Dort tauchte Anfang Dezember auch Brahim Ghali, seit Juli Polisario-Chef und Präsident der DARS, auf und liess sich am Atlantik ablichten. Kurz danach kündigte Marokko eine Verstärkung seiner Armeepräsenz in Guerguerat an. Seit dem Inkrafttreten des Waffenstillstands vor über 26 Jahren war die Situation noch nie so brenzlig wie in den letzten Monaten.

Seit geraumer Zeit schon versucht der Monarch, der alle Gewalten – die exekutive, die legislative wie die judikative – unter Kontrolle hat und auch einen Grossteil der Wirtschaft, aus der diplomatischen Isolation auszubrechen. Er will nächste Woche sein Land in den Schoss der afrikanischen Familie zurückführen. Zu diesem Behuf hat er im vergangenen Jahr eine rege Reisetätigkeit entwickelt und auch eine wirtschaftliche Offensive gestartet. Er besuchte über ein Dutzend Länder, vor allem im Osten Afrikas. Im frankophonen Westafrika ist Marokko längst der grösste afrikanische Investor.

Jetzt greift das Königreich in den anglophonen Osten aus. Die Attijariwafabank, die grösste marokkanische Privatbank, die von der königlichen Holding SNI kontrolliert wird, kündigte an, die Cogebanque, drittgrösste Bank Ruandas, zu kaufen. Bilaterale Handelsabkommen mit Tansania und Äthiopien werden angepeilt. Die OCP, der staatliche Phosphatkonzern Marokkos, will in Äthiopien für 2,4 Milliarden Dollar einen riesigen Industriekomplex zur Erzeugung von Düngemitteln bauen. Es ist die grösste vom Konzern je getätigte Investition.

Eine Rückkehr in die Afrikanische Union kann dieser Wirtschaftsoffensive Steine aus dem Weg räumen, sie kann Dissonanzen beseitigen, Türen öffnen. Am Rand des letzten Afrikagipfels in Kigali (Ruanda) haben im Juli des vergangenen Jahres 28 Staaten eine Motion unterzeichnet, in der sie die Rückkehr Marokkos in die AU befürworten. Das ist eine knappe Mehrheit der 54 Mitgliedstaaten. Einige Juristen behaupten, es sei eine Zweidrittelmehrheit vonnöten. Auch eine solche könnte Marokko durchaus erreichen. Im gegnerischen Lager stehen das wirtschaftlich mächtige Südafrika, traditionell auch die beiden bevölkerungsreichsten Staaten Afrikas, Nigeria und Ägypten. Und vor allem Algerien, die Schutzmacht der Polisario und ihres Schattenstaates DARS.

Algerien war in der Afrikanischen Union aufgrund seines antikolonialen Befreiungskrieges, aufgrund seiner Bedeutung in der nach dem Zerfall der bipolaren Weltordnung aber ziemlich bedeutungslos gewordenen Bewegung der Blockfreien Staaten lange Zeit ein diplomatisches  Schwergewicht. Heute steckt das Land aufgrund der rapide gefallenen Preise für Erdöl und Erdgas, auf denen seine Wirtschaft fast ausschliesslich beruht, in einer tiefen Wirtschaftskrise. Politisch ist Algerien gelähmt, seit sein Präsident Abdelaziz Bouteflika nach zwei Schlaganfällen im Jahr 2014 im Rollstuhl sitzt, kaum sprechen kann und öffentlich nicht mehr auftritt.

Marokko auf der Siegerstrasse, Algerien auf dem absteigenden Ast – für die Polisario stehen die Zeichen schlecht. Schon jetzt wird ihre DARS von einer Mehrheit der afrikanischen Staaten diplomatisch nicht mehr anerkannt, auch wenn vermutlich andererseits eine Mehrheit – wie die Polisario, wie offiziell auch die Uno – der Bevölkerung der Westsahara das Recht auf Selbstbestimmung zugesteht. Aber Marokko gibt keinen Deut nach. Und die von der Geschichte der antikolonialen Bewegung  geprägte Haltung vieler afrikanischer Staatschefs könnte – je weiter der Kampf gegen die Kolonialherren zurückliegt – einer pragmatischen Haltung weichen, die sich mit einer Autonomie, wie sie Marokko der Westsahara anbietet, begnügt. Der UNO käme es vermutlich sehr gelegen. Seit 25 Jahren stecken ihre Blauhelme in der Wüste fest. Doch von seiner Resolution kann der Sicherheitsrat nicht abrücken – jedenfalls nicht, solange Algerien nicht einlenkt und die Polisario nicht zum Einlenken zwingt.

Ausserhalb von Afrika hat ohnehin kein Staat ein ernsthaftes Interesse, den Sahraouis in ihrem Kampf beizustehen – schon gar nicht Frankreich oder Spanien, die beiden ehemaligen Kolonialmächte, heute Marokkos wichtigste Handelspartner. Sie haben das Selbstbestimmungsrecht der Wüstenbewohner schon längst bedenkenlos der Zusammenarbeit mit Marokko im Kampf gegen den islamistischen Terrorismus und in der Abwehr der Flüchtlinge geopfert.

Erschienen in WOZ (Zürich) 26.01.2017