Es gibt viele Gründe, nach Europa zu fliehen. Armut, Krieg, der Mangel an Perspektiven, eine Arbeit zu finden, die es erlaubt, eine Familie zu gründen und sich eine Zukunft zu bauen, sind wohl die wichtigsten. Und es ist gewiss vernünftig, bei den Ursachen, die der Migration zugrunde liegen, anzusetzen. Im Rahmen von Partnerschaftsabkommen (Compacts with Africa) wird deshalb die deutsche Entwicklungshilfe zunehmend in den Dienst der Fluchtursachenbekämpfung gestellt. Vieles spricht dagegen, dass diese Strategie zielführend ist. Aber selbst wenn sie es wäre, würde sie allenfalls langfristig Früchte tragen. Das heißt, die Einwanderung aus Afrika wird Europa weiter beschäftigen. Doch die Fluchtrouten ändern sich. Von der Öffentlichkeit kaum bemerkt, landen inzwischen mehr Migranten und Flüchtlinge in Spanien als in Italien an.

Sechs Tage lang irrte die „Aquarius“ im Juni durchs Mittelmeer. Das Rettungsschiff, das von den Hilfsorganisationen Ärzte ohne Grenzen und SOS Méditerranée betrieben wird, hatte vor der Küste Libyens 629 Flüchtlinge aufgenommen. Italiens rechtspopulistischer Innenminister Matteo Salvini weigerte sich, es in einen italienischen Hafen einlaufen zu lassen. Auch Malta sperrte sich.

Da kam Rettung aus dem fernen Madrid. Die Regierung unter dem Sozialisten Pedro Sánchez, der kurz zuvor Mariano Rajoy von der konservativen Volkspartei (PP) als Ministerpräsident abgelöst hatte, bot den Hafen Valencia an. Und die Geretteten erhielten umgehend eine Aufenthaltserlaubnis von 45 Tagen, um in aller Ruhe einen Asylantrag stellen zu können.

Einen Monat später durfte die „Open Arms“, ein Schiff der gleichnamigen Hilfsorganisation, mit 60 Flüchtlingen, die ebenfalls vor der Küste Libyens gerettet worden waren, in Barcelona einlaufen. Ada Colau, die populäre Bürgermeisterin der Stadt, hatte am Rathaus ein großes Transparent anbringen lassen: „Barcelona port segur“ (Barcelona sicherer Hafen). Die Flüchtlinge erhielten eine Aufenthaltserlaubnis von 30 Tagen, die verlängerbar war. Schon wähnten Optimisten, in Spanien zeichne sich eine humane Alternative zur rigiden Abschottungspolitik ab.

Doch als Mitte August die „Aquarius“ mit 141 Flüchtlingen an Bord wieder tagelang zwischen Libyen und Italien unterwegs war, lehnten die spanischen Behörden eine Aufnahme rundweg ab. Schließlich durften die Schiffbrüchigen nach fünftägiger Odyssee in Malta an Land gehen, nachdem sich verschiedene EU-Staaten bereit erklärt hatten, einen Teil der Geretteten zu übernehmen. Die sozialistische Regierung hatte umgesteuert – unter dem Druck der Opposition und weil sie befürchten musste, mit den Problemen, die die Massenimmigration mit sich brachte, genauso allein gelassen zu werden wie zuvor schon Italien. Immerhin kamen in Spanien bis Ende August 33.377 Migranten und Flüchtlinge an, deutlich mehr als in Italien (19.784) oder in Griechenland (19.153). Es waren doppelt so viele wie im gleichen Zeitraum des Vorjahres, während sich in Italien die irreguläre Immigration auf ein Fünftel reduzierte.

Über Folter, Vergewaltigung und Versklavung von Flüchtlingen an der libyschen Küste weiß man dank Facebook, Skype und Twitter längst auch in den Staaten südlich der Sahara Bescheid. Vor allem Westafrikaner wählen deshalb nun immer öfter die Route über Marokko, um dem Terror in Libyen zu entgehen. Die meisten von ihnen überqueren in Gummibooten die Straße von Gibraltar. Ein kleiner Teil kommt nicht übers Meer, sondern auf dem Landweg. Denn Spanien ist der einzige Staat Europas, der eine Landgrenze zu Afrika hat – bei Ceuta und Melilla, den spanischen Exklaven im Norden Marokkos. Die beiden Städte sind mit sechs Meter hohen klingenbewehrten Doppelzäunen gesichert. Trotzdem stürmen Migranten immer wieder in großer Zahl die Grenzanlagen.

Zuletzt am 22. August in Ceuta. Da rannten 256 Migranten auf den Zaun zu, 119 von ihnen schafften es – die Grenzwächter mit Fäkalien, Ätzkalk und Buttersäure angreifend –, die Sperren zu überwinden. Mit Ausnahme von zwei Kindern und einem Erwachsenen wurden alle schon am nächsten Tag wieder nach Marokko abgeschoben – gemäß einem bilateralen Abkommen von 1992, in dem sich der Maghrebstaat verpflichtete, irreguläre Migranten aus Drittstaaten, die über sein Territorium nach Spanien gelangen, wieder zurückzunehmen.

Amnesty International hat wiederholt verlangt, dieses Abkommen auszusetzen, da die Gefahr besteht, dass bei seiner Anwendung das in der Europäischen Menschenrechtskonvention festgeschriebene Non-refoulement-Gebot verletzt wird, das die Rückführung von Personen in Staaten verbietet, in denen ihnen Folter oder andere schwere Menschenrechtsverletzungen drohen. Das Abkommen kam allerdings bisher höchst selten zur Anwendung, da Marokko sich in der Regel schlicht weigerte, Flüchtlinge zurückzunehmen.

Doch manchmal gelang den Spaniern eine direkte Überstellung an der Landgrenze. Im Oktober 2017 hatte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) Spanien schließlich dazu verurteilt, zwei westafrikanischen Flüchtlingen je 5.000 Euro Entschädigung zu bezahlen, weil die Guardia Civil die beiden, die 2014 den Zaun überwunden hatten, direkt an die marokkanischen Grenzbehörden übergeben hatte. Die konservative Regierung hatte Rekurs eingelegt –mit der Begründung, die beiden seien nicht rückgeführt, sondern an der Grenze direkt abgewiesen worden.

Die neue sozialistische Regierung, vom EGMR um eine Stellungnahme gebeten, übernahm Mitte August die Argumente ihrer Vorgängerin. Den beiden Flüchtlingen sei es nicht gelungen, „die Polizeilinie zu überschreiten“, und deshalb hätten sie das Gebiet „spanischer Juridiktion“ gar nicht betreten. Im Jahr 2015 hatten die Sozialisten – damals in der Opposition – noch Verfassungsbeschwerde gegen ein Gesetz der konservativen Regierung eingelegt, das direkte Überstellungen an der Grenze erlaubte.

Als Spanien nun Ende August in Ceuta 116 am Vortag festgenommene Grenzbrecher an die marokkanischen Grenzbehörden überstellte, nachdem man sie zunächst zwecks Identifizierung auf Polizeistationen in der Stadt gebracht hatte, wollte man wenigstens den Anschein erwecken, das Völkerrecht zu respektieren.  In aller gebotenen Eile wurden Rechtsanwälte und Dolmetscher aufgetrieben. Aber es war offensichtlich eine Farce. Isabel Valriberas, Dekanin der Anwaltskammer   von Ceuta, erklärte, man habe zwar den zwölf herbeigerufenen Pflichtverteidigern gesagt, dass es um die Abschiebung der 116 Personen gehe, aber nicht, dass dies – anders als üblich – sofort geschehen solle und gemäß dem Abkommen von 1992, das seit Jahren keine Anwendung mehr gefunden hatte. So hätten die Anwälte dann ihren Klienten geraten, in den nächsten Tagen gegen einen Abschiebungsbescheid Rekurs einzulegen, ohne zu wissen, dass dies wegen der sofortigen Abschiebung nicht mehr möglich sein würde. Inzwischen haben die Anwälte beim Innenminister eine Dienstaufsichtsbeschwerde eingelegt und erwägen Strafanzeige wegen Verweigerung fundamentaler Rechte.

Auch Esteban Beltrán, Leiter der spanischen Sektion von Amnesty International, bezweifelte in einem Schreiben an den Innenminister, dass es möglich sei, innerhalb von nur 24 Stunden 116 Migranten individuell den gesetzlich vorgeschriebenen juristischen Beistand unter Hinzuziehung qualifizierter Dolmetscher anzubieten.

Die spanische Regierung will die Ankunft von Migranten – ob auf dem See- oder dem Landweg – offenbar mit allen Mitteln erschweren. Aber weshalb spielt Marokko, dessen Grenzwächter jahrzehntelang oft beide Augen zudrückten und noch Ende Juli bei Ceuta eine Massenflucht von über 600 Personen ermöglicht hatten, nun plötzlich mit und nimmt die abgeschobenen Migranten auf? Schon in der zweiten Augustwoche wurden bei Razzien der Gendarmerie im marokkanischen Hinterland von Ceuta und Melilla sowie in der nahen Hafenstadt Tanger mehr als 1.800 Afrikaner aus Subsahara-Staaten aufgegriffen und weit ins Landesinnere und in den Süden des Landes verbracht. Natürlich werden die meisten von ihnen an die Küste zurückkehren. Aber Marokko setzte ein Zeichen.

Kurz zuvor hatte Jean-Claude Juncker, der Präsident der EU-Kommission, Marokko Hilfsgelder für die Grenzsicherung versprochen: Zusammen mit Tunesien soll das Königreich 55 Millionen Euro erhalten. Offensichtlich will sich Marokko seinen Dienst als Türsteher Europas – ähnlich wie die Türkei, wenn auch ohne expliziten Vertrag – angemessen honorieren lassen. Aber ein heikles Problem könnte eine Einigung zwischen Marokko und der EU schon bald torpedieren: Im Juli haben die EU und der Maghreb-Staat ein neues Fischereiabkommen paraphiert, das die von Marokko besetzte Westsahara mit ihren reichen Fischgründen einschließt. Der Europäische Gerichtshof (EuGH) jedoch hatte im Februar das bestehende Abkommen für ungültig erklärt, insoweit es die Westsahara, die völkerrechtlich nicht zu Marokko gehört, betrifft.

Sollte die Ratifizierung des Abkommens an der notwendigen Zustimmung durch den EU-Ministerrat oder das EU-Parlament scheitern, könnte Marokko die EU mit einer Rückkehr zum permissiven Umgang bei der Flüchtlingskontrolle unter Druck setzen.

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