Das schönste Geschenk kam von der früheren Kolonialmacht. Mohammed VI., König von Marokko, feierte am 30. Juli mit grossem Pomp den 25. Jahrestag seiner Thronbesteigung. „Eure Majestät“, schrieb ihm Frankreichs Präsident und kam nach den üblichen Floskeln gleich zur Sache, „ich bin der Ansicht, dass Gegenwart wie Zukunft der Westsahara im Rahmen der marokkanischen Souveränität zu sehen sind.“ Die französische Linke bezichtigte Emmanuel Macron umgehend der Missachtung des Völkerrechts vor, die Rechte spendete ihm Applaus.
Ein Blick zurück in die Geschichte: Spaniens Diktator Francisco Franco lag schon auf dem Sterbebett, als vom 6 bis zum 9. November 1975 über 350.000 unbewaffnete Marokkaner unter wehenden grünen Fahnen in die spanische Kolonie Westafrika einzogen. Bilder von flutenden Menschenmassen gingen um die Welt. Es war ein genialer Streich, ein grosser Bluff, medial geschickt inszeniert. Was das Fernsehen nicht zeigte: Der „Grüne Marsch“, zu dem Zivilisten aus dem ganzen Land an die Grenze herangekarrt worden waren, endete schon nach 15 Kilometern. Das gewaltige Spektakel verdeckte die wirkliche Eroberung: Die marokkanische Armee war auf Befehl von König Hassan II., Vater des heutigen Monarchen, schon sechs Tage zuvor in die Kolonie eingedrungen und hatte zur militärischen Besetzung des Wüstenstreifens von der Grösse Italiens angesetzt. 1976 annektierte Marokko völkerrechtswidrig die nördlichen zwei Drittel der Westsahara und 1979 auch den Rest, nachdem dort Mauretanien seine Truppen abgezogen hatte.
Die marokkanische Armee sah sich nach ihrem Einmarsch sofort mit dem bewaffneten Widerstand der Polisario konfrontiert, einer von Algerien unterstützten Guerilla der Sahrauis, der autochthonen arabischen Bevölkerung der Region. Nach 16 Jahren Krieg wurde 1991 ein Waffenstillstand vereinbart. Seither kontrolliert Marokko die westlichen vier Fünftel der Westsahara mit den wenigen Städten, den fischreichen Küstengewässern und den riesigen Phosphatvorkommen. Die Polisario kontrolliert das östlichste Fünftel mit einigen Oasen. Jenseits der Grenze, in der algerischen Wüste, wohin über 100.000 Sahrauis geflohen sind, hat sie einen Schattenstaat errichtet, die „Demokratische Arabische Republik Sahara“, einen Staat mit einer Regierung, einem Parlament, einer Flagge und einer eigenen Währung – alles unter den Fittichen Algeriens.
Ebenfalls vereinbart wurde 1991 die Einrichtung einer UN-Mission, der MINURSO, die mandatiert wurde, ein Referendum durchzuführen. Die Sahrauis sollten nach dem Verzicht Spaniens auf das Territorium in Ausübung des von der UNO verbrieften Rechts auf Selbstbestimmung entscheiden, ob sie in einem eigenen, unabhängigen Staat oder aber unter marokkanischer Herrschaft leben wollten. Ein Referendum fand nie statt, weil die marokkanische Regierung darauf beharrte, die von ihrer völkerrechtswidrig in der Westsahara angesiedelten Marokkaner, die inzwischen längst die Mehrheit der Bevölkerung ausmachen, mitabstimmen zu lassen. Stattdessen präsentierte Marokko 2007 einen Plan, der eine gewisse Autonomie für die Westsahara vorsieht, einen unabhängigen Staat der Sahrauis aber kategorisch ausschliesst.
Das Recht ist auf Seiten der Sahrauis, die Macht auf Seiten Marokkos. Der marokkanische König braucht keine Lösung. Er kann den Konflikt einfach aussitzen, hat die besseren Karten und die Zeit auf seiner Seite. Spanien, das zunächst auf der Seite des Rechts stand, dann lange Zeit eine neutrale Position einnahm, hat sich vor drei Jahren auf die Seite der Macht geschlagen. Als 2021 der an Covid erkrankte Polisario-Chef Brahim Ghali mit diplomatischem Pass in einer mit medizinischen Apparaten ausgestatteten Maschine des algerischen Präsidenten zur Behandlung nach Spanien einreiste, wo er trotz zweier dort laufender Strafverfahren gegen ihn nicht verhaftet wurde, tobte die königstreue marokkanische Presse. Und Marokko scheute sich nicht, die Migranten als Waffe einzusetzen. Es zog die Grenzkontrollen vor Ceuta, einer spanischen Exklave auf afrikanischem Boden, ab. Innerhalb von 48 Stunden erreichten über 8.000 Migranten übers Wasser oder über den Strand spanisches Territorium. Es dauerte nicht lange, bis Pedro Sánchez, Spaniens sozialistischer Ministerpräsident, einknickte und den marokkanischen Autonomie-Plan für „die ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Basis für eine Lösung des Streits“ hielt. Mohammed VI. bedankte sich mit einer Einladung des Spaniers nach Rabat zum „iftar“, dem Fastenbrechen im Ramadan. Dass Algerien umgehend seinen Markt für spanische Exporte sperrte, nahm Sánchez in Kauf.
Noch weiter ging jetzt Macron in seinem jüngsten Brief an den marokkanischen Monarchen. Er schrieb, dass der marokkanische Autonomie-Plan für Frankreich „von nun an die einzige Basis ist, um zu einer gerechten, dauerhaften und ausgehandelten politischen Lösung zu gelangen“. Von 2021 bis 2023 hatte zwischen Marokko und Frankreich Eiszeit geherrscht, nachdem bekannt geworden, dass der marokkanische Geheimdienst mit Hilfe der israelischen Software Pegasus hohe französische Politiker, unter ihnen auch den Präsidenten selbst, ausgespäht hatte . Zudem hatte die marokkanische Presse eine Kampagne gegen Macron gestartet, den sie als Drahtzieher hinter einer Resolution des Europäischen Parlaments vermutete, in der die Verschlechterung der Pressefreiheit in Marokko beklagt wurde.
Macrons Wende hin zu Marokko ist vermutlich mit der Hoffnung verbunden, sich Lieferketten zu sichern und auf dem Sektor erneuerbarer Energie produktiv zusammenzuarbeiten. Die Neuorientierung mag ihm umso leichter gefallen sein, als er in Algier mit seinem langjährigen Werben für eine Aussöhnung mit Algerien, das im Unabhängigkeitskrieg 1954-1962 etwa 300.000 Todesopfer zu beklagen hatte, auf Granit biss. Seit 24 Jahren hat kein algerischer Präsident in Paris einen Staatsbesuch absolviert. Noch ist unklar, wie hoch der Preis sein wird, den Frankreich für seine Wende zu bezahlen hat. Wird Algerien weiterhin monatlich 200 aus Frankreich ausgewiesene Landsleute aufnehmen? Werden die algerischen Geheimdienste weiterhin beim Kampf gegen islamistischen Terror mit den französischen Geheimdiensten kooperieren? Wird Algerien die Importe aus Frankreich drosseln? Für Frankreich könnte es ein Nullsummenspiel werden: Was es in Marokko gewinnt, verliert es in Algerien.
Unter Donald Trump haben die USA als erster Staat die marokkanische Souveränität über die Westsahara anerkannt. Im Gegenzug nahm Marokko diplomatische Beziehungen zu Israel auf – und Israel revanchierte sich, indem es als zweiter Staat die marokkanische Hoheit über den umstrittenen Wüstenstreifen akzeptierte. Während die Unterstützung für Marokko zunimmt, bröckelt jene für die Polisario. Von den 80 Staaten, die einst die „Demokratische Arabische Republik Sahara“ diplomatisch anerkannten, ist über die Hälfte abgesprungen.
Noch trifft Marokko auf Widerstand. Ein neues Fischereiabkommen zwischen Marokko und der EU kam bisher nicht zustande, nachdem der Europäische Gerichtshof das vor einem Jahr abgelaufene Abkommen zum Teil für nichtig erklärt hatte. Marokko, so die europäischen Richter, habe kein Recht, über den Fischfang vor der Küste der Westsahara zu verhandeln, weil diese völkerrechtlich nicht zu Marokko gehört.
Noch verlängert der UN-Sicherheitsrat jedes Jahr – wie seit über 30 Jahren schon, wie im Oktober 2024 wohl wieder – das Mandat für die MINURSO um ein weiteres Jahr. In der letzten Resolution vom Oktober 2023 ist, wie seit geraumer Zeit schon, nur noch von der „Selbstbestimmung des Volkes von Westsahara“ die Rede. Das Wort „Referendum“ taucht nicht mehr auf. Aber immerhin wurde die Mission nicht umbenannt. Sie heisst weiterhin MINURSO. Die Abkürzung steht für „Mission des Nations Unies pour l’organisation d’un référendum au Sahara occidental“.
(Wochenzeitung [Zürich], 15.08.2024