Octavio Paz, der große mexikanische Lyriker und Essayist, war zweifellos ein profunder Kenner der mexikanischen Seele. Er hat sich in zahlreichen Aufsätzen mit dem Gemütszustand seiner Landsleute auseinandergesetzt. „Das mexikanische Volk“, so stellte er einmal apodiktisch fest, „glaubt, nach mehr als zwei Jahrhunderten voller Experimente und Niederlagen, nur noch an die Jungfrau von Guadalupe und an die Nationallotterie.“ Nun, es war ihm nicht mehr vergönnt, den jüngsten Präsidentschaftswahlkampf in seinem Lande zu erleben. Vor zwei Jahren ist er gestorben. Vielleicht hätte er seine Meinung revidiert. Fast die Hälfte des mexikanischen Volkes jedenfalls glaubt auch an Vicente Fox. Bei seinen Wahlkundgebungen drängten sich regelmäßig entrückte Anhänger um ihn, um einen Zipfel seiner Kleidung zu berühren, als ob es sich um irgendeine Reliquie der Nationalheiligen, eben der Jungfrau von Guadalupe, handeln würde. Diese parareligiöse Beziehung zum künftigen Präsidenten Mexikos ist unter jenen, die ihm ihre Stimme gegeben haben, gewiss nicht die Regel. Aber Fox hat wie kein anderer seine Anhänger elektrisiert. 43 Prozent der Mexikaner hoffen auf ihn – wie auf die Guadelupe und das große Los bei der Nationallotterie.
Hoffen auf Fox. Niemand weiß so recht, was er denn eigentlich will. Den Armen hat er versprochen, ihre Armut zu lindern, dem Mittelstand staatliche Förderung, der indianischen Bevölkerung den Respekt vor ihrer Kultur, den Studenten bessere Ausbildung und erleichterten Zugang zum Internet. Kurzum: er hat allen so ziemlich alles versprochen – wie es in Wahlkämpfen eben üblich ist und wie es seine Widersacher auch getan haben. Das kann also nicht der Grund seines Erfolgs sein. Der liegt offensichtlich vielmehr in zwei Buchstaben: „ya“. Wenn man dieses Wörtchen mit dem richtigen Gestus ausspricht, heißt es einfach: „Jetzt reicht’s“. 71 Jahre sind genug. Fox wurde nicht aufgrund einer ohnehin kaum erkennbaren konkreten politischen Programmatik gewählt, sondern weil er es am besten verstand, mit Charme, Charisma und Körpersprache sich als der Mann zu profilieren, der mit der jahrzehntelangen Herrschaft der „Partei der Institutionalisierten Revolution“ (PRI) aufräumt. „Vamos a sacar al PRI de los Pinos“, hieß seine Hauptparole: „Wir werden den PRI aus dem Präsidentenpalast herausholen.“ Herausholen, nicht: verjagen. Der PRI hat sich verbunkert, krallt sich fest, will aus dem Palast nicht heraus.
Der PRI, der 1929 – unter anderem Namen – gegründet wurde, ist eine Spätgeburt der mexikanischen Revolution (1910-1920), die die überkommene Herrschaft der Großgrundbesitzer und der Kirche brach und sich in einem in ganz Lateinamerika einzigartigen politischen System kristallisierte: Die Partei, der politische Arm der Macht, drang über Gewerkschaften und Bauernverbände, über Berufskammern und Bürgervereinigungen in alle Poren der Gesellschaft ein und errichtete ein autoritäres korporativ-paternalistisches Herrschaftssystem. Während überall sonst in Lateinamerika die Militärs putschten, wurde in Mexiko die Armee politisch nach und nach entmachtet – just von den letzten drei Präsidenten, die selbst noch Generäle waren: Calles, Cárdenas und Ávila Camacho. Sie kannten ihre Pappenheimer und fürchteten nichts mehr als die Waffen ihrer früheren Kameraden. Seit 1920 gab es in Mexiko keinen Militärputsch mehr.
Der ideologische Kitt dieses einzigartigen Herrschaftssystem war ein sozialistisch gefärbter Nationalismus, der sich revolutionärer Rhetorik bediente. Bis heute ist in Mexiko der Begriff „Revolution“ positiv besetzt. Und ganz selbstverständlich heißen die größten Verkehrsadern von Mexiko-Stadt noch heute „Revolución“, „Insurgentes“ und „Patriotismo“. Niemand käme auf die Idee, die Straßen umzutaufen. Außenpolitisch (nicht militärisch) unterstützte Mexiko ganz selbstverständlich die mittelamerikanischen Guerillabewegungen der 80er Jahre und hielt zu einer Zeit, als unter dem Druck der USA alle lateinamerikanischen Länder ihre Beziehungen zu Kuba einfroren, immer gute Beziehungen zum Regime Fidel Castros. Innenpolitisch hingegen zeichnete sich das Regime durch eine Repression aus, die den lateinamerikanischen Diktaturen in nichts nachstand. Wo Widerstand nicht politisch vereinnahmt werden konnte, wurde er bekämpft – von einer gut bewaffneten Polizei und unter Einsatz von Pistoleros paramilitärischer Verbände. Folter war bis in die jüngste Zeit an der Tagesordnung.
Dieses Herrschaftssystem, das – anders als die kommunistischen Regimes – die Opposition gewähren ließ, solange sie nicht gefährlich wurde, und das der peruanische Schriftsteller Mario Vargas Llosa einst als „perfekte Diktatur“ bezeichnete, bekam 1968 seine ersten tiefen Risse. Mitten im Zentrum von Mexiko-Stadt wurde völlig überraschend eine friedliche Studentendemonstration von Polizei und Armee unter Einsatz von scharfer Munition aufgelöst: einige hundert Personen wurden erschossen. Ein Regime, das an Absprachen hinter den Kulissen und an höfische Korruption gewohnt war, resümierte Octavio Paz Jahre später, konnte einen öffentlichen Dialog über noch so maßvolle Forderungen nach Demokratisierung nicht akzeptieren. Bis Ende der 80er Jahre hatte die Presse, die längst über Korruption und Repression auf dem Land breit berichten konnte, zwei Tabus zu respektieren: das Massaker von Tlatelolco und die Person von „el señor Presidente“.
Jose López Portillo gewann die Präsidentschaftswahlen von 1976 noch mit 92 Prozent der Stimmen. Sein Nachfolger Miguel De la Madrid mußte sich 1982 mit 67 Prozent begnügen. Dessen Nachfolger Carlos Salinas de Gortari schaffte es 1988 nur noch mit einem gewaltigen Wahlbetrug, in den Präsidentenpalast einzuziehen. Und mit dem Aufstand der Zapatisten-Guerilla in Chiapas im Wahljahr 1994 und der Ermordung des Präsidentschaftskandidaten Luís Donaldo Colosio und des PRI-Chefs Francisco Ruíz Massieu wenige Monate später – in beide Morde waren die Drogenmafia und vermutlich auch Teile des Parteiapparats verstrickt – zeigten sich der Niedergang der Staatspartei und die Erosion ihres Herrschaftssystems in aller Deutlichkeit.
Mit dem Schwinden der Kohäsionskraft des PRI erstarkte die Opposition, die linke wie die rechte. 1988 hätte Cuauhtémoc Cárdenas, Führer der linken Opposition, die Wahl gewonnen, wenn es mit rechten Dingen zugegangen wäre. Zwölf Jahre später – am 3. Juli 2000 – schaffte er gerade noch 17 Prozent. Cárdenas, der bis 1987 PRI-Mitglied war und 1997 zum Bürgermeister der größten Stadt der Welt gewählt wurde, steht wie schon sein legendärer Vater Lázaro Cárdenas, der als Präsident die amerikanischen Erdölkonzerne enteignet hatte, für die revolutionäre Tradition Mexikos. Auf seinen Wahlveranstaltungen wurden vornehmlich Zapata-Hüte und Che-Guevara-Posters verkauft. Cárdenas verkörperte die gute Vergangenheit, aber eben doch die Vergangenheit.
Vicente Fox hingegen, Kandidat der 1939 gegründeten „Partei der Nationalen Aktion“ (PAN), die historisch mit der Kirche und den durch die Revolution entmachteten konservativen Mächten verbandelt war, präsentierte sich mit Erfolg als Mann der Zukunft. Vor allem die Mittelschichten und eine aufstiegsorientierte Jugend, die an den immer zahlreicher werdenden privaten Universitäten studiert und für die die USA längst mehr Traum als Trauma sind, wählte merheitlich Fox. Deutlich zeigt sich die Zeitenwende auch am Verhalten der Intelligentsia. Traditionell stand sie in Mexiko im linken Lager und teilte bis in jüngster Zeit im allgemeinen dessen ideologische Positionen: gegen die USA und gegen Privatisierung, für Fidel Castro und für einen starken staatlichen Wirtschaftssektor. Erst der Fall der Berliner Mauer und das Ende der Sowjetunion, der sandinistischen Herrschaft in Nicaragua und des Guerilla-Krieges in El Salvador führten bei vielen von ihnen zu einer Neuorientierung.
Einer der ersten, der die ideologischen Topoi der Linken in Frage stellte, war Octavio Paz – der seine sozialistischen Positionen schon nach dem Hitler-Stalin-Pakt aufgegeben hatte. Seine Essays in der von ihm mitgegründeten Zeitschrift „La vuelta“ (Die Wende) stempelten ihn in den 80er Jahren schnell zum rechtsliberalen Beelzebuben. Enrique Krauze, sein Biograph und heute Herausgeber von „Letras libres“ („Freie Worte“), der Nachfolgezeitschrift von „La Vuelta“, griff in den 90er Jahren Carlos Fuentes – neben Paz die zweite graue Eminenz der mexikanischen Literatur – frontal wegen dessen Parteinahme für die mittelamerikanische Guerilla an. Der Literatenstreit zwischen Paz und Fuentes war für Mexiko ein kulturelles Erdbeben.
Einer der damals Fuentes gegen Paz verteidigte, war der Schriftsteller und Sozialwissenschaftler Jorge Castañeda. In den 70er Jahren war er Mitglied der Kommunistischen Partei. Bei den Wahlen 1988 war er politischer Berater von Cárdenas. Bei den Wahlen vom 2. Juli 2000 war er Chefberater von Fox. Seine persönliche Wende begründete er ganz simpel. Es gehe nicht um Prinzipien, nicht um die Wahl zwischen verschiedenen Kandidaten, sondern um ein Referendum für oder gegen den PRI, und Fox habe nun mal die besseren Chancen, dessen Macht zu brechen. Eine ganze Reihe ehemaliger Genossen folgte diesem taktischen Kalkül.
Spiegelt sich in diesem doch recht kruden Opportunismus der alte Wunsch der machtlosen Intellektuellen, endlich mal den politischen Kurs mitzubestimmen. Ist einer wie Castañeda schlicht der Verführung der Macht erlegen? Der Schriftsteller und Historiker Carlos Monsiváis, ein entschiedener Gegner von Fox, stellte verblüfft fest, dass sich die drei aussichtsreichsten Präsidentschaftskandidaten, derjenige des PRI eingeschlossen, von (ehemals) linken Intellektuellen berieten ließen. „Es scheint“, so folgerte er, „dass in Mexiko nur im politischen Milieu der Linken Menschen für den politischen Diskurs qualifiziert wurden.“ Doch ein ernsthafter Diskurs über die Zukunft des Landes fand nicht statt. Vermutlich darf man das in einem Wahlkampf auch nicht erwarten. Fox hat bewiesen: Es genügen zwei Buchstaben. „Ya!“
Thomas Schmid, 26.11.2000 (veröffentlicht vermutlich in der „Frankfurter Rundschau“)
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