Als Jimmy die beiden Jungs, die ihm den Weg versperrten, wahrnahm, war es bereits zu spät. „Rück die Tasche raus“, zischte der eine. Jimmy dachte an sein Geld und an sein Handy, das er im Sportsack trug – da ging er schon zu Boden. Zum Glück eilte ihm Mathieu, sein Cousin, zu Hilfe. Es kam zu einer Prügelei. Zwei gegen zwei. Die Angreifer zogen Leine, drohten ihm aber: „Morgen entwischst du uns nicht.“
Das war an einem Donnerstag. An den beiden Schulen des Quartiers hatte sich schnell herumgesprochen, was geschehen war. Alle wussten, dass es brenzlig werden würde. Am Freitag kamen sie wieder. Diesmal mindestens ein halbes Dutzend. Doch da trat Guy-Patrice Begue, Jimmys Vater, dazwischen. Um seinen Sohn zu schützen, behaupten die einen. Um die Jugendlichen zur Rechenschaft zu ziehen, vermuten die andern. Ein Backstein traf den 37jährigen Maler am Kopf. Er stürzte hin. Mit Füssen traten die Jugendlichen auf den Wehrlosen ein. Immer wieder. Mit voller Kraft. Mindestens 40 Schüler waren inzwischen herbeigeströmt. Alle schauten zu. Keiner griff ein. Erst als die Polizei eintraf, löste sich die Menschentraube so schnell auf, wie sie sich gebildet hatte. Zwei Tage später erlag Guy-Patrice Begue seinen Verletzungen.
Das war vor knapp drei Wochen. An der Rue des Déportés in Evreux, einer Kleinstadt in der Normandie, auf halbem Weg zwischen Paris und Caen, deuten nur noch zwei Blumenkränze auf das Geschehen hin und ein Stück Karton, auf das jemand mit dickem Filzstift geschrieben hat: „Zeugen, Komplizen, könnt ihr ruhig schlafen?“
„Keiner will auspacken, alle haben Angst“, sagt Jean-Yves Begue, der Bruder des Verstorbenen, in Beaumont-le-Roger, einem kleinen Ort 30 Kilometer ausserhalb von Evreux, wo Guy-Patrice mit seiner Frau und den drei Kindern – Jimmy (17), Fabrice (15) und Elodie (8) – wohnte. Immer noch erhält die Familie täglich Beileidsbekundungen aus ganz Frankreich und auch aus dem französischen Übersee-Departement Réunion. Dort, auf der fernen Insel im Indischen Ozean, wurde Guy-Patrice geboren. Mit den Eltern und seinen fünf Geschwistern zog er vor 30 Jahren nach Mantes-la-Jolie an die Peripherie der Pariser Banlieue. Die Stadt entwickelte sich in den 90er Jahren zu einer Hochburg der Bandenkriminalität. Die Begues – inzwischen hatten alle Geschwister geheiratet – zogen nach Beaumont-le-Roger, in dieses verschlafene Nest, wo sie jetzt von der Gewalt, der sie entflohen waren, doch noch eingeholt wurden. Drei Jugendliche sitzen wegen Totschlags hinter Gitter. „Seither erhalten wir täglich Drohanrufe“, berichtet Jean-Yves Begue, „aber die Solidarität ist riesig.“
Selbst Chirac hat die Familie angerufen und eine halbe Stunde telefoniert. Ja, der Präsident empfing die Witwe und zwei Brüder des Toten sogar im Elysée-Palast. Schliesslich herrscht Wahlkampf in Frankreich. Am 21. April und am 5. Mai wählen die Bürger ihr Staatsoberhaupt. Reelle Chancen haben nur zwei: Amtsinhaber Jean-Jacques Chirac und Premierminister Lionel Jospin. Beide haben Gewalt und Kriminalität zum wichtigsten Wahkampfthema erkoren. Und beide wollen das gleiche. Da fragt sich natürlich manch einer, weshalb sie nicht längst verwirklicht haben, was sie jetzt zu tun versprechen, wo sie doch fünf Jahre lang kohabitierten. Der Gaullist Chirac stellt in seiner Wahlbroschüre, die den Titel „Mon engagement pour la France“ trägt, ein neues „Ministerium für innere Sicherheit“ in Aussicht. Der Sozialist Jospin hat seine Wahlpostille „Je m’engage“ betitelt und verspricht ein neues „Ministerium für öffentliche Sicherheit“. Vive la petite différence!
Chirac spricht von Abgründen, die sein Projekt von dem seines Premiers trennen. Doch es ist, als ob der eine dem andern abgeschrieben hätte. Beide wollen sie geschlossene Erziehungsanstalten einrichten. Chirac spricht von „centres éducatifs fermés“, Jospin etwas vager von „structures fermées“. Alles alte Hüte. Geschlossene Erziehungsanstalten wurden Ende der 70er Jahre in Frankreich gesetzlich abgeschafft, nachdem sie sich als Brutstätten der Gewalt entlarvt hatten. Es waren „Gefängnisse, die man nicht so nennen wollte“, räsonnierte Jean Guéry, der letzte Leiter der letzten geschlossenen Anstalt. 1987 wurde – unter der Regierung von Ministerpräsident Chirac – ein Gesetz verabschiedet, das verbietet, Jugendliche unter 16 Jahren in Untersuchungshaft zu nehmen. Jetzt will derselbe Chirac unter dem Namen von „centres préventifs fermés“ Untersuchungsgefängnisse für Jugendliche wieder einführen. Und Jospin hat noch 1999 gegen geschlossene Anstalten plädiert. Doch was kümmert ihn sein Geschwätz von gestern? Der eine verspricht „Null Toleranz“, der andere das „Ende der Straflosigkeit“. Es herrscht Wahlkampf und der Mann von der Strasse ruft offenbar nach der harten Hand.
Einer weiss es besser: Eric Debarbieux. Der Pädagogik-Professor und Leiter einer europäischen Institution, die sich mit der Gewalt an Schulen befasst, warnt vor einer „kollektiven Hysterie“. Der Wissenschaftler, der bereits ein dreibändiges Werk zum Thema herausgegeben hat, veröffentlichte gerade rechtzeitig zu den Wahlen die Ergebnisse seiner neuesten Feldforschung. Der Titel: „L’oppression quotidienne“ – frei übersetzt: „Der tägliche Alptraum“. Debarbieux spricht sich zwar für eine Verstärkung von Polizei und Justiz aus, warnt aber ausdrücklich davor, Minderjährige einzusperren. Dies „würde dazu beitragen, sie in ihrer Kriminalität zu bestärken und harte Kerne zu produzieren. Das Problem liegt nicht in der individuellen Behandlung dieser jungen Leute, sondern in der Antwort auf die Gruppen, die sich um die Kriminalität herum zusammenschweissen.“ Man müsse vor allem den öffentlichen Raum zurückerobern, fordert der Pädagoge. Das wiederum sei nicht nur eine polizeiliche Aufgabe, sondern auch eine von Anwohnern und Nachbarn.
Leichter gesagt als getan. Zum Beispiel in La Madeleine, einem seelenlosen Quartier von Evreux, wo sich Block an Block reiht, alles Sozialwohnungen. 80 Prozent der Mieter sind Ausländer oder eingebürgerte Franzosen ausländischer Herkunft. Die erste Generation von Immigranten aus dem Maghreb und aus Senegal fand vor allem in den Renault-Werken von Flins Beschäftigung. „Aber ihre Kinder wollen nicht mehr in der Fabrik arbeiten“, sagt Jean-Pierre Hederer, Präsident einer Vereinigung, die Opfern von Gewalt medizinische, psychologische und juristische Hilfe vermittelt und deren Büro mitten in La Madeleine liegt, „sie wollen interessantere Jobs oder einfach das schnelle Geld.“ Vor allem schwarze Jugendliche bilden Banden, die sich aufs „Racket“ spezialisiert haben, aufs „Abzocken“ von Gleichaltrigen. Unter Androhung von Gewalt verlangen die „Racketeurs“ Zigaretten oder das Taschengeld. „Abgezockt“ werden aber mit Vorliebe auch Handys, Adidas-Sportschuhe und Swatch-Uhren. Bevorzugte Einsatzwaffe ist das Tapeziermesser. Es eignet sich, um Arme und Gesicht zu ritzen oder gar zu zerschneiden, wird notfalls aber auch als Stichwaffe eingesetzt.
Gewalt und Drogen gehören in La Madeleine zum Alltag. Auch sexuelle Belästigungen und Vergewaltigungen haben in den letzten Jahren rapide zugenommen. Viele ältere Leute wagen sich nachts nicht mehr aus ihren Wohnungen. Der öffentliche Raum, würde der Pädagoge Eric Debarbieux sagen, ist längst von den jugendlichen Banden besetzt. Niemand macht ihn ihnen streitig. Als im Februar ein Drogendealer in Polizeihaft starb, waren innerhalb von zwei Stunden einige Dutzend Autos abgefackelt. Für mehr Polizei oder gar für Street-worker gibt es kein Geld.
Auch der 17jährige F., der vermutlich den Backstein warf, der laut Autopsiebericht Guy-Patrice Begue das Leben kostete, wohnte bis vor kurzem in La Madeleine. Seine Familie war, wie diejenige seines Opfers, vor der Gewalt der Vorstädte geflohen und hatte sich einen vermeintlich ruhigeren Wohnort im Hinterland gesucht. Auch zwei seiner mutmasslichen Mittäter, die wie er in Haft sind, kommen aus dem Problemviertel von Evreux. Viele der Schüler, die zur Rue des Déportés strömten, um der tödlichen Abrechnung zuzuschauen, wohnen ebenfalls in La Madeleine. Man kennt sich. Doch nur wenige haben ausgesagt. „Das grosse Schweigen ist nicht nur der Angst vor Rache geschuldet“, sagt Hederer, „die Gaffer fürchten, wegen Mittäterschaft oder unterlassener Hilfeleistung belangt zu werden, falls sie der Polizei Meldung erstatten.“
Zehn Tage verflossen, bis in Evreux die Schüler von fünf Fachschulen und Gymnasien, aufgerüttelt durch einen Philosophielehrer, die Berichterstattung in den Medien und das schlechte Gewissen, an die Öffentlichkeit gingen. „Wir akzeptieren nicht, mit der Angst im Bauch in einem Universum der Gewalt zu leben“, hiess es in ihrem Aufruf, „wir ertragen die Vorstellung nicht, dass diese Gewalt für die jungen Generationen zu einer unüberwindbaren Schranke wird.“ An die 2.000 Jugendliche versammelten sich am Ort des Geschehens, um des Opfers zu gedenken und das Ende der Gewalt zu fordern. „Wir heissen solche Akte der Barbarei nicht gut“, haucht Benjamin, der Schulsprecher, unter dem Nieselregen ins Mikrophon, „wir lernen aus dieser Tragödie, wir werden verhindern, dass so etwas je wieder vorkommt.“
Es ist ein stiller Protest. Betroffenheit und Scham waren die überwiegenden Gefühle. Und Resignation. „Es wird sich nichts ändern, rein gar nichts“, sagt René, der das gleiche Gymnasium wie Jimmy besucht und schon zweimal „abgezockt“ wurde, „hier gilt das Recht des Stärkeren.“ Sein Schulkollege, der am Ort des Geschehens war und seinen Namen nicht nennen mag, ärgert sich immer noch, dass er nicht gleich die Polizei gerufen hat. „Das Handy hatte ich bei mir“, sagt er, „genützt hätte wohl ein Anruf nichts, aber ich hätte es versuchen müssen, ich war feige.“ Den Mut, bei der Polizei auszusagen, hat er allerdings noch immer nicht aufgebracht.
Die Bürger von Evreux sind dem Aufruf nicht gefolgt. Die Schüler bleiben unter sich. Auch Jean-Louis Debré, der frühere Innenminister und heutige Bürgermeister der Stadt, ein Mann Chiracs, lässt sich nicht blicken. Aber immerhin hat er versprochen, auf der schmalen Fussgängerbrücke, die beim Bahnhof über die Gleise führt und wo es kein Ausweichen vor dem Gegner gibt, einige Überwachungskameras zu installieren. „Ich habe höchstselbst mehrere Gesetze zur Unterdrückung der Jugendkriminalität initiiert“, verkündet er selbstgefällig, „die Linke hat meine Vorschläge zurückgewiesen. Sie zieht die Diskussion und die Versammlungen konkreten Aktionen vor. Jetzt sieht man, wohin das führt.“
Es herrscht eben Wahlkampf in Frankreich.
*Unredigierte Fassung, die vom veröffentlichten Text geringfügig abweichen mag
Von Thomas Schmid, DIE WELTWOCHE, 27.03.2002, Nr. 13*