Schließlich griff Alexander von Humboldt verzweifelt zur Feder. Wie immer schrieb er auf übereinander geschlagenen Oberschenkeln, wozu ihn ein Rheumaleiden an der rechten Schulter zwang. Das hatte er sich in den südamerikanischen Tropen zugezogen, wo er oft auf nassem Laub hatte schlafen müssen. Nun setzte er also in seiner winzigen, schwer lesbaren Schrift eine Anzeige auf. Sie erschien am 20. März 1859 in der Vossischen Zeitung zu Berlin. Darin bat der alte Herr, „Briefe, Durchschriften über mir ganz fremde Gegenstände, Manuskripte, deren Beurteilung gefordert wird, Auswanderungs- und Kolonialprojekte, Einsendung von Modellen, Maschinen und Naturalien, Anfragen über Luftschifffahrt, Vermehrung autographischer Sammlungen, Anerbieten mich häuslich zu pflegen, zu zerstreuen und zu erheitern usw.“ zu unterlassen, damit „bei ohnedies abnehmenden physischen und geistigen Kräften mir einige Ruhe und Muße zu eigener Arbeit verbleibe“.
Dem großen Gelehrten verblieben keine zwei Monate mehr. Den fünften und letzten Band des „Kosmos“, seines Alterswerks, brachte Humboldt nicht mehr zu Ende. Er starb am 6. Mai 1859 – nur wenige Monate vor seinem 90. Geburtstag – in seiner Berliner Wohnung an der Oranienburger Straße Nummer 67. Umgeben von 11.000 Büchern, Blumen und immergrünen Pflanzen, wurde er im Bibliothekszimmer aufgebahrt. Vier Tage später gab ihm eine unübersehbare Menge ihr letztes Geleit. Sechs Pferde, geführt von königlichen Reitknechten, zogen den Katafalk durch die Friedrichstraße und über die Straße Unter den Linden zum Dom. Dort, am Portal, wartete, entblößten Hauptes, der Prinzregent Wilhelm, der nachmalige König von Preußen und Kaiser von Deutschland, der anstelle seines geistig verwirrten Bruders regierte. Der Generalsuperintendent pries in seiner Predigt die ewige Liebe und sprach vom Stückwerk menschlichen Wissens.
Gewiss, er hatte recht. Menschliches Wissen bleibt immer Stückwerk. Trotzdem: Alexander von Humboldt war ein Universalgelehrter, wie es nach ihm wohl keinen mehr gab und – angesichts der rasanten Entwicklung und Spezialisierung der Wissenschaft – nun auch nicht mehr geben wird. Er kannte sich in allen wichtigen Disziplinen der Wissenschaft seiner Zeit aus und half kräftig mit, neue zu begründen: Geographie, Klimatologie, Ozeanographie, Landschaftskunde. Er war Wegbereiter der Amerikanistik und Protagonist der Ökologie. Er war Ethnograph, Anthropologe, Physiker, Geologe, Mineraloge, Botaniker und Vulkanologe. Doch auch der geniale Humboldt hatte Wissenslücken. Wenn ihm Daten und Fakten fehlten, wenn er bei der Lösung eines Problems nicht weiter kam, schrieb er an seine Kollegen in Berlin oder Preußen, Frankreich, Großbritannien, Russland oder den Vereinigten Staaten von Amerika und bat um Auskunft und Mithilfe. An die 35.000 Briefe verschickte er in seinem Leben, etwa 12.500 von ihnen sind archivarisch erfasst. Rund 100.000 Briefe erhielt er. Doch die meisten vernichtete er, oder er schnitt die Sätze heraus, die ihm wichtig schienen. Er werde „durch eine immer zunehmende, meist sehr uninteressante Correspondenz unbarmherzig gequält“, beklagte er sich – brieflich – ein Jahr vor seinem Tod bei einem Freund. Es gab Zeiten, in denen Humboldt ein Zehntel seines Einkommens für Porto-Kosten ausgab.
Im selben Dom, in dem der Generalsuperintendent von Liebe und Stückwerk sprach, hatte 90 Jahre zuvor, im Herbst 1769, der Hofprediger den kleinen Alexander in die Gemeinschaft der Christen aufgenommen. Als Paten verzeichnet das Taufbuch der Berliner Domgemeinde 14 Personen, unter ihnen den Prinzen von Preußen und nachmaligen König Friedrich Wilhelm II., zwei weitere Prinzen, einen Herzog, zwei Grafen und zwei Gräfinnen. So viel Prominenz hatte der Säugling seinem Vater zu verdanken, der König Friedrich II., dem Großen Fritz, in den Feldzügen des Siebenjährigen Krieges als Major gedient hatte, bevor er als Kammerherr in den Dienst des Prinzen trat. Er genoss „bis zu seinem Tod das ausgezeichnetste Vertrauen seines Monarchen“, vermerkte Humboldt, noch keine 30 Jahre alt, in einer autobiographischen Skizze.
Seine Kindheit verbringt Alexander im Schloss Tegel, das die Mutter, die einer begüterten Hugenottenfamilie entstammt, nach dem Tod ihres ersten Gatten in Erbpacht übernommen hat. Es ist ein kleines Paradies, am See gelegen, mit weitläufigem Park, Wiesen, Wäldern und Weinpflanzungen. Auch Maulbeerbäume gibt es, weil der König in Preußen die Seidenraupenzucht eingeführt hat. Im zwei Wegstunden entfernten Berlin entstehen die ersten Mietskasernen, und viele Kinder können von einer solchen Umgebung nur träumen. Doch Alexander spricht in seinen Briefen später despektierlich vom „Schloss Langweil“, und einem Freund schreibt er im Alter von 23 Jahren: „Hier in Tegel habe ich den größeren Teil dieses traurigen Lebens zugebracht, unter Leuten, die mich liebten, mir wohlwollten, und mit denen ich doch in keiner Empfindung begegnete, in tausendfältigem Zwang, in entbehrender Einsamkeit, in Verhältnissen, wo ich zu steter Verstellung, Aufopferungen usw. gezwungen wurde.“
Seinen Eltern aber hat Alexander mehr zu verdanken, als er sich eingesteht. Der Vater, ein umgänglicher und geselliger Zeitgenosse, bringt ihm die Natur nahe, die ihm später so viel bedeuten wird. Er nimmt ihn zur Jagd mit, sucht mit ihm Pflanzen, Schmetterlinge und Vogelnester. Doch er stirbt, als Alexander noch keine zehn Jahre alt ist. Die Mutter, kühl, zurückhaltend und stets beherrscht, besorgt ihm und Wilhelm, seinem zwei Jahre älteren Bruder, Hauslehrer, die sie in die Salons der „Berliner Aufklärung“ um den Philosophen Moses Mendelssohn einführen. Dort treffen sich junge Adlige, bildungshungrige Bürger und jüdische Intellektuelle zum freien Austausch der Gedanken. Man debattiert über Kant und Rousseau, über Philosophie und Politik.
Da es in Berlin noch keine Universität gibt, schickt die Mutter ihre beiden Söhne zunächst an die Viadrina in Frankfurt an der Oder zum Studium. Wilhelm entscheidet sich für Rechtswissenschaft, und auch Alexander, der ewige Träumer, soll etwas Anständiges lernen. Er schreibt sich für Kameralistik ein, das Studium der Staats-, Verwaltungs- und Finanzwissenschaft, das auf eine preußische Beamtenlaufbahn vorbereitet. Doch es hält ihn nur ein Semester lang in Frankfurt. Er kehrt nach Berlin zurück. Ein Jahr später zieht er nach Göttingen, wo schon Wilhelm studiert.
In Göttingen taucht eines Tages ein Mann auf, der Humboldts Leben eine neue Richtung weisen wird: Georg Forster, der Autor von „A voyage round the world“. Im Alter von 18 Jahren hat Forster den großen brititschen Seefahrer und Entdeckungsreisenden James Cook auf dessen zweiter Weltumsegelung begleitet. Seit der Veröffentlichung seines Reiseberichts ist er in ganz Europa eine Berühmtheit. Nun arbeitet er als Bibliothekar in der Kurfürstlichen Universität zu Mainz, wo ihn Humboldt aufsucht. Die beiden verstehen sich blendend. Forster lädt seinen Gast ein, ihn auf einer Reise nach England zu begleiten. Vielleicht hat sich Humboldt ihm auch aufgedrängt.
Im Frühjahr 1990 schiffen sie sich in Mainz ein, fahren den Rhein hinunter über Koblenz, Köln nach Düsseldorf, dann mit der Pferdepost über Jülich nach Aachen. Von dort reisen sie weiter über Brüssel nach Dünkirchen, wo Humboldt zum erstenmal in seinem Leben das Meer sieht. Er ist überwältigt vom Anblick eines grenzenlosen Horizonts und sammelt Seesterne, Algen, Tang, Muscheln, Medusen, Madreporen. Nach der Besichtigung einer Salzsiederei bei Antwerpen setzen die beiden nach England über. Dort suchen sie die Witwe Cooks auf und auch Sir Joseph Banks, den Präsidenten der Royal Society, der den Captain auf seiner ersten Weltumsegelung begleitet hat. Er besitzt das größte Herbarium der Welt und eine umfangreiche botanische Bibliothek. Der junge Humboldt staunt, schmökert, macht sich Notizen.
Auf dem Rückweg nach Mainz reisen die beiden Freunde über Paris, wo sie Anfang Juli eintreffen. Die Stadt bereitet sich auf die Feierlichkeiten zum ersten Jahrestag des Sturms auf die Bastille vor. Auf dem Marsfeld wird emsig am Bau der riesigen Tribünen gearbeitet, auf denen in wenigen Tagen schon 260.000 Franzosen Platz nehmen werden. Und Humboldt karrt persönlich Sand zum noch unvollendeten „Altar des Vaterlandes“, vor dem Bischof Talleyrand, der spätere Außenminister Napoleons, die Messe zelebrieren und der König auf die neuen Gesetze schwören wird. Aber die große Feier warten die beiden Deutschen nicht mehr ab. Die wenigen Tage im revolutionären Frankreich hinterlassen einen nachhaltigen Eindurck auf Humboldt. Auch wenn er in den Dienst des preußischen Monarchen treten wird, so wird er auch immer wieder die Ideale der Französischen Revolution verteidigen. Doch [anders als sein großes Vorbild Forster, der die Revolution enthusiastisch begrüßt, sich ihr anschließt und abgrundtief enttäuscht von der terroristischen Wende, die sie nimmt, noch keine 40 Jahre alt, im Pariser Exil stirbt,] hält sich Humboldt aus den politischen Auseinandersetzungen heraus. Schon bald wird der Revolutionsfreund in den Dienst der konservativen preußischen Monarchie treten. Und als weltberühmter Universalgelehrter wird er dem reaktionären König als unterwürfiger Kammerherr dienen – ein Hofjakobiner eben oder „eine Zierde der Krone“, wie er nüchtern feststellt. Die Selbstkritik bleibt folgenlos.
Humboldt ist knapp 21 Jahre alt, als er aus Paris zurückkehrt. Er hat Forster kennengelernt, Sir Joseph Banks getroffen, das Meer gesehen. Es zieht ihn hinaus in die große weite Welt. Doch die Mutter will aus ihm noch immer einen preußischen Beamten machen. Also schreibt er sich an der Hamburger Handelsakademie ein, quält sich durch Exportstatistiken und lernt Buch führen, beschäftigt sich mit Fragen des Geldumlaufs und nebenbei mit Botanik und Mineralogie, fährt auf die Elbe hinaus, um den Wasserstand bei Ebbe und Flut zu messen, und auch nach Helgoland. Doch er hält es auch in der Hansestadt nur ein Semester aus.
Mitte 1791 nimmt er ein Studium in der Bergakademie im sächsischen Freiberg auf. Schon acht Monate später wird er in den preußischen Staatsdienst übernommen. Er inspiziert Bergwerke, erfindet eine Lampe, die in der sauerstoffarmen Luft länger brennt als die Rapsölleuchten, und eine „Respirationsmaschine“ – es ist ein Luftsack mit Atemschlauch – zur Bergung verunglückter Arbeiter. En passant schreibt er eine wissenschaftliche Abhandlung über die Frage, weshalb Pflanzen in lichtlosem Raum gedeihen können,– in lateinischer Sprache. Er macht in rasantem Tempo Karriere. In nur drei Jahren klettert er die Stufen vom Assessor zum Oberbergmeister, zum Bergrat, und im Mai 1795 zum Oberbergrat hinauf. Eine Zeichnung aus jener Zeit zeigt ihn als schlanken, gut aussehenden Mann mit etwas wuscheligem Haar. „Große Nase, großer Mund, starkes Kinn, hohe Stirn mit Pockennarben“, steht drei Jahre später – die Fotografie ist noch nicht erfunden – in seinem Pass. Die Pockennarben, damals ein häufiges Merkmal, hat der Zeichner freundlicherweise weggelassen.
Humboldt ist also in respektabler Stellung und hat Aussicht auf eine glänzende Beamtenkarriere. Doch Ende 1996 stirbt seine Mutter. Der Sohn zögert nicht lange. Er quittiert den Staatsdienst. Sein Erbteil, so hat er ausgerechnet bringt ihm 3.476 Taler Zinsen jährlich, das ist deutlich mehr als sein derzeitiger Beamtensold. Mit 27 Jahren ist er also Rentier – und macht sich nun daran, seinen Lebenstraum zu verwirklichen: die große Reise. Christoph Kolumbus, Vasco da Gama, James Cook, sie alle haben Meere überquert und Kontinente umschifft. Auf der Suche nach kürzeren Handelswegen, nach Gold oder Besitz haben sie ihren Herrschern neue Gebiete erschlossen, Länder in Besitz genommen. Es waren Entdeckungsreisen, finanziert von den Auftragsgebern. Humboldt jedoch plant von Anfang eine reine Forschungsreise. Er hat keine kommerziellen Interessen,keine Kolonialmacht im Rücken. Ihn treiben allein Wissensdrang und Neugier. Die Reise wird, was er noch nicht weiß, fünf Jahre dauern. Für die Kosten kommt er ganz allein auf. Es ist ein einzigartiges Unternehmen in der Weltgeschichte. Weder davor noch danach hat es je etwas Vergleichbares gegeben.
Im Hafen von La Coruña, im Nordwesten der iberischen Halbinsel, gehen Alexander Humboldt und Aimé Bonpland, ein Botaniker und Arzt, den er in Paris kennen gelernt hat, an Bord. In Madrid hat ihnen der König Pässe für all seine Besitzungen in Übersee und Empfehlungsschreiben an die Gouverneure vor Ort ausstellen lassen. Am 5. Juni 1799 lichtet die „Pizarro“, ein spanisches Postschiff, die Anker. Im Gepäck führen die beiden Forscher rund 50 Instrumente mit: eine Längenuhr (mit dessen Hilfe sie den geographischen Längengrad bestimmen, auf dem sie sich befinden), drei Teleskope unterschiedlicher Größe, einen Theodoliten (Winkelmessgerät), einen Inklinometer (für geomagnetische Messungen), ein Hygrometer (misst die Luftfeuchtigkeit), ein Hypsometer (um die Höhe zu messen), einen Cyanometer (zeigt die aktuelle Himmelsbläue an), Thermometer, Barometer, Sextanten und Quadranten. Fünf Jahre lang wird nun Humboldt alles bestimmen: die Höhe von Bäumen und Bergen, die Länge toter Krokodile, das Gewicht lebender Schildkröten, die Breite von Flüssen, die Dicke von Pflanzenstengeln, die Temperatur von Luft und Wasser, die Feuchtigkeit im Dschungel und in der Wüste, den Luftdruck auf Meereshöhe und im Hochgebirge. Er wird Pflanzen, Tiere, Steine und sogar Menschenknochen sammeln. Er wird geradezu obsessiv alles messen und die Resultate akribisch notieren. Die Empirie ist für ihn die Grundlage jeder Wissenschaft. Spekulation ist ihm zuwider. Und er wird die gemessenen Daten in Beziehung zueinander setzen, Karten und Profile von Ländern entwerfen.
Mitte Juli kommt Land in Sicht. Die Neue Welt. In Cumaná, der Hauptstadt Neuandalusiens (heute Venezuela), geht die „Pizarro“ vor Anker. Noch am Tag der Landung berichtet Humboldt brieflich seinem Bruder: „Wunderbare Pflanzen; Zitteraale, Tiger, Armadille, Affen, Papageien; und viele, viele echte, halbwilde Indianer, eine sehr schöne und interessante Menschenrasse.“ In der ersten Stadt Südamerikas, die Humboldt betritt, trifft er aber auch auf die hässliche Seite des Kontinents. Auf dem Sklavenmarkt sieht er, wie Käufer den Afrikanern den Mund aufreißen, „ganz wie es auf dem Pferdemarkt geschieht“, um aus dem Zustand des Gebisses auf Alter und Gesundheit der Ware zu schließen. Sklaven werden mit Glüheisen gezeichnet, um sie wiederzuerkennen, falls sie entlaufen. „So behandelt man Menschen, die anderen Menschen die Mühe des Säens, Ackerns und Erntens ersparen“, empört sich der Humanist noch zehn Jahre später, als er seinen Reisebericht verfasst.
Die Flussfahrt über den Urwaldstrom Orinoco und seine Nebenflüsse wird der abenteuerlichste Teil von Humboldts Amerika-Reise bleiben. Die beiden Europäer beobachten fasziniert, wie die Indianer Pferde in den Fluss treiben, um Zitteraale zu fangen. Die Fische schwimmen unter den Bauch der Vierbeiner, versetzen dem Herz, den Eingeweiden und dem Nervengeflecht des Magens elektrische Schläge. Für die Pferde ist es die reinste Qual. Die Zitteraale aber erlahmen, wenn ihre natürliche Batterie entladen ist, und sind zu schlapp, um den Harpunen der Indianer auszuweichen. Nach dem tierischen Krieg lauschen Humboldt und Bonpland nachts in ihren Hängematten dem friedlichen Schnarchen der Süßwasserdelphine. Ein Feuer hält die Jaguare fern.
Die beiden Wissenschafter trotzen Schwärmen von Moskitos, „die die Luft verfinstern“, ernähren sich mitunter von Ameisen und Affenfleisch, schlafen in Wäldern, umgeben von Boas, Krokodilen und andern wilden Tieren, schauen zu wie Indiander das teuflische Curare zubereiten, mit dem sie ihre Pfeilspitzen, manchmal auch den Daumennagel vergiften. Sie wohnen Festen der Indianer bei, studieren ihre Sitten und ein wenig auch ihre Sprachen. Sie sind verwundert ob all dieser fremden Welt. Die Einheimischen ihrerseits werden sich über das seltsame Gebaren der beiden Fremden nicht weniger gewundert haben, die mit ihren bizarren Instrumenten durch den Dschungel reisen, Distanzen ausmessen, Berechnungen anstellen, Pflanzen zeichnen, Flussläufe kartographieren und alles fein säuberlich notieren. Humboldt trägt einen preußischen Gehrock, und neben ihm sitzt seine Dogge.
Die Indianer bleiben Humboldt letztlich fremd. Er staunt, dass es ihnen „so ungemein schwer fällt, die einfachsten Gedanken zusammenzubringen und auf spanisch auszudrücken“. Zwar geißelt er in aller Schärfe die Mönche in den Missionen, die Indianer wie Sklaven halten, sie in der Kirche auspeitschen lassen, wenn sie zu ihren eigenen Göttern beten, sie jeglicher Freiheit berauben. Andererseits berichtet er – ohne die geringste Spur von Skepsis – über kannibalische Sitten der Einheimischen und stützt sich hierbei nur auf die Aussagen dieser Mönche. Ein indianischer Bürgermeister habe sogar eine seiner Frauen verzehrt, nachdem er sie „gut genährt hatte, um sie fett zu machen“. Es sind Menschen „auf der untersten Stufe tierischer Rohheit“. Wenn der Indianer aber in einer Mission lebt, ist er „schweigsam, verdrossen, in sich gekehrt, seine Miene ist ernst, geheimnisvoll“.
Mit den Beamten der Kolonialherrschaft, die ihm jegliche Hilfe angedeihen lassen, und mit den Mönchen, die ihn in den Urwaldmissionen beherbergen, versteht sich Humboldt ausgezeichnet. Oft sind sie ihm zwar zuwider. Doch haben sie in seiner Reisebeschreibung immerhin meistens Namen und Titel. Die Indianer hingegen – Ruderer, Lotsen, Übersetzer, Träger und Tiertreiber -, ohne die seine große Expedition durch den südamerikanischen Dschungel gar nicht möglich gewesen wäre, werden nur selten namentlich erwähnt. „Von zwanzig Ruderknechten ließen wir sieben oder acht krankheitshalber auf dem Weg zurück. Fast ebenso viele gelangten mit schändlich stinkenden Fußgeschwüren und bleich in Honda an“, schreibt er über seine Reise auf dem Río Magdalena ziemlich ungerührt, um im anschließenden Satz gleich alle die weißen Begleiter und den Mulatten namentlich aufzuzählen, die bei derselben Gelegenheit ein Dreitagefieber erwischt hat. Als Humboldt in Neuandalusien auf eine Höhle auf eine Grabstätte mit 600 gut erhaltenen Skeletten stößt, zögert er nicht, „zum großen Ärgernis unserer Führer“, wie er bemerkt, die Schädelbildung genau zu untersuchen. Ja, er lässt mehrere Totenköpfe und sogar drei ganze Skelette – „fast eine ganze Maultierladung“ – heimlich verladen. Natürlich weiß Humboldt um den Ahnenkult der Indianer. Doch den Forscher kümmern ihre Gefühle wenig. Schließlich dient er der Wissenschaft und ist dem universalen Fortschritt verpflichtet. Die geraubten Knochen werden später bei einem Schiffbruch an der Küste Afrikas verloren gehen.
Im November 1800 verlassen Humboldt und Bonpland Neu-Andalusien. Sie schiffen sich in einem amerikanischen Frachter nach Kuba ein, wo sie Geologie, Klima und Handel untersuchen. Der Essay, den Humboldt über die Insel schreibt, wird deshalb für Furore sorgen, weil er ihm ein Kapitel über die Sklaverei anhängt. Zeit seines Lebens ist die Schrift in Kuba, wo zeitweilig über 200.000 Sklaven auf den Zuckerrohrplantagen und in den Kaffeepflanzungen arbeiteten, verboten.
Nie wird sich der Humanist mit der Sklaverei abfinden. Es gibt für ihn nicht höher- und minderwertige Rassen. Was sie unterscheidet, ist der Grad der Bildung und der Zivilisation. Noch im hohen Alter von 87 Jahren echauffiert er sich, als 1856 in den USA James Buchanan zum Präsidenten gewählt wird: „Und die schändliche Partei, die fünfzigpfündige Negerkinder verkauft, (…) die erweist, dass alle weißen Arbeiter auch besser Sklaven als Freie wären, – hat gesiegt. Welch eine Untat!“ Ein Jahr später setzt er sich für einen brasilianischen Sklaven ein, der mit seinem Besitzer nach Berlin gekommen ist und nun seine Freiheit juristisch einklagt. Nach preußischem Landrecht dürfen zwar „Fremde, die sich nur für eine Zeitlang in Königlichen Landen befinden“, ihre Rechte über die mitgebrachten Sklaven behalten.“ Doch der preußische König Friedrich Wilhelm IV. dekretiert schließlich: „Sklaven werden von dem Augenblick an, wo sie Preußisches Gebiet betreten, frei. Das Eigenthumsrecht des Herrn ist von diesem Zeitpunkte an erloschen.“ Humboldt freut sich, dass „das von mir lange geforderte Negergesetz“ beschlossen ist. Praktisch hat es im Preußen, wo Sklaven kaum hinkommen, keine Bedeutung.
Von Kuba aus reisen Humboldt und Bonpland im Frühjahrs 1801 nach Cartagena (im heutigen Kolumbien) weiter, und von dort auf dem Fluß- und Landweg nach Bogotá und Quito. Sie besteigen den Chimborazo, der damals als höchster Berg der Welt gilt, fast bis zum Gipfel und schlagen sich über die Bergketten der Anden nach Lima durch. Dort schiffen sie sich nach Acapulco ein. Ein Jahr lang arbeiten sie in Mexiko, damals Hauptstadt des Vizekönigreichs Neuspanien. Sie machen Ausflüge nach Taxco, um die Silbergruben zu inspizieren, und nach Guanajuato wegen der Zinn- und Quecksilberminen. Humboldt beschäftigt sich mit dem aztekischen Kalender, der 18 Monate zu je 20 Tage kennt und jährlich fünf „Schalttage“.(1) Er vergleicht ihn mit dem Kalender der Inkas, der Hindus und Chinesen, aber auch mit dem neuen Kalender der französischen Revolutionäre, der zwölf Monate zu drei Wochen mit jeweils zehn Tagen und ebenfalls fünf „Schalttage“ hat. Ob es um Gebirgsformationen, Schöpfungsmythen oder Zeitrechnung geht: Er studiert immer alles bis ins kleinste Detail und hat doch immer die ganze Welt im Blick.
In Veracruz besteigen Humboldt und Bonpland schließlich ein Schiff nach Kuba, und von dort aus segeln sie zwei Monate später in die Vereinigten Staaten. In Philadelphia, der damals größten Stadt des Landes, gehen sie an Land. Beim Zoll deklariert Humboldt 27 Behälter mit getrockneten Pflanzen und schreibt noch am selben Tag an Präsident Thomas Jefferson. Er schmeichelt ihm, lobt seine naturwissenschaftliche Arbeit über Virginia und bittet, ihm persönlich über die Mammutzähne berichten zu dürfen, die er in den Anden gefunden hat. Der Präsident antwortet postwendend, dass Washington, das seit vier Jahren Hauptstadt ist und damals keine 5.000 Einwohner hat, nichts habe, „was das Interesse eines Reisenden locken könnte“, aber er werde ihn gerne empfangen.
Der Präsident, ein geistes- wie naturwissenschaftlich gebildeter Mensch, steht dem liberalen Wissenschaftler aus Preußen auch politisch nahe. Jefferson hat die Unabhängigkeitserklärung der USA von 1776 entworfen, wonach „alle Menschen gleich geboren“ sind. Dass er auf seinen Plantagen zeitlebens Sklaven beschäftigt, steht auf einem andern Blatt. Die beiden parlieren über Wissenschaft und Kultur. Aber Jefferson hat auch ganz handfeste Interessen. Just im Vorjahr hat die amerikanische Regierung im Louisiana-Vertrag für 15 Millionen Dollar Frankreich über zwei Millionen Quadratkilometer weithin unerschlossenes Land abgekauft und so, ohne einen einzigen Schuß abzufeuern, das eigene Staatsgebiet verdoppelt. Nun haben die Vereinigten Staaten im Westen eine gemeinsame Grenze zu Texas und Neu-Mexiko, die damals noch zum Vizekönigreich Neuspanien gehören. Jefferson bittet den Mexiko-Spezialisten Humboldt, ihm Auskunft darüber zu geben, „welche Art von Bevölkerung – weiße, rote oder schwarze Menschen“ – im Grenzgebiet lebt und ob es dort Minen gibt. Mit Außenminister James Madison bespricht Humboldt die Möglichkeit eines Kanals zwischen Atlantik und Pazifik – 75 Jahre vor dem ersten Spatenstich in der Landenge von Panama.
Als Humboldt im August 1804 nach mehr als fünfjähriger Abwesenheit in Bordeaux wieder europäischen Boden betritt, ist er ein weltberühmter Mann. Er hält Vorträge in Paris, wird in wissenschaftlichen Instituten herumgereicht, ist beliebter Gast in den nobelsten Salons. Er ist charmant, eloquent, aber auch ein gefürchtetes Lästermaul und oft einfach Vielschwätzer. Schon bald wird er auch Napoleon vorgestellt, der fünf Jahre zuvor in Frankreich die Macht an sich gerissen hat. „Sie beschäftigen sich mit Botanik?“ fragt ihn in barschem Ton der General, der sich einen Monat später zum Kaiser ausrufen wird. Humboldt hat nicht einmal Zeit, die Frage zu bejahen, da fährt der Potentat fort: „Meine Frau auch“, dreht dem Gast den Rücken zu und geht. Eine gezielte Kränkung. Vermutlich neidet er ihm den Ruhm. Der Wissenschaftler wird die Empfänge am Hof fortan meiden. Und dabei hat er sich doch für die anstehende Kaiserkrönung für 70 Louisdor – „man muss nach solcher Reise nicht scheinen, auf den Hund gekommen zu sein“ – einen goldbestickten Samtrock machen lassen.(2)
Im November 1805 kehrt Humboldt zum erstenmal nach neun Jahren wieder in seine Heimatstadt Berlin zurück. Schon drei Tage nach seiner Ankunft erhält er durch Kabinettsorder eine Pension von jährlich 2.500 Talern, 500 davon gehen zu Lasten der Akademie der Wissenschaften, die ihn schon im Februar des Jahres als ordentliches Mitglied aufgenommen hat. Im Dezember wird er auch noch zum Königlichen Kammerherr ernannt und gehört damit zum pesönlichen Stab des Monarchen. Man bemüht sich offensichtlich, den illustren, aber leider frankophilen Wissenschaftler in seiner Heimatstadt zu halten. Doch schon im kommenden Jahr werden die Kriegstommeln gerührt. Preußen bricht unter dem Ansturm der französischen Heere zusammen. Napoleon zieht in Berlin ein. Das Schloss Tegel wird verwüstet, das Mobiliar zerschlagen, die Kartoffelvorräte ausgegraben. Es brechen schwere Zeiten über Preußen herein. Bald herrscht Hungersnot.
Um die Höhe der Kriegskontribution auszuhandeln, schickt König Friedrich Wilhelm III. seinen Bruder Prinz Wilhelm nach Paris. Humboldt wird im November 1807 vorausgeschickt, um die Mission vorzubereiten. Nach dem Ende der demütigenden Verhandlungen erlaubt ihm der König, in dessen Diensten er als Kammerherr ja steht, in Paris zu bleiben, damit er seine wissenschaftlichen Arbeiten zu Ende bringen kann. Als sich Preußen 1813 gegen die napoleonische Besatzung erhebt, bleibt Humboldt in Frankreich. In Berlin wirft man ihm Mangel an Patriotismus, wenn nicht sogar Vaterlandsverrat vor. Doch als der preußische König nach der Völkerschlacht bei Leipzig siegreich in Paris einzieht und Napoleon abgesetzt wird, ist er ganz froh, dass er in ihm einen ortskundigen Diplomaten hat.
Zwei Jahrzehnte bleibt Humboldt in Paris, der europäischen Metropole von Kultur und Wissenschaft. Er arbeitet in dieser Zeit an seinem Werk über die Amerika-Reise. Er fasst es in französischer Sprache ab, die er fast genauso gut beherrscht wie seine Muttersprache. Es werden 29 Bände mit fast 1.500, zumeist kolorierten, wertvollen Kupferstichen. Neben dem eigentlichen Reisebericht, der allerdings nur das erste Drittel der Reise – bis zur Landung in Cartagena – behandelt, umfasst das Werk Landeskunden über Mexiko und Kuba, Bände über Zoologie, Astronomie und allein elf Bände über Botanik. Rund 4.500 Pflanzen, die vor allem Bonpland gesammelt hat, werden beschrieben, 3.600 werden überhaupt erst bekannt. Prunkstück sind „Die Ansichten der Kordilleren“, ein Band mit 69 großen Bildtafeln samt Erläuterungen über Landschaften und archäologische Monumente, über den Kalender der Azteken und den See von Guatavita, auf dessen Grund die Indianer ihr Gold vor den Kolonialtruppen versteckt haben sollen. Für die Zeichnungen, die Kupferstiche und die Kolorierung hat Humboldt zahlreiche Künstler engagiert, die er aus der eigenen Tasche bezahlt hat. Er hat sich übernommen. Auch sucht er wieder die Nähe seines Bruders Wilhelm. So kehrt er 1827 nach Berlin zurück. Der König hat ihm für die Stelle eines Kammerherrn und Berater eine Verdoppelung des Gehalts angeboten. Außerdem erlaubt er ihm, jedes Jahr vier Monate in Paris zu verbringen. Inzwischen hat auch Berlin eine Universität. Und als Mitglied der Königlichen Akademie der Wissenschaften bietet Humboldt nun Vorlesungen über Physik und Geologie an. Zusätzlich hält er im größten Auditorium der Stadt, im Saal der Sing-Akademie, wo 800 Personen Platz finden, öffentliche Vorträge. Eintritt frei. Es ist eine Sensation. Da steigt der berühmteste deutsche Gelehrte vom Katheder herab und spricht zum einfachen Volk. Und er redet in einer allgemeinverständlichen, fesselnden Sprache. Im Publikum, das zu seinen 16 Vorträgen im stets überfüllten Saal erscheint, finden sich Droschkenkutscher, Maurer, Hausfrauen, aber auch Beamte, Minister und oft der König höchstselbst.
Humboldt ist erst drei Monate in Berlin zurück, als ihn der russische Finanzminister Graf Georg Cancrin kontaktiert. Der gebürtige Hesse will einen Platin-Rubel prägen und fragt den Wissenschaftler um seine Meinung. Der Währungspolitiker möchte außerdem vom Mineralogen wissen, wie groß denn die Weltvorräte am „weißen Metall“ etwa sein könnten. Wenig später schon liegt eine Einladung des Zaren zu einer sechsmonatigen Reise in den Ural vor. Der Gelehrte bedankt sich artig beim Autokraten und bittet, weiter, bis nach Westsibirien, reisen zu dürfen. „Ich habe zwar eine kindliche Angst vor der Kälte“, schreibt er, „aber ich weiß auch, dass man für ein hohes Ziel Opfer bringen muss.“ Der Zar willigt ein.
So kommt Humboldt also doch noch Asien. Eigentlich hatte er damals – 30 Jahre ist es her – von Südamerika aus westwärts nach Indien segeln wollen, von diesem Projekt dann aber Abstand genommen. Später hat er bei der Britischen Ostindien-Kompanie mindestens drei Anträge auf Ein- und Durchreise eingereicht, um zu den Quellen des Indus und ins tibetanische Hochland zu gelangen. Er war an einem globalen Vergleich der amerikanischen und asiatischen Steppen, der Anden und des Himalaya interessiert. Die Anträge wurden alle abgelehnt. Vielleicht befürchteten die Briten, Humboldt werde über ihre Behandlung der Inder so offen schreiben wie über die Sklaverei in Amerika. Vielleicht verdächtigte man ihn, im Interesse der deutschen oder russischen Monarchie zu forschen. Ein Plan, nach Sibirien zu reisen, den er 1812 der russischen Regierung zukommen ließ, hatte sich mit Napoleons Russlandfeldzug vorerst erledigt.
Doch nun klappt es also doch noch. In seinem 60. Lebensjahr bricht Humboldt – zusammen mit zwei weiteren Wissenschaftlern und seinem Diener Johann Seifert – zu seiner zweiten großen Reise auf. Über Königsberg und Riga erreichen sie Petersburg. Dort wird Humboldt vom Zar empfangen, mit dem er fast jeden Tag speist. Die Abende verbringt er in ungezwungener Atmosphäre mit der Zarin, einer Tochter von König Friedrich Wilhelm III. und Königin Luise. Und Cancrin lässt ihm schon bald 20.000 Rubel auszahlen, das Doppelte der vereinbarten Summe. Die russischen Interessen sind klar. Der Finanzminister und sein Zar haben die Naturschätze Sibiriens imVisier. Humboldt soll das Gelände explorieren, die Erzvorkommen begutachten und die Bergwerke inspizieren. Die Route ist weitgehend festgelegt. Humboldt gelangt über das Uralgebirge, durch sibirische Steppen bis zur chinesischen Grenze. Er begegnet Kosaken und Kirgisen, Baschkiren und Tataren und auch Wolgadeutschen. Er misst Temperaturen, Höhen, den Magnetismus, sammelt Pflanzen, nimmt Gesteinsproben.
Aber anders als die große Amerika-Reise ist es keine freie Forschungsreise . Er sieht Menschen auf dem Weg in die Verbannung nach Sibirien. Es bedrückt ihn. Doch in keinem Reisebericht wird er darüber schreiben. Seinem Geldgeber gegenüber hat sich Humboldt, wie er später selbst schreibt, verpflichtet, seine Beobachtungen und Äußerungen „auf die tote Natur zu beschränken und alles zu vermeiden, was sich auf Menschen-Einrichtungen, Verhältnisse der unteren Volksklasse bezieht“.Der Wissenschaftler hat sich mit der Macht arrangiert, sich dem Diktat des Auftraggebers gebeugt. Der Zar seinerseits hat angeordnet, seinen Gastmit den einem General gebührenden Ehren zu empfangen, und überall erstatten die örtlichen Kommandanten dem preußischen Gelehrten Rapport über den Zustand ihrer Truppen. Humboldt wird von hohen Bergbaubeamten begleitet, überall Polizisten, Verwalter, Kosakenwachen. „Kein Schritt, ohne dass man ganz wie ein Kranker unter der Achsel geführt wird“, klagt er seinem Bruder. Alles ist bestens organisiert. An 658 Poststationen werden 12.244 Pferde gewechselt. In nur 23 Wochen hat Humboldt 15.000 Kilometer zurückgelegt – eine beachtliche Leistung für einen 60jährigen, immerhin.
Ein halbes Jahr nach Humboldts Rückkehr aus Russland bricht in Paris die Juli-Revolution aus. Friedrich Wilhelm III. schickt seinen Kammerherrn umgehend nach Frankreich. Er wird in den 30er und 40er Jahren acht mal zu diplomatischen Missionen nach Paris geschickt. Er liebt die Stadt. Berlin hingegen scheint ihm eine „moralische Sandwüste, geziert durch Akaziensträucher und blühende Kartoffelfelder“. Doch er bleibt Kammerherr seines Königs. Er diniert mit ihm fast täglich. Neben den lästigen Verpflichtungen am Hof macht er sich nun an sein Alterswerk, den „Kosmos“. Er will, so fasst er sein Arbeitsprogramm zusammen, „die ganze materielle Welt, alles, was wir heute von den Erscheinungen der Himmelsräume und des Erdenlebens, von den Nebelsternen bis zur Geographie der Moose auf den Granitfelsen, wissen, alles in einem Werk darstellen“. Es wird ein Kampf eines geistigen Titanen gegen eine unbarmherzig immer weiter ansteigende Wissensflut. Ein Wettlauf mit dem Tod. Der erste Band erscheint 1845. Es ist ein Bestseller, der noch im gleichen Jahr in die zweite und dritte Auflage geht. 1847 folgt der zweite Band, 1850 der dritte, 1858 der vierte. Den fünften wird Humboldt nicht mehr zu Ende bringen. Er erscheint posthum 1962. Alle fünf Bände zusammen erreichen bis dahin eine Auflage von 87.000. Damals sensationell für ein wissenschaftliches Werk. Über dessen wissenschaftlichen Wert – über die eigentümliche Mischung aus Bergen empirischer Daten, theoretischer Reflexion und ästhetischer Anschauung – mag man heute streiten. In der Wissenschaftsgeschichte ist der „Kosmos“ jedoch ein Solitär.
Humboldt arbeitet am dritten Band des „Kosmos“, als in Berlin im März 1848 Barrikadenkämpfe ausbrechen. Sein Herz ist bei den Revolutionären, sein Brot verdient er beim König. Wie wird sich der Hofjakobiner nun verhalten? Die revoltierende Menge vor dem Schloss in Berlin ruft nach ihm. Er tritt heraus, verneigt sich vor den Menschen und tritt wortlos ab. Als die Märzgefallenen zu Grabe getragen werden, findet man den fast 80jährigen Mann aber im Trauerzug. Die Revolution scheitert, und Humboldt zieht sich wieder in sein Doppelleben zwischen Kammerherr und Buchautor zurück. Er muss König Friedrich Wilhelm IV., der 1840 den Thron bestiegen hat, jeden Abend vorlesen, oft stundenlang, während die Königin in der Regel an einer Tapisserie näht. Wenn er krank ist, tauschen sie die Rollen. Dann kommt der König an das Bett seines Kammerherrn und liest ihm vor.
1858 verschlimmert sich die Hirnkrankheit, an der der Monarch leidet. Er ist nun geistig völlig verwirrt. Sein Bruder übernimmt die Regentschaft. Humboldt, 26 Jahre älter, legt sein Amt als Kammerherr nieder und hat nun wieder mehr Zeit für seine Arbeit. Der amerikanische Schriftsteller Bayard Taylor, der ihn zwei Jahr vor seinem Tod aufsucht, ist beeindruckt: „Seine massive Stirn, beladen mit dem aufgespeicherten Wissen eines Jahrhunderts, strebt vorwärts und beschattet, wie eine reife Kornähre, seine Brust. Doch wenn man darunter blickt, trifft man in ein Paar klarer, blauer Augen, von der Ruhe und Heiterkeit eines Kindes.“ Er wird sie im Mai 1859 für immer schließen. Seine letzte Ruhestätte findet der große Gelehrte im Schlosspark von Tegel.
Alexander Humboldt hinterließ keine Kinder. Geheiratet hat er nie. Auch hatte er, so weit bekannt ist, nie eine Geliebte. Vermögen hinterließ er auch keines. Außer den Briefen, Manuskripten und Reisetagebüchern vermachte er fast sein ganzes Hab und Gut – Hausrat, Medaillen, Instrumente, Karten und über 11.0000 Bücher – testamentarisch seinem Diener Johann Seifert.
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Der Nachwelt hat sich Alexander von Humboldt mit keinem fundamentalen Lehrsatz eingeprägt wie Pythagoras, mit keiner bahnbrechenden Erfindung wie Edison, mit keiner genialen Theorie wie Einstein. In die Geschichte ist Humboldt vor allem als der große Forschungsreisende eingegangen. Davon zeugen die Atlanten. Sein Name ziert auch Orte, an denen er nie war. Allein in den USA sind zehn Städte, ein Fluss und ein Salzsumpf nach ihm benannt, in Grönland ein Gletscher, in Neuseeland ein Berg, an der Pazifikküste Südamerikas ein Meeresstrom und auf dem fernen Mond ein Meer ohne Wasser, das „Mare Humboldt“. Doch war Humboldt weit mehr als der Geograph, als der er heute vorzugsweise wahrgenommen wird. Wie kein zweiter nach ihm hat der preußische Universalgelehrte in zahlreichen Einzelwissenschaften die Forschung vorangebracht. In die Klimatologie hat er die Isothermen eingeführt, die wir heute täglich auf den Wetterkarten sehen. In der Physiologie brachten seine Experimente über Galvanismus, die er zum Teil unter großen Schmerzen am eigenen Körper ausführte, Erkenntnisse für die Elektrotherapie. Für die Zoologie untersuchte er die Atmung der Fische. Die Geophysik hat ihm das Gesetz der Abnahme magnetischer Stärke zu verdanken.
Aber auch wenn Humboldt immer und überall alles gemessen und gewogen, seziert und analysiert und im Detail erforscht hat, so hat er doch immer auch auf einer ganzheitlichen Sicht auf die Welt bestanden. Naturgeschichte und Kulturgeschichte versuchte er in ihrer vielfältigen Verzahnung zu begreifen: Der Mensch ist von der Umwelt, die er selbst gestaltet, ausbeutet oder auch zerstört, geprägt, und er ist von ihr abhängig. Die Welt ist immer die Umwelt des Menschen. So entpuppt sich Humboldt als einVorläufer der Ökologie. Auch in anderer Hinsicht war er seiner Zeit voraus: Er forschte interdisziplinär. Mit Wissenschaftlern der unterschiedlichsten Fachrichtungen korrespondierte er täglich, suchte Ratschläge, gab Empfehlungen, glich Resultate ab. Es war ein permanenter Austausch von Erfahrungen und Erkenntnissen in einem Netzwerk, das er sich selbst geschaffen hatte. Mehr als in seinem geliebten Frankreich und erst recht als in seinem verschmähten Preußen fühlte er sich in dieser internationalen Community von Wissenschaftlern zu Hause. Ihm angetragene Professuren aber hat Humboldt alle abgelehnt. Der Elfenbeinturm schreckte ihn. Fachidiotie war ihm zuwider. Von der Realität entrückte Metaphysik interessierte ihn nicht. Vor Ideologien graute ihm. „Die gefährlichste Weltanschauung“, räsonnierte der Weltenbummler, „ist die Weltanschauung der Leute, die die Welt nie angeschaut haben.“

1) Siehe: Humboldt, Vues des Cordillères, Tafel XXIII
2) Terra, 145, 147

Von Thomas Schmid – GEO – 2004

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