Vorsichtig skalpierte Doktor Crowther den Kopf des verstorbenen William Lanney und reichte den enthäuteten Schädel des Schwarzen wie verabredet durchs Fenster an einen Kumpan. Dann ging er in den benachbarten Sektionsraum, köpfte die Leiche eines Weißen, griff wieder zum Skalpiermesser, schnitt den Schädelknochen heraus und steckte ihn in die Kopfhaut des Schwarzen.

Kurz nachdem Crowther das Krankenhaus verlassen hatte, betrat der Chirurg Doktor Stokell die pathologische Abteilung. Dort fand er Lanneys blutverschmierte Leiche „mit einem Schädel, der locker in der Haut rollte“, wie er später vor einem Untersuchungsausschuss aussagte. Das geschah am Freitag, dem 4. März 1869, in Hobart, der Hauptstadt Tasmaniens.

Mit der Ankunft der Sträflinge beginnt die Katastrophe
Grund des makabren Zanks zwischen den beiden Ärzten war die Leiche des letzten männlichen tasmanischen Ureinwohners. Crowther arbeitete für das Royal College of Surgeons in London, das vor allem an dem Schädel interessiert war. Sein Widersacher Stokell stand im Dienst der Royal Society of Tasmania, die für ihr Museum in Hobart ein komplettes Skelett begehrte. Anthropologie und Ethnologie steckten in ihren Anfängen. Als sie sich als Wissenschaften etablierten, waren die Tasmanier bereits ausgerottet – ein Schicksal, das beinahe alle australischen Ureinwohner getroffen hätte.
750 000 Menschen, so schätzt man, lebten in Australien, als der britische Seefahrer James Cook 1770 erstmals den Boden des „fünften Kontinents“ betrat. Cook wurde von der Londoner Admiralität angewiesen, Land nur mit Zustimmung der einheimischen Bevölkerung für die britische Krone in Besitz zu nehmen. Doch diese Bestimmung blieb ohne Bedeutung. Da die Einwohner das Land nicht im europäischen Sinne „nutzten“, erklärten die Engländer Australien schon bald zur terra nullis („niemandes Land“), eine juristische Fiktion, welche die gewalttätige Inbesitznahme rechtfertigte und formal bis 1992 Bestand hatte.
In vielen Gegenden wurden die Aborigines wie Wild gejagt, andernorts gab man ihnen verseuchte Decken oder vergiftete Lebensmittel; viele starben an eingeschleppten Krankheiten. Ende des 19. Jahrhunderts lebten gerade noch 60 000 Australier. Sie wurden, angeblich zu ihrem eigenen Schutz, deportiert und in Reservaten konzentriert; man hielt sie ohnhin für eine aussterbende Rasse. Erst der Zweite Weltkrieg brachte eine Wende im öffentlichen Bewusstsein. Viele Ureinwohner waren in die Armee aufgenommen worden und hatten sich als tapfere Soldaten bewährt. 1967, endlich, wurden die Aborigines als australische Staatsbürger anerkannt. Heute leben auf dem Kontinent an die 400 000 Ureinwohner; etwa neun Zehntel von ihnen sind wohl Mischlinge.
Für die Tasmanier allerdings kam diese letzte Wendung zu spät. Ihr Schicksal war längst besiegelt. Eingewandert waren sie vermutlich vor 20 000 Jahren vom Festland aus, als Australien und Tasmanien noch eine zusammenhängende Landmasse bildeten. Erst als der Wasserspiegel nach dem Ende der letzten Eiszeit anstieg, wurde der südostliche Ausläufer des Kontinents zu einer Insel. Und seither – seit über 10 000 Jahren also – hatten die Tasmanier offenbar zu anderen Völkern keinen Kontakt mehr gehabt. Man nimmt an, dass auf der Insel, die fast so groß wie Bayern ist, zur Zeit der „Entdeckung“ durch die Europäer etwa 6000 Menschen lebten.
Zum ersten Kontakt zwischen Tasmaniern und Europäern kam es erst über hundert Jahre nach der Entdeckung der Insel 1642 durch den Holländer Abel Tasman, der in der Ferne nur den Rauch von Lagerfeuern, aber keine Menschen gesehen hatte. 1772 ging der französische Seefahrer Marion du Fresne mit zwei Schiffen vor Anker. Es kam zu einer Begegnung, die, wie so oft, wenn einander völlig fremde Kulturen erstmals zusammenstoßen, in einem Missverständnis endete. Speere flogen, Schüsse fielen. Ein Tasmanier kam ums Leben. Er wurde gleich ein Objekt anthropologischer Neugier: Die Franzosen vermaßen ihn genau und wuschen ihn gründlich, um seine Farbe zu bestimmen.
Nach du Fresne landeten weitere Seefahrer auf der Insel, ohne dass es zu Feindseligkeiten gekommen wäre. Die Katastrophe begann, als die Engländer das Land in Besitz nahmen, vorerst um dort – wie auf dem australischen Festland auch – Strafgefangene auszusetzen. Denn die englischen Gefängnisse platzten damals, zu Beginn der industriellen Revolution, aus allen Nähten.
Am 14. Dezember 1802 betrat Leutnant Charles Robbins tasmanischen Boden, hisste die britische Flagge und erklärte die Insel zum Besitz seines Königs. Schon neun Monate später trafen zusammen mit neun Soldaten und drei freien Siedlern die ersten 24 Sträflinge auf der Insel ein. Im Februar 1804 landeten weitere 400 Strafgefangene und ein neues Kontingent von Soldaten – und wenige Wochen danach kam es zum ersten Massaker, bei dem (unterschiedlichen Quellen zufolge) zwischen drei und 50 Tasmanier getötet wurden.
Nun war es mit dem Frieden vorbei. Die Lage verschärfte sich noch, als 1806 die Lebensmittelvorräte knapp geworden waren, den Siedlern eine Hungersnot drohte und man deshalb die Sträflinge freiließ, um ihnen die Möglichkeit zu geben, sich ihre Nahrung im Busch selbst zu suchen. Viele der Entlassenen drangen ins Landesinnere ein und bildeten dort zusammen mit bereits vorher entlaufenen Häftlingen Banden, die so genannten Buschranger. Bei ihrer Jagd auf Kängurus kamen sie zwangsläufig mit den Eingeborenen in Konflikt.

Zwei Pfund Kopfgeld auf jedes Kind
Die Buschranger kannten den Einheimischen gegenüber kein Erbarmen, zumal sie diese ohnehin als Angehörige einer minderwertigen Rasse betrachteten. Sie raubten, mordeten, vergewaltigten, verstümmelten ohne Skrupel. Der unausbleiblichen Rache der Tasmanier fielen auch unschuldige Siedler zum Opfer, was den Hass auf die Schwarzen nur noch weiter anstachelte. Der Vizegouverneur in Hobart, David Collins, erkannte offensichtlich die gefährliche Dynamik und ordnete im Jahr 1810 an, „dass jeder, der nachweisbar einem Eingeborenen Gewalt angetan oder ihn kaltblütig ermordet hat beziehungsweise einen Mord veranlasst hat, so zu behandeln und bestrafen ist, als sei das Vergehen an einer zivilisierten Person verübt worden“. Wenige Wochen danach starb er. Sein Dekret, das für Mord an Einheimischen die Todesstrafe vorsah, blieb ohne Bedeutung.
Als die Buschranger bereits weite Gebiete des Hinterlandes unter Kontrolle hatten und auch den weißen Siedlern immer ärger zusetzten, räumte William Sorell, der 1817 Vizegouverneur von Tasmanien wurde, mit dem Terror auf – er setzte Kopfgeld aus und zerschlug die Banden militärisch. Zwei Jahre nach seinem Amtsantritt erließ er eine bemerkenswerte Verordnung zum Schutz der Einheimischen, in der er die Schuld an den Auseinandersetzungen im Wesentlichen den Weißen gab („die Ureinwohner sind selten die Angreifer“) und die Grausamkeiten anprangerte, „die der Menschlichkeit widersprechen und für den britischen Charakter entehrend sind“.
Dass das Morden im Busch trotzdem weiterging, hing vor allem mit einer Entscheidung in London zusammen. Die Kolonialmacht hatte inzwischen Tasmanien, das bis dahin nur wenigen ausgesuchten Siedlern offen stand, zum Gebiet freier Einwanderung erklärt und förderte nun die Besiedlung sogar mit finanziellen Anreizen. Auch wurden weiterhin Sträflinge dorthin deportiert. Schon um 1820 waren die Tasmanier gegenüber den 5500 Weißen, zu vier Fünfteln Sträflinge, in der Minderheit. 1825 gab es bereits 6800 Sträflinge und ebenso viele Siedler. 1830 waren es 23 000 Weiße, davon 10 000 Sträflinge.
Die forcierte Besiedlung ging mit einer kontinuierlichen Landnahme einher; die Ureinwohner wurden in immer abgelegenere Gebiete verdrängt – und der Terror steigerte sich. Dabei war über die zahlreichen Massaker an den Schwarzen im Hinterland in Hobart wenig zu hören und zu lesen, umso mehr aber über die verhältnismäßig wenigen Weißen, die, von Speeren durchbohrt, Racheakten zum Opfer fielen. Angst machte sich unter den Siedlern breit, und die Zeitungen, in denen die „Wilden“ dämonisiert wurden, schürten noch nach Kräften den Hass. Schließlich verhängte Vizegouverneur George Arthur 1828 in allen von Weißen besiedelten Gebieten das „Standrecht gegen die schwarzen Eingeborenen“.
Während Vizegouverneur Arthur in den besiedelten Gebieten dem Terror freien Lauf ließ, wollte er das unzugängliche Hinterland auf andere Weise befrieden. Die Kolonialverwaltung gab 1829 eine Anzeige auf, in der sie „eine zuverlässige Person mit gutem Charakter“ suchte, um „mit diesem unglücklichen Volk (der Tasmanier) Kontakt aufzunehmen“, was ja angesichts der Umstände nicht ungefährlich war. Der Siedler George A. Robinson, von Beruf Maurer, ein strenggläubiger Methodist, bewarb sich – mit Erfolg. Fast sechs Jahre lang zog er durch den Busch, lernte die Sprachen der Einheimischen, freundete sich mit ihnen an und holte sie nach und nach aus ihren angestammten Gebieten in ein Reservat auf Flinders Island, einer kleinen, Tasmanien vorgelagerten Insel. Fortan lebten sie dort unter der Aufsicht von Militärs und wurden „zivilisiert“, das heißt, sie lernten, an den Gott der Kolonialmacht zu glauben, zu beten und sich „anständig“ zu kleiden. Kurzum: Aus der frei umherschweifenden Völkerschaft von 6000 Jägern und Sammlern war 1834, also eine Generation nach der Ankunft der ersten weißen Siedler, ein Ghetto-Dorf von etwa 200 sesshaften „Christen“ geworden.
„Die Geschichte kennt kein Beispiel“, schrieb Robinson stolz, „wo ein ganzes Volk durch eine so humane und nachsichtige Politik entfernt worden ist.“ Der große Versöhner wurde 1835 Leiter des Reservats. Er trieb dessen Bewohnern den Korrobori, ihren tradierten Tanz, aus, richtete Sonntagsschulen ein sowie eine Eingeborenenpolizei und einen Markt. Die Tasmanier seien ihm dafür sehr dankbar, berichtete Robinson 1838 auf einem öffentlichen Vortrag in Sydney, „das einzige Übel in der Siedlung ist die hohe Sterblichkeit unter ihnen“. Als er dies sagte, gab es noch 86 Tasmanier im Reservat.
Neun Jahre später wurden die verbliebenen 44 auf die tasmanische Hauptinsel zurück verschleppt und in Oyster Cove auf dem Gelände eines ehemaligen Gefängnisses in der Nähe der Hauptstadt interniert. Von dem lebensfrohen und mutigen Volk, wie es die ersten europäischen Entdecker geschildert hatten, war ein Häuflein abgestumpfter dahinsiechender Menschen übrig geblieben, das nach und nach durch Krankheiten, durch Lungenentzündung, Tuberkulose oder auch gewöhnliche Erkältungen gänzlich zugrunde ging.

Auch Truganinis Skelett wird im Museum gezeigt
Die letzte Tasmanierin hieß Truganini. Sie war auch im Alter noch eine ausgesprochen stattliche Frau, wie Zeitgenossen einmütig feststellten. 1829, sie war gerade 17 Jahre alt, überfielen europäische Robbenfänger ihr Familienlager, vergewaltigten sie, erstachen ihre Mutter und entführten ihre zwei Schwestern. Kurz danach hackten zwei Sträflinge, die als Holzfäller arbeiteten, ihrem Verlobten auf einer Bootsfahrt die Hände ab und warfen ihn ins Wasser. Im selben Jahr noch begegnete Truganini Robinson und freundete sich mit ihm an.
Über fünf Jahre lang begleitet sie den „Versöhner“ auf seinen zahlreichen Reisen durch den Busch, rettete ihm mehrmals das Leben – und half ihm, die letzten tasmanischen Stämme einzufangen. 1835 ging auch sie nach Flinders Island. Doch als Robinson 1839 zum Hauptprotektor der Ureinwohner von New South Wales, der Region um das heutige Sydney, ernannt wurde, nahm er Truganini und zehn weitere Tasmanier mit aufs australische Festland. Dort flüchtete sie – zusammen mit vier anderen Tasmaniern, zwei Frauen und zwei Männern – aus Robinsons Obhut und begab sich auf Raubzüge. Ende 1841 wurde die Fünferbande wegen Mordes an zwei Walfängern festgenommen. Die beiden Männer wurden gehängt, die Frauen freigesprochen.
Truganini musste zurück nach Flinders Island. Als das Reservat aufgelöst wurde, übersiedelte sie mit den noch übrig gebliebenen Tasmaniern nach Oyster Cove, wo sie – es war ihre dritte Ehe – William Lanney, den letzten männlichen Überlebenden ihres Volkes, heiratete. Vier Jahre nach seinem Tod (und nachdem seine Leiche, wie bereits berichtet, so grässlich „präpariert“ worden war) zog sie nach Hobart. Dort wurde die letzte Tasmanierin, die immer mit einem roten Turban durch die Straßen schlenderte, bald zu einer bekannten Erscheinung. Sie liebte den Tabak, ging auch weiterhin gern auf die Jagd und tauchte nach Muscheln.
Am 8. Mai 1876 starb sie. Ihre letzte Bitte richtete sie an den Arzt. „Lassen Sie nicht zu, dass man mich zerschneidet“, sagte sie eingedenk des Schicksals William Lanneys. „Bestatten Sie mich hinter den Bergen.“ Einen Tag nach ihrem Tod schrieb die Royal Society of Tasmania dem Kolonialminister in London einen Brief. Sie bat ihn, die sterblichen Überreste Truganinis im Interesse der Wissenschaft für das Nationalmuseum zu retten. Der Minister lehnte ab und verlangte eine Beerdigung. Tausende säumten am 12. Mai die Straßen von Hobart, um sich von der letzten Tasmanierin zu verabschieden – vergeblich: Aus Sicherheitsgründen war sie heimlich schon am Vortag, kurz vor Mitternacht, in Anwesenheit von nur 25 Personen bestattet worden.
Zweieinhalb Jahre nach der Beerdigung gab der Kolonialminister in London die Erlaubnis, das Grab zu öffnen und die Knochen Truganinis für die nachkommenden Generationen zu erhalten – unter der Bedingung, dass „das Skelett nicht öffentlich ausgestellt, sondern dezent an einem sicheren Platz aufbewahrt wird, wo es Wissenschaftlern mit einer Sondererlaubnis dann zugänglich gemacht werden könnte“. Doch schon kurz nach der Jahrhundertwende zeigte das Tasmanische Museum Truganinis sterbliche Überreste in einer Vitrine. Erst als die Aborigines in den siebziger Jahren begannen, für ihre Rechte zu kämpfen, wurde die düstere koloniale Vergangenheit, die gewaltsame Landnahme, der in ganz Australien etwa eine halbe Million schwarzer Menschen zum Opfer fiel, zum Thema der öffentlichen Debatte. Nun entsann man sich auch der letzten Tasmanierin, und die Regierung genehmigte schließlich eine zweite Beerdigung. Doch die Ureinwohner bestanden jetzt auf einer Feuerbestattung, um eine erneute Grabschändung auszuschließen.
Am 30. April 1976 verbrannte man die Überreste, und am 1. Mai, kurz vor Truganinis hundertstem Todestag, wurde ihre Asche von einem Schiff der Marine aus in der Nähe ihres Geburtsortes ins Meer gestreut. Eines der ältesten Völker der Erde war endgültig ausgelöscht.

Thomas Schmid – © DIE ZEIT 2000