Das heimliche Herz der Serenissima

Venedig ist ein Märchen. Deshalb auch ist es die Stadt der Liebenden geworden und die Stadt der Träumer, der Melancholiker und der vom Weltschmerz Geplagten. Die Kuppeln der Basilika des Heiligen Markus, die Arkaden und Spitzbögen des Dogenpalasts, die noblen Palazzi längs des Canal Grande, die überdachte Rialto-Brücke und die zahlreichen steinernen Löwen zeugen von der Macht der Serenissima. Dem Zauber der prachtvollen Vergangenheit kann sich kein Besucher entziehen. Im 15. Jahrhundert war Venedig die reichste Stadt des Okzidents, und von diesem Reichtum zehrt sie noch heute: Täglich fallen Schwärme von Touristen in der Lagunenstadt ein.

All den Prunk und die Touristen hat Venedig letztlich einem Teil der Stadt zu verdanken, der ein Mauerblümchendasein fristet: dem Arsenal, einem 32 Hektar großen Gelände zwischen San Marco und dem Biennale. Hier wurde die Kriegsflotte gebaut, die Venedig zur stärksten Seemacht des Mittelmeerraums machte und seinen Aufstieg zu einer blühenden Handelsstadt und Kulturmetropole erst ermöglichte.

Das Arsenal, ein Komplex von großen und kleinen Werften, Lagerhallen, Gießereien und Werkstätten wurde um das Jahr 1200 angelegt und 1289 der staatlichen Regie unterstellt. Schon zwei Jahre später wurde das Gelände ummauert. Fortan war das Arsenal eine Stadt in der Stadt. Später – 1539 – wurden sogar die Fenster und Terrassen sämtlicher anliegender Häuser zugemauert, auch die Fenster des Campanile der Kirche von San Francesco della Vigna, der einen besonders günstigen Ausblick auf die Werften bot. Was im militärischen Zentrum der Seerepublik vor sich ging, durfte nicht nach außen dringen.

Der von Löwen bewachte Eingang zum Arsenale zu Land

Etwas von dieser geheimnisumwobenen Atmosphäre hat sich bis heute erhalten. Noch immer ist das Arsenal verbotenes Terrain. Hinter den majestätischen Löwen, die das monumentale Eingangstor bewachen, versperrt ein Soldat den Zutritt zum Werftengelände, das heute von der italienischen Marine belegt wird. Dante Alighieri, der große italienische Schriftsteller des Mittelalters, hatte es da leichter. Ihn ließ man im Jahre 1312 hinter die Kulissen schauen. Und er war sichtlich beeindruckt. „So wie im Arsenal der Venezianer“ heißt es im 21. Gesang der Hölle seiner Göttlichen Komödie, „das zähe Pech im Winter pflegt zu kochen, um ihre lecken Schiffe herzustellen, die nicht mehr fahren können, und der eine baut sich ein neues Schiff, der andre bessert die Seiten aus nach vielen langen Reisen, der eine flickt am Bug, am Heck der andre, der macht sich Ruder, jener windet Taue, und wieder andre stopfen Segeltücher.“

Die rege Tätigkeit, die den Dichter zu diesen Versen beflügelte, war eine späte Folge der Kreuzzüge. Am ersten dieser religiös getarnten kriegerischen Unternehmen gegen das Byzantinische Reich nahm Venedig zwar nicht teil, doch schickte die Seerepublik nach der Einnahme Jerusalems im Jahre 1099 insgesamt 200 Schiffe nach Jaffa. In jeder von den Kreuzrittern eroberten Stadt durfte sie dafür einen Handelsmarkt eröffnen, und im neu errichteten christlichen Königreich Jerusalem genoß sie Steuerfreiheit. Der vierte Kreuzzug (1202-1204), an dem sich Venedig beteiligte, führte zwar nicht zur Rückeroberung der inzwischen vom ägyptischen Sultan Saladin eroberten Heiligen Stadt, dafür aber zum Fall von Konstantinopel. Die Serenissima stieg zur größten Handelsmacht des Mittelmeerraumes auf. Der Schiffbau boomte.

Die Seerepublik vermietete nun die im Arsenal gebauten Schiffe an private Kaufleute für festgelegte Routen. Sie legte die Anzahl der zur Eskorte abkommandierten Soldaten fest, und der Große Rat Venedigs bestimmte den Flottenkapitän. Im Jahr 1324 wurden diese Reisen im Konvoi zu einer festen Einrichtung, die bis ins 16. Jahrhundert bestehen bleiben sollte. Die Schiffe der Serenissima waren gewissermaßen zu den ersten öffentlichen Verkehrsmitteln geworden. Und die Fahrten zu festgesetzten Preisen führten nach Konstantinopel, Beirut, Alexandria, Valencia, Brügge und London.

In dieser Blütezeit der Seerepublik liefen die Handels- und Kriegsgaleeren serienmäßig vom Stapel. Doch es gab die verschiedensten Ausführungen, von den „Terzaroli“, an deren 144 Ruder je ein „Galeotto“ saß, bis zu den „Scalocci“, die von 240 „Galeotti“ an 48 Rudern bewegt wurden. Über Jahrhunderte hinweg stand der Beruf eines „Galeotto“, eines Galeerenruderers, übrigens in hohen Ehren. Erst als sich in Venedig zu wenig freie Männer fanden, die sich für diese Arbeit interessierten, begann auch Venedig 1542, später als andere Staaten, zur Rekrutierung von Sträflingen überzugehen. Diese wurden an die Ruderbänke gekettet. Eingefangenen Galeerenflüchtlingen amputierte man die Nase oder ein Ohr.

Der Eingang zum Arsenale zu Wasser

Ihren Höhepunkt erreichte die venezianische Schiffsproduktion um die Mitte des 16. Jahrhunderts. Da beschäftigte das Arsenal durchschnittlich 16 000 Arbeiter, im Extremfall sogar bis zu 30 000. Um Zypern 1570 vor einem Angriff der Türken zu verteidigen, wurden in nur zwei Monaten hundert Galeeren produziert, die zum Teil mit Musketen und Kanonen ausgerüstet waren. Das Vorzeigestück aber war die „Galeasse“, eine gepanzerte Galeere mit Artilleriekanonen und einer Besatzung von über 500 Personen, zur Hälfte Ruderer, zur andern Hälfte Soldaten und Matrosen. Die massive Aufrüstung lohnte sich zumindest militärisch. Bei einer der größten Seeschlachten der Geschichte mußte das Osmanische Reich bei Lepanto (an der Westküste des heutigen Griechenlands) eine verheerende Niederlage einstecken.Die christliche Flotte des Heiligen Bundes, einer Allianz Venedigs mit dem spanischen Königreich und dem Papst, bestehend aus 207 Galeeren, sechs Galeassen, 30 kleineren Schiffen, 1 815 Kanonen und 74 000 Mann, schlug eine annähernd gleich große türkische Flotte, eroberte 140 Galeeren, verbrannte oder versenkte 80 Schiffe, tötete 30 000 Türken, nahm 5 000 gefangen und befreite 15 000 Christen, vornehmlich Galeerensklaven, unter ihnen Miguel de Cervantes, der später mit seinem „Don Quijote“ zu literarischem Weltruhm kam.

Politisch aber konnte Venedig aus dem fulminanten Sieg kaum Kapital schlagen, zumal die hohen Rüstungsausgaben die Republik in den finanziellen Ruin getrieben hatten. Ihre Vormachtstellung als Handelsmacht hatte die Serenissima aufgrund der Entdeckung Amerikas und der Handelsrouten um die Südspitze Afrikas längst an Spanien und Portugal verloren. Und während der italienische Naturwissenschaftler Galileo Galilei, der im Jahre 1600 nach einem Besuch das Arsenal in höchsten Tönen lobte, noch immer die optimale Position des Ruders in der Galeere berechnete, waren die beiden aufstrebenden Seemächte für Krieg wie Handel bereits seit fast einem Jahrhundert mit Segelschiffen ausgerüstet. Erst 1660 beschloß der Senat der Lagunenstadt den Bau eines Segelkriegsschiffs nach britischem Muster. Sieben Jahre später wurde im Arsenal der „Giove fulminante“ (der blitzschleudernde Jupiter), ein Segelschiff mit 70 Kanonen zu Wasser gelassen. Doch der Niedergang der Seerepublik war nicht mehr aufzuhalten.

Den Todesstoß versetzte der Seerepublik mit tausendjähriger Geschichte kein geringerer als Napoleon Bonaparte. Nach der Beschießung des französischen Schiffs „Liberatore d’Italia“ vor dem Lido Venedigs erklärte er der Serenissima den Krieg. Die Aristokratie verließ daraufhin die Stadt, und auf Einladung der neuen provisorischen Regierung besetzten 1797 über 4 000 Soldaten Napoleons das Arsenal. Unter den Schiffen, die sie zerstörten, befand sich auch der „Bucintoro“, das reichgeschmückte Paradeschiff des Dogen.

Jedes Jahr am Sonntag nach Christi Himmelfahrt fuhr der Doge auf dem „Bucintoro“ zum Lido hinaus, um der Segnung der Adria beizuwohnen und sich „mit dem Meer zu vermählen“. Hierbei warf er einen goldenen Ring ins Wasser und sprach: „Desponsamus te mare, in signum veri perpetuique domini“ („Wir vermählen uns mit Dir, Meer, zum Zeichen der wahren und ewigen Herrschaft“). Die Zeremonie geht auf die Unterwerfung Dalmatiens durch den Dogen Pietro Orseolo II. im Jahr 997 zurück. Als Symbol der Macht über die Adria soll der Papst Alexander III. im Jahr 1177 dem Dogen einen goldenen Ring geschenkt und dabei gesagt haben: „Das Meer sei Euch fortan untertan wie das Weib dem Manne.“ Eine Nachbildung des letzten, von Napoleons Soldaten zerstörten „Bucintoro“ ist heute im Museo Storico Navale zu besichtigen, das schon im 17. Jahrhundert in einer alten Lagerhalle des Arsenals eingerichtet wurde und das im übrigen von der französischen Soldateska ebenfalls verwüstet wurde.

Napoleons Truppen blieben nur acht Monate in der Stadt, dann überließ der französische Kaiser diese zusammen mit den östlichen Teilens Venetiens Österreich, um im Gegenzug von diesem die Kontrolle über Belgien und die Lombardei zu erhalten. Nach dem Sieg in Austerlitz und dem Frieden in Pressburg besetzte Napoleon 1805 ein zweites Mal Venedig, das mit dem Wiener Kongreß dann aber wiederum an Österreich fiel. Nur noch einmal versuchten die Venezianer ihre alte Unabhängigkeit wiederzugewinnen. Als 1848 in ganz Europa Aufstände und Revolutionen ausbrachen, kam es auch in der Lagunenstadt zur offenen Rebellion. Der harte Kern der Aufständischen waren die „Arsenalotti“, die Arbeiter des Arsenals.

Unter der Seerepublik waren sie immer gut bezahlt gewesen und hatten vielfältige Privilegien gehabt. Sie hatten einen besonderen Kündigungsschutz, genossen zu Zeiten der Pest besondere Pflege und Vorsorge und erhielten eine staatliche Rente. Sie stellten die Wache des Dogenpalastes, begleiteten den Sarg der verstorbenen Dogen und trugen deren Nachfolger bei der Amtseinführung auf ihren Schultern rund um den Markus-Platz.

Von dieser glorreichen Vergangenheit war wenig geblieben, und unter der österreichischen Herrschaft, die ohnehin den Werften in ihrem angestammten Hafen Triest den Vorzug gab und Venedigs Arsenal stiefmütterlich behandelte, erhielten die übriggebliebenen 800 „Arsenalotti“ kümmerliche Löhne. Beim Aufstand 1848 töteten sie den österreichischen Kommandanten des Arsenals und bemächtigten sich des Waffenlagers. Die fremden Besatzer wurden vertrieben und eine provisorische Regierung ausgerufen. Doch schon anderthalb Jahre später zwang Radetzky den Venezianern erneut die österreichische Herrschaft auf, die diese erst 1866 mit ihrem Anschluß an das neu entstandene Italien loswurden.

Zwar baute die italienische Marine im Arsenal ihr erstes großes Stahlschiff, die „Amerigo Vespucci“, die bis 1927 in Gebrauch war, den Panzerkreuzer „Francesco Morosini“ und zu Beginn dieses Jahrhunderts eine Reihe von U-Booten, aber die großen Zeiten des Arsenals waren endgültig vorbei. In der Zwischenkriegszeit erhielt eine private Werft die Erlaubnis, im Arsenal Handels- und Kriegsschiffe zu bauen. Doch die Produktion ist längst eingeschlafen. Auf dem Gelände, das weiterhin von der Marine in Beschlag genommen ist, werden ab und zu einige Kriegsschiffe überholt. Ansonsten streitet man sich in Venedig seit über drei Jahrzehnten in zyklischen Abständen, wie das historische Gelände genutzt werden könnte.

In der Tat beflügelt das Arsenal von Venedig die Phantasien. Einen kleinen Teil des gesperrten Geländes kann man wenigstens vom Wasser aus erspähen. Die Schiffslinie 5 des öffentlichen Verkehrs führt seit 1964 durch den ältesten Teil des Werftenkomplexes. Fotografieren ist verboten. Man fährt vorbei an den immensen Hallen, in denen im 16. Jahrhundert dieGaleassen gebaut wurden, am großen Gebäude, das dem „Bucintoro“ als Garage diente, vorbei an riesigen Werkhallen, Magazinen und verfallenen Bauten, die von der vergangenen Größe der Serenissima zeugen – ein ideales Terrain für Aussteller und Kulturschaffende, für Museen und Open-air-Veranstaltungen, Raum für die Realisierung von Träumen, wie ihn heute keine Stadt mehr bieten kann.

Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 12.04.1997