Von den Flüchtlingen, die als erste eintrafen, ist Martin Katz der einzige, der noch auf der Insel lebt.
Vor dem „Bayrischen Biergarten“ in Sosua lockt eine Stelltafel zu „deutschen Bieren und karibischen Drinks“. Auf der andern Straßenseite verspricht das Restaurant „Alt-Deutschland“ in Runenschrift „deutsche Hausmannskost“. Die deutschen Urlauber kommen gern in die Stadt an der Nordküste der Dominikanischen Republik – und sie bringen Devisen.

Im Zentrum von Sosua finden sie eine Dr. – Rosen-Straße und eine David-Stern-Straße. Und wer im Stadtpark spazieren gehen will, muss unter einem Doppeltorbogen hindurch, der die Form von Mosestafeln hat. Ein paar Schritte vom Bayrischen Biergarten entfernt, steht eine Synagoge, daneben ein Haus, das ein Museum beherbergt. Es erzählt von den Juden in Sosua.
Die jüdische Geschichte der Stadt auf der karibischen Insel beginnt im Juli 1938 am Ufer des Genfer Sees. Im französischen Kurort Evian waren auf Einladung des amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt Vertreter von 32 Staaten zusammengekommen, um über das europäische Flüchtlingsproblem zu beraten. In Deutschland lebten zu dieser Zeit noch 540 000 Juden, davon 190 000 im gerade angeschlossenen Österreich. Auf vielfältige Weise diskriminiert, ihrer bürgerlichen Rechte beraubt, durch eine Reihe von Gesetzen aus ihren beruflichen Positionen verdrängt und gezielt in die Armut getrieben, versuchten immer mehr Juden, der Verfolgung durch die Nazis zu entkommen.
Doch die Nachbarländer hatten ihre Grenzen geschlossen. Auf der Konferenz wurde schnell deutlich, dass kein einziger Staat bereit war, die bedrängten Juden aufzunehmen. Höfliche Floskeln und hilfloses Achselzucken prägten die Atmosphäre von Evian.
Da überraschte der Gesandte der Dominikanischen Republik mit der Ankündigung, sein Land sei gewillt, österreichischen und deutschen Flüchtlingen eine neue Heimat zu bieten. Einen Monat später, im August 1938, präzisierte General Rafael L. Trujillo, unumschränkter Herrscher des Karibikstaates, das Angebot mündlich und schriftlich: bis zu 100 000 Flüchtlinge wolle er aufnehmen.
Die großzügige Offerte gab Anlass zu mancherlei Spekulationen. Immerhin war Trujillo einer der bizarrsten und blutrünstigsten Diktatoren, die Lateinamerika hervorgebracht hat. Er hatte gesetzlich eine neue, nach ihm benannte Zeitrechnung eingeführt und die Hauptstadt seines Landes, Santo Domingo, offiziell in Ciudad Trujillo umbenennen lassen. Fast die ganze Wirtschaft des Landes befand sich im Besitz seiner Familie. Jede Opposition schaltete er gnadenlos aus, Folter war ein gängiges Instrument der Wahrheitsfindung, renitente Häftlinge wurden in eigens dafür angelegte Haifischteiche geworfen.
Zeitgenössische Kommentatoren zweifelten sogleich an der Seriosität des Angebots. Dem Diktator gehe es nur um Geld, sagten die einen und sahen sich bestätigt, als Trujillo im Dezember 1938 ein Gesetz verabschieden ließ, wonach „Fremde, die keine Nationalität haben oder ihre Nationalität verloren haben, ohne eine andere anzunehmen“, zum Beispiel aus Deutschland ausgebürgerte Juden also, eine Einwanderungssteuer in Höhe von fünfhundert Dollar zu entrichten hätten. Das Gesetz wurde allerdings bald zurückgenommen. Andere vermuteten, Trujillo wolle sein internationales Image aufbessern, das nach einem Massaker an 15 000 haitianischen Pflanzern und Wanderarbeitern beschädigt war. Und wieder andere hegten den Verdacht, der „Wohltäter des Vaterlandes“, wie er sich offiziell nennen ließ, wolle seine dominikanische Rasse „aufweißen“. Er selber, so wurde damals kolportiert, schmiere sich täglich Salben ins Gesicht, um die Haut aufzuhellen.
„Viele fragen, weshalb Trujillo das gemacht hat“, sagt Martin Katz. „Mich interessiert das nicht!“ Er weiß über Trujillo nur Gutes zu berichten. „Uns hat er nie belästigt, er kam überhaupt nie hierher, und wir haben uns nie in die Politik eingemischt“, sagt Katz. „Wir waren staatenlos, und 1953 hat uns Trujillo die Staatsangehörigkeit geschenkt – nicht verkauft, andere mussten damals viel dafür bezahlen. “ Martin Katz ist 1940 auf die Insel gelangt. Er war ein junger Mann, dem Terror entkommen. Noch heute wohnt er in dem Haus, das er 1963 selbst gebaut hat. Es steht im Zentrum von Sosua. „Damals gab es hier noch keine Straße“, sagt er, „da war alles Busch. “ Von den 37 jüdischen Flüchtlingen, die als Erste in Sosua eintrafen, ist Martin Katz der Einzige, der noch in der Stadt lebt. Die Übrigen sind verstorben oder in die USA ausgewandert.
Geboren wurde Martin Katz 1917 im hessischen Münzenberg. Von den damals 950 Einwohnern des Ortes waren 200 Juden. Irgendwann – ziemlich spät – verlor Katz die Hoffnung auf ein normales Leben in Deutschland. So begab er sich auf ein Gut bei Spreenhagen in der Nähe von Berlin, wo ausreisewillige Juden im Rahmen der zionistischen Auswandererorganisation Hachscharah eine landwirtschaftliche Ausbildung erhielten. Sein Ziel war Palästina. Doch daraus wurde nichts, und nach Ausbruch des Krieges wurde es immer schwieriger, das Land zu verlassen. Dass ihm Martin Gerson, der für die Hachscharah in Deutschland zuständig war, einen Platz in der Gruppe anbot, die sich in der Dominikanischen Republik ansiedeln sollte, hat ihm wohl das Leben gerettet. Im März 1940 kehrte Martin Katz aus dem Brandenburgischen noch einmal nach Münzenberg zurück, das er dann am 19. April für immer verließ. Ganz regulär. Die polizeiliche Abmeldung hat er bis heute aufbewahrt. Mit dem Zug fuhr er über den Brenner nach Italien und von dort mit dem Schiff nach Ciudad Trujillo, wo er am 9. Mai 1940 an Land ging.
Martin Katz gehörte zur ersten und zugleich letzten Gruppe, die direkt aus Deutschland in die Dominikanische Republik übersiedelte. Wegen der strategisch bedeutsamen Lage der Karibikinsel zwischen Puerto Rico und dem Panamakanal bestand die US-Regierung dann auf einer Kontrolle der Ankömmlinge. Sie befürchtete, dass die Gestapo Agenten einschleusen könnte. So erreichten in der Folgezeit Sosua nur Juden, die Deutschland bereits seit längerem verlassen hatten. Es waren vor allem Flüchtlinge, die in der Schweiz oder Frankreich gestrandet waren. Die letzte Gruppe, die während des Krieges einreiste, kam 1942 aus Luxemburg über den französischen Hafen Bayonne.
Organisiert und finanziert wurde das Siedlungsunternehmen von der „Dorsa“ (Dominican Republic Settlement Association), das Startkapital von 200 000 Dollar stellte der „Agro-Joint“, eine Unterorganisation des „American Jewish Joint Distribution Committee“ zur Verfügung.
Als „persönlichen Beitrag zur Etablierung der ersten Siedlung von Flüchtlingen in der Dominikanischen Republik“ bot Trujillo der „Dorsa“ eines seiner Landgüter an – für 100 000 Dollar. Das Gelände, auf dem es 24 bewohnbare Häuser, Wasserleitungen und andere Installationen gab, hatte er selber von der American Fruit Company, die früher dort Bananen angebaut hatte, vermutlich für 50 000 Dollar erworben. Nachdem die „Dorsa“ dem Wohltäter ein Aktienpaket in der geforderten Höhe überließ, wurde am 30. Januar 1940 ein Vertrag zwischen der Regierung und der „Dorsa“ geschlossen, der den Siedlern und ihren Nachkommen ein Leben „frei von Belästigung, Diskriminierung oder Verfolgung“. Von Konflikten zwischen den Vertragsparteien ist nichts bekannt.
Die ersten Siedler wohnten in den Baracken der American Fruit Company. Martin Katz erinnert sich noch gut an diese Zeit: „In den Baracken auf der einen Seite haben wir Junggesellen geschlafen, in denen auf der anderen Seite die wenigen Ehepaare – und das einzige Kleinkind, das mit der ersten Gruppe kam. Die Frauen haben in der Gemeinschaftsküche gekocht, wir haben ihnen unsere Wäsche abgegeben. So war das damals. Wir rodeten das Land, pflügten es mit Mauleseln und rotteten die Malaria aus. “ Am Anfang war alles noch recht kollektiv. „Jeder arbeitete eine Zeit lang auf dem Feld, dann im Kuhstall, in der Käserei, und jeder kam von Zeit zu Zeit in die Küche als Küchenjunge oder in den Barackendienst. “ So schrieb die Siedlerzeitung „La Voz de Sosua“ (Die Stimme von Sosua) im Sommer 1943 in einem Rückblick auf die Anfänge und fuhr dann fort: „Heute dagegen gibt es bereits eine Anzahl von ,Selbstständigen . Wir haben die Landwirte, die Industriellen, die Handwerker und die Beamten. Wir sehen die Verkaufsfiliale der Milchgenossenschaft, den Herren- und Damenfrisiersalon, den Sattler, den Schuhmacher, den Kurzwarenhändler, das Warenhaus, die Schule, den Bäcker. . . Im Herzen der Stadt finden wir das Kino mit dem Nachtlokal. . . Wir gehen die Hauptstraße weiter und kommen zum Spitalsgebäude und zur Gebärklinik. “ In drei Jahren hatten sich die Siedler eine Stadt gebaut. Hunderte von Kühen bildeten das Rückgrat der Wirtschaft von Sosua.
Die von der Siedler-Zeitung beschriebene Idylle, die an ein osteuropäisches Stetl erinnert, spart die dunkleren Seiten der Gründungsgeschichte der jüdischen Siedlung in der Dominikanischen Republik allerdings aus. Schon ein halbes Jahr nach Ankunft der ersten Flüchtlinge sah der Leiter der Siedlung, Joseph Rosen, der zugleich Vizedirektor der „Dorsa“ war, Schwierigkeiten im Zusammenleben. „Man beobachtet“, sagte er in der Siedlerversammlung vom 13. November 1940, „dass in der letzten Zeit eine Anzahl von Siedlern in rücksichtsloser Weise seine eigenen Interessen vertritt, ohne auf die andern Mitglieder der Gemeinschaft Rücksicht zu nehmen. . . Sollten sich diese Zustände nicht in nächster Zeit ändern, wird es notwendig sein, eine diktatorische Form der Siedlungsleitung einzuführen. “ Er selbst fühle sich nicht berufen – so Dr. Rosen – die Rolle des Diktators zu übernehmen. Im Falle des Versagens der derzeitigen demokratischen Selbstverwaltung werde er „das Sosua Settlement verlassen“.
Die Konflikte in der Siedlung, die später noch zunahmen, rührten vor allem daher, dass Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft und kultureller Prägung die Gemeinschaft von Sosua bildeten. Hinzu kam, dass Sosua für viele von ihnen nur ein Wartesaal vor dem Sprung in die USA war. Andere jedoch verstanden den Aufbau der Siedlung als Lebenswerk.
Von den 352 Siedlern, die ein Jahr nach Ankunft von Martin Katz und seiner Gruppe in Sosua lebten, hatten nur dreizehn Erfahrung in der Landwirtschaft. Zwei Drittel waren Männer, unverheiratete Frauen gab es kaum, und wohl auch deshalb suchten sich viele Junggesellen eine Ehepartnerin unter den Einheimischen, was zum Teil mit einer Entfremdung von der Siedlergemeinschaft einherging.
Am 20. August 1941 – die Siedlung war gerade etwas mehr als ein Jahr alt – berichtete Salomon Trone, er war zuständig für die Rekrutierung neuer Siedler aus Europa, nach einem Besuch in Sosua von „zusammengebrochener Disziplin und vernachlässigten Feldern“. Es sei nicht mehr wie am Anfang, schrieb er an James Rosenberg, dem Direktor der „Dorsa“, und Joseph Rosen, der als Siedlungsleiter zurückgetreten war. Damals hätten zwar „preußische Methoden“ geherrscht, aber jeder habe seine Arbeit erledigt.
Sosua wurde kein Kibbuz, wie es einigen Siedlern vielleicht vorgeschwebt haben mag. Doch die Siedler hatten schließlich Erfolg, als sie ihre Wirtschaft auf Viehzucht umstellten. Für eine intensive Landwirtschaft schienen die Böden auf der Insel nicht geeignet und schon gar nicht für den Anbau europäischer Produkte, für die es zum Teil auch den Markt nicht gab. So mussten sie die Tomaten tonnenweise ins Meer kippen.
Martin Katz weiß nicht genau, wann die Siedlergemeinschaft aufgehört hat zu existieren. „Irgendwann Anfang der 50er-Jahre“, vermutet er, „es war ein schleichender Prozess. “ Damals wurde die Milchgenossenschaft mit der Fleischkooperative zusammengelegt und in eine GmbH verwandelt. Sie vermarktet seither die „Productos Sosua“ und ist heute der größte landwirtschaftliche Konzern der Insel.
„Unser Kapital ist noch immer mehrheitlich in jüdischer Hand“, sagt Joe Benjamin, der Geschäftsführer der GmbH, der in der internationalen Zone von Schanghai aufwuchs, wohin seine Eltern 1939 geflüchtet waren und in die man damals noch ohne Pass einreisen konnte. Nach der japanischen Besetzung der Stadt wurde für die Juden ein Ghetto errichtet. Zwei Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam Joe Benjamin nach Sosua. Er gehört zu den letzten Juden, die auf der Insel eintrafen.
Aus dem Projekt der Ansiedlung von 100 000 Flüchtlingen ist nichts geworden. Mehr als 500 wurden es nie. Das ist zum Teil dem kriegsbedingten Mangel an Transportmitteln und der Erschwerung der Fluchtwege nach dem Kriegseintritt Italiens geschuldet, zum Teil bürokratischen Hindernissen, zum Teil dem Unwillen der dominikanischen Regierung und auch der Vereinigten Staaten, die Angst vor der Infiltration deutscher Spione hatten.
Die Geschichte der jüdischen Flüchtlinge ist in Sosua heute nur noch in Spuren zu erkennen: in der Synagoge, im Museum, dem jüdischen Gymnasium und vor allem in der Käsefabrik. Im Zug der touristischen Erschließung dieses einst so einsamen Ortes haben die meisten Siedler ihr Land und ihre Finca verkauft. „Wir Juden wurden aus Deutschland verjagt und haben Sosua aufgebaut“, sagt Martin Katz, „und nun ist Sosua voll von Deutschen. “ Er sagt es ohne Bitterkeit, eher mit Verwunderung.
Als „persönlichen Beitrag zur Etablierung der ersten Siedlung von Flüchtlingen“ bot der Diktator eines seiner Landgüter an – für 100 000 Dollar.

Susanne Heim, Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 13.05.2000