Der andere 11. September

Die Zeitzeugen sind sich einig: Es war die größte Demonstration, die Chile bis dato erlebt hatte. Vorsichtigen Schätzungen zufolge marschierten 700.000 Personen über die Alameda, den Prachtboulevard von Santiago, der Hauptstadt des Landes. Und immer wieder sangen sie ein Lied der populären Band Quilapayún, das mit dem Refrain endet: „El pueblo unido jamás será vencido!“ – Das geeinte Volk wird niemals besiegt! Das war am 4. September 1973, eine Woche bevor die Bomben fielen.

Was die Demonstranten nicht wahrhaben wollten: Das Volk war weniger geeint denn je, ein tiefer Riss ging durch die Gesellschaft. Drei Jahre zuvor hatte der damals 62-jährige Arzt Salvador Allende, der Kandidat des Linksbündnisses Unidad Popular, bei den Präsidentschaftswahlen mit 36 Prozent eine relative Mehrheit erhalten. Im Parlament, das verfassungsgemäß zwischen den beiden Bestplatzierten zu entscheiden hatte, votierten die Christdemokraten für ihn und gegen den Kandidaten der Rechten, dem 35 Prozent der Chilenen ihre Stimme gegeben hatten.
Die Rechte konnte sich mit der Wahl Allendes nie abfinden, und die Linke, vor allem Allendes eigene Sozialistische Partei, drängte auf die kompromisslose Verwirklichung des Programms der Unidad Popular. Kupferminen und Banken wurden verstaatlicht und eine Agrarreform begonnen. Das Kapital hielt sich mit Investitionen zurück, Transportunternehmer organisierten politische Streiks, und Frauen aus der Oberschicht schlugen auf Kochtöpfe, um gegen Versorgungsengpässe und Inflation zu protestieren. Fabrikarbeiter gingen daran, ihre Betriebe zu bewachen, und organisierten die Verteilung knapper Konsumgüter. Die rechtsradikale Patria y Libertad sabotierte Eisenbahnlinien und sprengte Brücken. Die linksradikale MIR rief die Bauern dazu auf, Ländereien zu besetzen, und verlangte die Bewaffnung des Volkes (worunter sie die Fabrikarbeiter und die Einwohner der Armenviertel verstand).
Auch das Ausland bezog Position. Die USA sperrten bereits zugesagte Kredite; die CIA setzte Geld und auch Waffen ein, um das Land zu destabilisieren und Allende zu stürzen. Er könne nicht einsehen, hatte sich US-Außenminister Henry Kissinger schon am 27. Juni 1970 in vertrauter Washingtoner Runde vernehmen lassen, „weshalb man daneben stehen und zuschauen soll, wenn ein Land kommunistisch wird, bloß weil seine Bevölkerung so verantwortungslos ist“.

„Wir müssen sie wie Ratten töten“
Bei den Parlamentswahlen im Mai 1973 erhielt die Unidad Popular 43 Prozent der Stimmen. Das inzwischen vereinigte konservative Lager erreichte zwar 55 Prozent, verfehlte aber die Zweidrittelmehrheit, die es ihm ermöglicht hätte, Allende abzuwählen. Der sozialistische Präsident sah sich nun mit einer Blockadehaltung von Parlament, Justizapparat und Rechnungshof konfrontiert. Und auch in der Armee, die – anders als in Lateinamerika üblich – auf eine lange Tradition der Verfassungstreue zurückblicken konnte, begann es zu rumoren. Ende Juni scheiterte ein dilettantischer Putschversuch eines Panzerregiments. Schließlich sah Allende nur noch einen Ausweg: Das Volk sollte entscheiden, ob er im Amt bliebe oder zurückträte.
Am 9. September 1973, es ist Sonntag, empfängt der Präsident in seiner Privatresidenz im Nordosten Santiagos Heeresgeneral Augusto Pinochet, den Mann, der zwei Tage später weltweit für Schlagzeilen sorgen wird. Der Gast kommt in Zivil. Allende erläutert ihm seine Absicht, am 11. September in einer öffentlichen Rede ein Plebiszit anzukündigen. Pinochet ist irritiert. Offensichtlich sieht der General seine Pläne durchkreuzt. Der Putsch ist für den 14. September vorgesehen. Aber wie soll die Armee ihn begründen, wenn Allende selbst drei Tage vorher öffentlich verkündet, er mache seine Zukunft vom Votum der Chilenen abhängig? Es bleibt nichts anderes übrig, als den Tag X vorzuverlegen. Dem Präsidenten kommen wohl erst an diesem Tag Zweifel an der Loyalität des Generals, den er selbst drei Wochen zuvor zum Heereschef ernannt hat. Carlos Prats, der am 23. August das Kommando abgegeben hatte und mit dem Allende eng befreundet war, hatte ihm Pinochet als seinen Nachfolger vorgeschlagen. Der 58-jährige General hatte bei der Meuterei im Juni Allende seiner Loyalität versichert und war höchstwahrscheinlich erst 72 Stunden vor dem Putsch, der ihn dann an die Macht spülen sollte, in die konkrete Planung des Staatsstreichs eingeweiht worden; treibende Kraft war die Marine.
Am Montag, dem 10. September, kommt der Präsident um 21.30 Uhr nach Hause. Zum späten Essen in seiner Residenz finden sich Innenminister Carlos Briones und Verteidigungsminister Orlando Letelier ein; auch der Journalist Augusto Olivares, Leiter des Fernsehsenders Canal 7, und Präsidentenberater Juan Garcés sind zugegen. Man diskutiert über die Rede, mit der Allende das Plebiszit ankündigen will. Das Telefon klingelt. Aus der Moneda, dem Präsidentenpalast im Zentrum Santiagos, ruft Allendes Privatsekretärin an und berichtet von Truppenbewegungen im Norden der Hauptstadt. Auch Carlos Altamirano, Chef der Sozialistischen Partei, meldet sich. Er will mit dem Verteidigungsminister sprechen, weil er ebenfalls von mobilisierten Soldaten erfahren hat. Letelier erkundigt sich bei General Herman Brady, dem designierten Chef der 2. Armeedivision, die für die Hauptstadt zuständig ist. Brady gibt vor, nichts zu wissen. Er wolle sich erkundigen. Beim zweiten Anruf Leteliers erzählt er etwas von Vorbereitungen für die Parade am 19. September, dem traditionellen Tag der Streitkräfte.
Dienstag, 11. September. Um fünf Uhr früh erhält Jorge Urrutia, General der Carabineros, einer dem Verteidigungsministerium unterstellten kasernierten Polizei, einen Anruf. „Herr General“, meldet sich der Kommandant der Carabineros der Hafenstadt Valparaíso (120 Kilometer nordwestlich von Santiago), „Einheiten der Marine ziehen durch die Straßen und schießen. Die Leute werden aufgefordert, ihre Häuser nicht zu verlassen.“ Urrutia alarmiert sofort den Präsidenten. Allende weist General Brady an, Truppen nach Valparaíso zu schicken. Der verspricht es, lässt es jedoch sein. Verteidigungsminister Letelier eilt in sein Büro, wird aber von der Wache seines Ministeriums unter Arrest gestellt.
Um 7.20 Uhr verlässt Allende seine Residenz und fährt in einer kleinen Fahrzeugkolonne, die von zwei weißen Panzerwagen der Carabineros eskortiert wird, zur Moneda. Begleitet von den Genossen der GAP (Grupo de Amigos Personales), seiner persönlichen Schutztruppe, inspiziert Allende das Gebäude und erörtert Verteidigungsmaßnahmen. In der Hand hält er eine Kalaschnikow, die auf dem Kolben eine Gravur trägt: „Für Salvador, von seinem Waffengenossen Fidel.“ Das Gewehr hat ihm Castro bei einem Besuch in Santiago im Dezember 1971 geschenkt. Bei jener Gelegenheit hielt Allende im Nationalstadion eine Rede. „Ich habe nicht das Zeug zum Märtyrer“, sagte er, „aber diejenigen, die das Rad der Geschichte zurückdrehen [… ] wollen, sollen wissen: Ich werde keinen Schritt zurückweichen, ich werde die Moneda erst verlassen, wenn das Mandat, das mir das Volk gegeben hat, abgelaufen ist. […] Wer mich hindern will, das Programm des Volkes zu verwirklichen, wird mich mit Schüssen durchsieben müssen.“
Um 7.55 Uhr hält der Präsident – über Radio Corporación, den Sender seiner Sozialistischen Partei – eine Rede an das Volk. Er berichtet von der Marine-Meuterei in Valparaíso. In Santiago sei „bis zu diesem Zeitpunkt“ noch alles normal. Jeder solle sich an seinen Arbeitsplatz begeben und weitere „Instruktionen des Genossen Präsidenten“ abwarten.
Um 8.20 Uhr wendet sich Allende ein zweites Mal ans Volk. Er gibt zu, dass die Putschbewegung größer ist, als zunächst angenommen, und bittet alle, Ruhe zu bewahren und an den Arbeitsplätzen auszuharren. Schon kurz danach ruft ihn Oberst Roberto Sánchez, Adjutant der Luftwaffe, an, um ihm mitzuteilen, dass ihm Luftwaffengeneral Gabriel Van Schouwen ein Flugzeug anbiete, in dem er, seine Familienangehörigen und seine engsten Mitarbeiter in ein Land seiner Wahl ausreisen könnten. Der Präsident lehnt ab. Zwölf Jahre später werden Tonbandaufnahmen bekannt, die von den Telefonaten der putschenden Generäle gemacht wurden: Admiral Patricio Carvajal, der im Verteidigungsministerium das Kommando übernommen hat, fragt Pinochet, ob die Offerte, Allende ausreisen zu lassen, aufrechterhalten werde. Pinochet: „Das Angebot, ihn aus dem Land zu bringen, steht… und wenn er in der Luft ist, Alter, stürzt das Flugzeug ab.“
Kaum hat Allende seine zweite Rundfunkrede beendet, ertönt – es ist 8.30 Uhr – auf Radio Agricultura Marschmusik. Dann wird die erste Proklamation einer militärischen Regierungs-Junta verlesen: „Angesichts der schweren wirtschaftlichen, sozialen und moralischen Krise, die das Land zerstört, der Unfähigkeit der Regierung, dem zunehmenden Chaos Einhalt zu gebieten, und des Anwachsens paramilitärischer Gruppen, die von den Parteien der Unidad Popular organisiert und ausgebildet werden und die Chile unweigerlich in einen Bürgerkrieg stürzen“, hätten die Streitkräfte die historische Aufgabe übernommen, „für die Befreiung des Vaterlandes vom marxistischen Joch zu kämpfen und Ruhe und Ordnung wiederherzustellen.“ Die Bürger sollten in ihren Häusern bleiben. Es zeichnen: Heereschef General Augusto Pinochet, Marinechef Admiral Toribio Merino, Luftwaffenchef General Gustavo Leigh, und César Mendoza, Generaldirektor der Carabineros. Merino hat sich an die Stelle des am Vorabend festgenommenen Admiral Raúl Montero gesetzt, und Mendozas Posten hat legal immer noch José Sepúlveda inne, der sich in der Moneda aufhält.
Sepúlveda ist zwar loyal, aber seine Mannen gehorchen ihm nicht mehr. Die Panzer der Carabineros, die vor der Moneda aufgefahren sind, ziehen auf Befehl Mendozas ab. Inzwischen haben die Genossen der GAP im Innern des Gebäudes einige Maschinengewehre und Raketenwerfer in Stellung gebracht. Sie verschanzen sich hinter den Fenstern. Es wird geschossen. Scheiben klirren. Allende wendet sich zum letzten Mal ans Volk, nunmehr – Radio Corporación ist bereits zum Schweigen gebracht – über Radio Magallanes, den Sender der Kommunistischen Partei. Er liest seine Botschaft stehend, ans Pult seines Büros gelehnt: „Das ist bestimmt meine letzte Gelegenheit, mich an euch zu wenden […] Ich werde nicht zurücktreten […] Ich werde die Loyalität zum Volk mit meinem Leben bezahlen. Sie haben zwar die Macht, uns zu unterwerfen, aber gesellschaftliche Prozesse kann man nicht mit Verbrechen und Gewalt aufhalten. […] Es werden andere Menschen diesen grauen und bitteren Augenblick, in dem sich der Verrat durchsetzt, vergessen machen […] Von neuem werden sich die breiten Alleen öffnen, auf denen der freie Mensch voranschreitet, um eine bessere Gesellschaft aufzubauen […] Das sind meine letzten Worte. Ich habe die Gewissheit, dass mein Opfer nicht vergebens sein wird, zumindest ist es eine moralische Lektion, die den Treubruch, die Feigheit und den Verrat strafen wird.“ Allende kennt die Kräfteverhältnisse und ruft nicht zum offenen Widerstand gegen die Putschisten auf.
9.30 Uhr: Aus dem nahen Verteidigungsministerium ruft Admiral Carvajal an und fordert die Kapitulation. Andernfalls werde die Moneda bombardiert. Noch einmal bietet er dem Präsidenten und seiner Familie freies Geleit ins Ausland an. Allende lehnt energisch ab und bezeichnet die Junta-Mitglieder als Verräter. Und solchen traue er ohnehin nicht. Dann legt er das Telefon auf den Tisch, sodass die Umstehenden die Stimme aus dem Verteidigungsministerium mithören: „Wir müssen sie also wie Ratten töten.“
Kurz danach ruft der Präsident alle Personen, die sich in der Moneda aufhalten, in den Saal, der Staatsakten vorbehalten ist. Während draußen ununterbrochen Schüsse fallen, macht er ihnen klar, dass die Sache verloren ist. „Wir haben keine organisierten militärischen Kräfte auf unserer Seite“, sagt er, „die Mehrheit von euch ist jung, hat Frau und kleine Kinder. Ihr habt ihnen gegenüber eine Verpflichtung. Das hier ist nicht die letzte Schlacht. Die Genossinnen bitte ich nicht, ich befehle es ihnen, die Moneda zu verlassen. Die Genossen, die keine Aufgaben haben, keine Waffe besitzen oder nicht mit ihr umzugehen wissen, bitte ich, jetzt zu gehen, da es noch möglich ist.“ Er selbst werde aushalten und bis zum Ende kämpfen. Nach der Rede herrscht betretenes Schweigen. Kaum einer kann die Tränen zurückhalten. Schließlich wird die Nationalhymne gesungen.
Die meisten kommen der Aufforderung des Präsidenten nach und treten mit weißer Fahne auf die Straße hinaus. Auch die Palastgarde der Carabineros, die loyal geblieben ist, geht fast vollzählig. Sechs Frauen begleitet der Präsident persönlich zu einem Nebeneingang der Moneda, unter ihnen zwei seiner Töchter: Isabel María und die hochschwangere Beatriz, die sich jahrelang vorwerfen wird, ihren Vater allein zurückgelassen zu haben, und 1977 im kubanischen Exil Selbstmord begeht. Zurück bleiben 56 Personen: 19 Beamte, Berater und Freunde des Präsidenten (unter ihnen 5 Minister), 16 Polizisten, 20 GAP-Genossen und Salvador Allende selbst.
Im Präsidentenpalast werden nun die Gewehre und Gasmasken verteilt, welche die Carabineros zurückgelassen haben. Allende hat sich einen Stahlhelm aufgesetzt und schießt mit dem Maschinengewehr aus seinem Privatsekretariat auf anrückende Panzerwagen. Der Armee gelingt es trotz verschiedener Vorstöße nicht, den Palast einzunehmen. Um 11.55 Uhr überfliegen vier Hawker Hunter die Moneda und werfen Bomben ab. Es folgen sieben weitere Angriffe aus der Luft. Nach einer Viertelstunde steht ein Teil des Palastes in Flammen. Druckwellen haben Türen und Fenster aufgerissen. Die Notfallstation im Untergeschoss ist komplett zerstört. Überall dringt schwarzer Rauch hervor. Im Erdgeschoss hat sich der Journalist Augusto Olivares, ein enger Freund des Präsidenten, eine Kugel in den Kopf geschossen. Die Ärzte sind machtlos. Er stirbt. Allende ordnet mitten im Chaos eine Gedenkminute an.

Zwei Schüsse im Saal der Unabhängigkeit
In der Moneda klingelt wieder das Telefon, das seltsamerweise noch immer funktioniert. Es ist General Ernesto Baeza aus dem zwei Straßenblocks entfernten Verteidigungsministerium. Er verlangt die Kapitulation. Allende schickt schließlich eine dreiköpfige Delegation zu Verhandlungen. Das Feuer wird kurz eingestellt. Und während ein gepanzerter Wagen die drei Emissäre abholt, fragt Admiral Carvajal bei Pinochet nach, was zu tun sei. Der sagt knapp: „Bedingungslose Kapitulation, keine Verhandlungen.“ Also werden die Emissäre im Verteidigungsministerium festgenommen.
Der Arzt Óscar Soto und einige weitere Personen befinden sich gerade auf der Treppe zwischen Erd- und Obergeschoss, als 20 Soldaten ihnen entgegenstürmen und sie unter Kolbenhieben und Fußtritten auf die Straße zerren, wo sie sich – Gesicht nach unten – auf den Asphalt legen müssen. Schließlich wird Soto in die Moneda zurückgeschickt, um den Übrigen, die sich im Obergeschoss verschanzt haben, ein Ultimatum zu überreichen: Innerhalb von zehn Minuten müssen alle ohne Waffen ins Erdgeschoss hinunterkommen, das bereits von Soldaten besetzt ist. Soto überbringt das Ultimatum an Allende. Nach einer kurzen Beratung mit seinen Mitarbeitern ordnet der Präsident an: „Alle sollen hinuntergehen. Ohne Waffen. Ich komme als letzter.“
Einer nach dem andern geht nach unten. In der allgemeinen Konfusion hat sich Allende in den „Saal der Unabhängigkeit“ zurückgezogen, wo er sich hinsetzt. Der Gobelin hinter ihm zeigt ländliche Szenen, ihm gegenüber hängt, in goldenem Rahmen, das Gemälde Der Unabhängigkeitsschwur von Pedro Subercaseaux. Im Treppenhaus hört man zwei Schüsse in schneller Abfolge. Der Chirurg Patricio Guijón, der noch mal ins Obergeschoss gerannt ist, weil er seinen Kindern als Andenken an das historische Ereignis eine Gasmaske mitbringen will, trifft als Erster auf den toten Präsidenten. Mit zerschossenem Schädel sitzt Allende, nach rechts gebeugt, auf dem Sofa, das Gewehr noch zwischen den Beinen. Guijón fühlt den Puls des Präsidenten, nimmt das Gewehr und legt es auf den Boden – zur Sicherheit, weil jede Sekunde die Soldaten hereinstürmen können.
General Javier Palacios, der die Truppe in der Moneda anführt, vermutet zunächst, dass Guijón, den er neben dem Toten antrifft, Allende erschossen hat. Er lässt ihn festnehmen. Schon bald kommen die Fotografen und Ballistik-Experten des Morddezernats. Der Befund der Polizei: „Schädel-Hirn-Trauma aufgrund einer Schussverletzung in suizidärer Absicht“. Im offiziellen Bericht wird später festgestellt, dass sich Allende „mit einem automatischen Gewehr, das er zwischen den Knien hielt und dessen Lauf er am Kinn ansetzte“, das Leben genommen habe.
Noch Jahre nach der Tragödie in der Moneda hielten Anhänger am Mythos fest, Allende sei von den Soldaten erschossen worden, er habe bis zum letzten Atemzug gekämpft. Patricio Guijón und die Gerichtsmediziner hätten nur unter dem Druck der Militärs an der Version des Selbstmordes festgehalten. Spätestens 1990 zerplatzte dieser Mythos. Die Leiche Allendes wurde ein Jahr nach dem Sturz der Diktatur exhumiert, neu obduziert, nach Santiago überführt und dort auf dem Zentralfriedhof beigesetzt.
In der Moneda selbst kamen vermutlich vier Verteidiger ums Leben; die Übrigen wurden festgenommen und von den Siegern unterschiedlich behandelt. Die Ärzte kamen, bis auf Guijón, noch am Tag des Putsches frei, die Polizisten – sie hatten ja nur ihre dienstlichen Pflichten erfüllt – einen oder zwei Tage später. Die meisten Minister und Regierungsbeamten wurden für einige Monate auf der Dawson-Insel im arktischen Süden des Landes gefangen gehalten, bevor sie ins Exil ausreisen durften. Von den zwanzig Genossen der GAP überlebten nur vier ihre Festnahme. Die Anderen wurden nach schwerer Folter füsiliert oder gelten bis heute als vermisst.
Über Chile war die Nacht hereingebrochen. Sie dauerte fast 17 Jahre lang – bis zu den Wahlen von 1990. Mehr als dreitausend Menschen wurden ermordet, hunderttausend eingesperrt und gefoltert. Selbst im Ausland schlug Chiles Geheimdienst zu: 1974 tötete eine Autobombe in Buenos Aires den Allende-treuen General Carlos Prats und dessen Frau; der ehemalige Verteidigungsminister Orlando Letelier fiel 1976 einem Attentat in Washington zum Opfer.
Vor einem Monat versprach Chiles Präsident Ricardo Lagos, der – wie einst Allende – der Sozialistischen Partei angehört, den Angehörigen der Ermordeten und auch den Gefolterten Entschädigung. Gegen rund 160 chilenische Militärs sind Strafverfahren anhängig. Pinochet selbst aber wird wohl für seine Verbrechen nicht mehr büßen müssen. Das Oberste Gericht Chiles hat dem 88-Jährigen vor einem Jahr eine unheilbare Altersdemenz attestiert.

Thomas Schmid – DIE ZEIT 11.09.2003 Nr.38

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