Der Flug des Giovanni Bassanesi

Die Passanten auf der Mailänder Piazza del Duomo dachten zunächst an einen weiteren Propagandacoup des faschistischen Regimes, als am 11. Juli 1930 – es war gerade Mittagspause – Zehntausende von farbigen Flugblättern vom Himmel segelten. Doch als sie die Handzettel dann lasen, staunten sie nicht schlecht. „Hört auf zu rauchen!“ hieß es da in Großbuchstaben, und darunter kleiner: „Die Mailänder von 1848 haben ihre Kampagne gegen Österreich damit begonnen, dass sie sich des Rauchens enthielten. So wie damals der fremde Eindringling muss heute der Faschismus bekämpft werden. Schlagt den unersättlichen Feind an der Wurzel seiner usurpierten Macht: den öffentlichen Geldern. Die Einkünfte aus der Tabaksteuer sind enorm zurückgegangen, reduziert sie auf null. Sollen doch die Schergen und Mörder des Regimes rauchen. Die Parole lautet: Wer raucht, ist ein Faschist. Krieg der Tyrannei! Es lebe die Freiheit!“. Verantwortlich für das Flugblatt zeichnete die „antifaschistische revolutionäre Bewegung Giustizia e Libertà“, die den meisten Mailändern noch unbekannt war. Die Widerstandsgruppe hatten liberale Intellektuelle erst ein Jahr zuvor im französischen Exil gegründet.

Absturz am Gotthard

In einer Höhe von 200 Metern sei das Flugzeug über das Zentrum der lombardischen Metropole geflogen, meldete die Tessiner Libera Stampa, damals wie heute offizielles Organ der Sozialistischen Partei, am 13. Juli, dann sei es „fast senkrecht aufgestiegen und weit oben in den Wolken entschwunden“. Andere sahen genauer hin: Die Italiener hätten sofort ihre Flugabwehr alarmiert, schrieb etwa der Corriere del Ticino, aber zu spät, die Maschine habe sich längst „Richtung Norden“ davongemacht.

Die Libera Stampa hatte guten Grund, zu den Wolken Zuflucht zu nehmen. Die Tessiner Sozialisten hatten beim ganzen Unternehmen nämlich gründlich mitgemischt, aber alles Interesse daran, das Ganze als ausschließlich auf italienischem Boden durchgeführte Aktion des italienischen Widerstands darzustellen. Doch just die Wolken machen ihnen schließlich einen Strich durch die Rechnung. Giovanni Bassanesi war ins Tessin zurückgeflogen, hatte bei Lodrino, wenige Kilometer nördlich von Bellinzona, aufgetankt und war noch am selben Tag Richtung Gotthard losgestartet. Aber die Sicht war äußerst schlecht, der 25-jährige Antifaschist aus dem italienischen Aostatal stürzte ganz in der Nähe des Hospizes auf der Passhöhe ab. Zwar überlebte er verletzt den Unfall, doch die logistische Hilfe, die der kühne Pilot von Tessiner Kreisen erhalten hatte, ließ sich nun kaum mehr verbergen.

Giovanni Bassanesi

Bassanesi, von liberaler Gesinnung, im philosophischen, nicht parteipolitischen Sinn des Wortes, hatte aufgrund von Druck und Drohungen der regierenden Faschisten 1927 seine Heimatstadt Aosta verlassen und war ins französische Exil gegangen. Dort beschäftigte sich der ausgebildete Lehrer vor allem als Fotoretoucheur. Politisch fand er bald Anschluss an die Giustizia e Libertà, der er allerdings nie förmlich beitrat. Seinen Plan, über Mailand Flugblätter abzuwerfen, besprach er ausführlich mit den beiden obersten Führern der liberalen Widerstandsgruppe, Alberto Tarchiani und Carlo Rosselli, die sein spektakuläres Vorhaben guthießen und nach Kräften unterstützten. So nahm denn Bassanesi Flugstunden, was ihn 30.000 französische Francs kostete, erwarb sich das Flugbrevet und kaufte sich für weitere 50.000 Francs ein Kleinflugzeug des Typs Farman. Für sämtliche Unkosten des Unterfangens, die sich letztlich auf 100.000 Francs beliefen, kam Rosselli auf, der praktisch sein ganzes Privatvermögen in den antifaschistischen Kampf investierte.

Zusammen mit Gaston Brabant, einem französischen Kampfflieger aus dem Ersten Weltkrieg, startete Bassanesi Anfang Juli in Paris. Nach Zwischenlandungen in Clermont-Ferrand und Lyon erreichten die beiden Genf und flogen am nächsten Tag von dort ins Tessin weiter. Sie landeten bei Lodrino auf einem Grundstück des sozialistischen Friedensrichters Carlo Martignoli, das von Guglielmo Canevascini höchstpersönlich auf seine Tauglichkeit hin inspiziert worden war. Der sozialistische Regierungsrat hatte zudem zwei Parteigenossen, die in der kantonalen Verwaltung beschäftigt waren, angewiesen, das nötige Kerosin zum provisorisch eingerichteten Flugplatz zu bringen. Am 10 Juli wurden zudem in derselben Druckerei in Lugano, die auch die Libera Stampa herstellte, die 150.000 Flugblätter produziert, die am folgenden Tag auf die Mailänder niederschweben sollten.

Am 11. Juli war es so weit. Bassanesi startete zu seinem Flug nach Mailand. Den Platz Brabants, der in die Aktion nicht eingeweiht und verabschiedet worden war, hatte Gioacchino Dolci eingenommen. Der junge Arbeiter aus Rom hatte sich im letzten Augenblick anerboten, mitzufliegen und im geeigneten Moment die Fracht abzuwerfen. Zurück im Tessin, stieg Dolci aus. Bassanesi flog allein weiter und wurde nach seiner Bruchlandung am Gotthard mit gebrochenem Bein in Militärspital von Andermatt eingeliefert.

Der Duce denkt an Bomben

Für einige Tessiner Politiker wurde es nun brenzlig. Bassanesi verpfiff zwar seine Helfer und Helfershelfer nicht und bestritt sogar bis zum Prozess, der Pilot des spektakulären Fluges gewesen zu sein. Allerdings umsonst, die Polizei hatte die Zusammenhänge relativ schnell aufgeklärt und auch die Verstrickung der Tessiner Politiker ermittelt. Emilio Colombi („ich habe nur einen einzigen Wunsch, ein einziges Ziel: den Sieg des Faschismus in der Schweiz und im Tessin“, schrieb er vier Jahre später an den Duce in Rom) hatte bereits am 17. Juli, sechs Tage nach Bassanesis Flug in der welschen Presse einen Artikel gegen den „antifaschistischen Terrorismus im Tessin“ lanciert. Der 70-jährige Tessiner Journalist beklagte, dass „dank dem unsäglichen Proporz-System die winzige Sozialistische Partei sogar das Wetter im Kanton macht und die anderen beiden Parteien ihrem Befehl folgen“.

Die italienische Presse verbreitete Colombis Machwerk am Tag danach über den ganzen Stiefel. Und am selben Tag, am 18. Juli, traf sich der Schweizer Botschafter in Rom, Georges Wagnière, mit Mussolini. In seinem Protokoll über das Treffen zitiert der Diplomat den Duce mit folgenden Worten: „Heute sind revolutionäre Handzettel von einem Flugzeug, das von einem Tessiner Feld aufgestiegen ist, auf Mailand abgeworfen worden; morgen werden es vielleicht Bomben auf eine Menge, auf eine Versammlung oder auf ein Fest sein. Angesichts der Haltung der Tessiner Behörden ist alles möglich.“ Derselbe, offenbar naheliegende Gedanke war übrigens schon fünf Tage zuvor dem Leitartikler der Libera Stampa gekommen. Das Blatt der Sozialisten schrieb am 13. Juli auf der ersten Seite: „Statt Tausende und Abertausende von Handzetteln hätte das Flugzeugt ja auch 200-Kilo-Bomben abwerfen können, nicht nur über Mailand, sondern auch über Rom. Aber die Antifaschisten haben es vorgezogen, nur Flugblätter abzuwerfen (…). Alles, was auf diesen gesagt wurde, kann man in jedem beliebigen Teil der Welt frei drucken. Um es aber in Italien zu sagen, muss man ein Flugzeug besteigen.“

Auch Bundesanwalt Franz Stämpfli befand, dass nicht die „strafbare Handlung“ des Italieners das Schlimmste an der ganzen Angelegenheit sei, sondern die Beihilfe von Tessiner Antifaschisten und Regierungsbeamten. Trotzdem empfahl er, die Sache nicht hochzukochen. Der oberste Ankläger der Eidgenossenschaft befürchtete nämlich, dass es – wie Außenminister Giuseppe Motta in einem Brief an den Geschäftsträger Ruegger in Rom festhielt – den Tessinern gelingen könnte, den Prozess gegen Bassanesi zu einem „Prozess gegen das italienische Regime“ umzufunktionieren, „der dann mit einem Freispruch der Angeklagten enden würde“.

Der Bundesrat findet einen Weg

Aus diesem Grund beschloss man denn auch in Bern, dem italienischen Flieger nicht mit dem Artikel 41 des eidgenössischen Strafgesetzes, der die Verletzung ausländischen Territoriums als Verbrechen ahndet, zu Leibe zu rücken, sondern mit der Bestimmung eines Bundesbeschlusses von 1920, der Verstöße gegen die Ordnung des Luftverkehrs mit höchstens einem Jahr Strafe vergilt. Damit war auch nicht mehr das Bundesgericht zuständig, das aus Tessiner Laienrichtern bestanden hätte, sondern das Bundesstrafgericht, das sich aus Berufsrichtern zusammensetzt. Man befürchtete offenbar in Bern, dass Laienrichter eine Politisierung des Prozesses durch die Verteidigung akzeptiert oder jedenfalls nicht zu verhindern gewusst hätten. Motta vermutete zudem im bereits zitierten Brief, dass eine Verurteilung nach Artikel 41 wohl eine „juristische Konstruktion“ erfordert hätte, die Berufsrichtern leicht gefallen wäre, aber zu der Geschworene wahrscheinlich nicht in der Lage gewesen wären. Der Schweizer Botschaft in Rom schrieb der Außenminister erleichtert: „Wir hoffen, dass man uns in Italien dafür dankbar ist, dass wir einen Weg gefunden haben, gegen Bassanesi und Komplizen ziemlich strenge Strafen zu fordern, ohne das faschistische Regime der Gefahr einer Debatte vor dem Schwurgericht auszusetzen.

Prozess in Lugano

Zur befürchteten Debatte kam es beim Prozess, der am 17. November 1930 in Lugano eröffnet wurde, dann trotzdem. Dafür sorgten schon die beiden prominentesten Zeugen der Verteidigung: Filippo Turati, Gründer der Sozialistischen Partei Italiens, und Carlo Sforza, vor Mussolinis Machtübernahme Außenminister. Der Gerichtspräsident schnitt zwar dem Hauptangeklagten das Wort ab, als dieser die Motive seiner Tat erläutern wollte und vom Terror der Schwarzhemden im Aostatal zu sprechen begann. Doch den greisen Sozialisten ließ er ausreden. Turani bescheinigte dem jungen Bassanesi, der unter dem Joch des Faschismus sehr gelitten habe, einen außerordentlich hohen Gerechtigkeitssinn. Und Graf Sforza protestierte seinerseits schon bei der Feststellung seiner Personalien. „Wohnhaft in Paris“, las der Gerichtspräsident vom Blatt. „Nein“, unterbrach ihn der 53-jährige Exilpolitiker, „wohnhaft in Rom, zur Zeit studienhalber im Ausland, weil man im faschistischen Italien nicht studieren kann.“

Bassanesi wurde zu vier Monaten Gefängnis verurteilt, abzüglich der Zeit, die er nach seiner Überstellung nach Lugano am 2. August in Untersuchungshaft gesessen hatte. Er musste also nach Urteilsverkündung noch zehn Tage brummen. Sämtliche anderen Angeklagten wurden freigesprochen, unter ihnen auch Rosselli und Tarchiani, die beiden Führer von Giustizia e Libertà, die aus Solidarität mit den Hauptangeklagten extra aus ihrem französischen Exil angereist waren, um sich den Richtern zu stellen und die Verantwortung für Bassanesis Flug zu übernehmen. Da dieser jedoch aus opportunistischen Erwägungen nicht als Verbrechen, sondern bloß als Verstoß gegen eine Verordnung geahndet wurde und das Gesetz für Vergehen den Tatbestand der Komplizenschaft gar nicht vorsieht, blieb dem Gericht nichts anderes übrig als der Freispruch. „Kurz nach der Bekanntgabe des Urteils“, vermerkte der Chronist der in Locarno erscheinenden Südschweiz (heute Tessiner Zeitung), „entspann sich im Saale eine förmliche Panik, die durch begeisterte Zwischenrufe und Sympathiekundgebungen des Publikums für Bassanesi und seine Mitangeklagten verursacht wurde. Auch in der Stadt, insbesondere aber auf der Piazza, herrschte eine große Erregung zufolge der allseitigen Freude und großen Zufriedenheit über das gerechte und loyale Urteil des Bundesgerichts.“

Eine Woche nach dem Urteil wurden die beiden Führer von Giustizia e Libertà und Giovanni Bassanesi auf Beschluss des Bundesrates des Landes verwiesen. Vor seiner erzwungenen Ausreise nach Brüssel gab der kühne Flieger, der die Mailänder zum Raucherstreik aufgefordert hatte, eine öffentliche Erklärung ab. „Ich habe die Ausweisung immer  als eine beschämende mittelalterliche Strafe begriffen, die im faschistischen Italien verständlich ist (…) Es gibt, moralisch betrachtet, nichts Tragischeres als ansehen zu müssen, wie die europäischen Demokratien Menschen, die für die Ideale der Demokratie und der Freiheit kämpfen und leiden, als Übeltäter des Landes verweisen.“

Thomas Schmid, „Tessiner Zeitung“, 03.08.1989