Der gnadenlose Comandante

Neujahrstag 1959. Um zwei Uhr morgens besteigt Fulgencio Batista ein Flugzeug und setzt sich in die nahe Dominikanische Republik ab. Als die Flucht des verhaßten Diktators am Morgen in Havanna publik wird, verriegeln die Leute ihre Häuser und verbarrikadieren ihre Geschäfte. Die kubanische Geschichte ist reich an Putschen und Palast-Revolten. In der Regel folgten ihnen Gewalt, Aufruhr und Chaos auf dem Fuß. Doch diesmal ist alles anders.

Es herrscht eine gespenstische Stille in der Hauptstadt. Erst am frühen Nachmittag wagen sich die Leute aus ihren Häusern. Die Stimmung ändert sich nun schlagartig. Wildfremde Menschen liegen sich in den Armen und schreien wie besessen: „Libertad! Libertad!“ Freiheit! Freiheit! Kolonnen hupender Autos, mit der Nationalflagge geschmückt, drehen ihre Runden. Karibische Rhythmen dröhnen aus offenen Fenstern, und auf den Straßen wird getanzt. Die ganze Stadt ist ein Karneval.
Bis am Abend die ersten bewaffneten Männer auftauchen. Sie tragen die rotschwarzen Armbinden der „Bewegung des 26. Juli“. Fünfeinhalb Jahre zuvor hatte an jenem Tag Fidel Castro mit einigen Dutzend Revolutionären die Moncada-Kaserne von Santiago gestürmt. Der kühne Handstreich war zwar kläglich gescheitert, doch hatte er den Beginn des bewaffneten Aufstands gegen die Diktatur markiert. Und nun hatte die Revolution also gesiegt.
Bewaffnete Männer übernahmen die Kontrolle der Hauptstadt Revolutionäre, aber auch Rowdys und Ganoven, die die Gunst der Stunde erkannt und sich eine rotschwarze Armbinde übergestülpt hatten. Es kommt zu Schießereien und Plünderungen. Die Feier ist schnell zu Ende. Die Leute verriegeln ihre Geschäfte wieder und warten das Ende der Anarchie ab.
Das kommt schon am Abend des 2. Januar, als die ersten Kolonnen der Armee der Rebellen in der Hauptstadt eintreffen, angeführt vom Comandante Camilo Cienfuegos. Der überaus populäre Revolutionär, der mit seinem Cowboy-Hut und dem wilden Bart wie eine Mischung aus Christus und Landstreicher aussieht, entwaffnet mit seinen 500 Guerilleros die über 10 000 Soldaten im Hauptquartier Batistas in Havanna, die jede Kampfmoral verloren haben. Dann empfängt er im Büro des Generalstabs die Beine lässig auf dem Tisch, wie ein Chronist vermerkt den US-Botschafter. In der Stadt kehrt etwas Ruhe ein. Alles wartet nun auf Fidel Castro, den unbestrittenen Führer der Rebellen. Nur zwei Jahre zuvor war er mit 82 Männern mit der „Granma“, einem Motorboot, an der kubanischen Küste gelandet und hatte in der Sierra Maestra, dem gebirgigen Osten der Insel, den Kampf gegen den Diktator aufgenommen.
Castro steht am Neujahrstag mit seiner Einheit vor Santiago, der zweitgrößten Stadt Kubas, und wird von der Nachricht über die Flucht Batistas am anderen Ende der Insel völlig überrascht. Am 28. Dezember noch hatte sich der Guerillaführer mit General Eulogio Cantillo, Oberbefehlshaber der Streitkräfte im Osten der Insel, getroffen. Beide hielten ihre Absichten zurück. Doch hatten sie immerhin verabredet, gemeinsam dem Regime ein Ende zu setzen. Am 31. Dezember sollte die Garnison in Santiago meutern. Und Cantillo hatte sich verpflichtet, eine Flucht Batistas zu verhindern. Doch der General spielt mit gezinkten Karten. Sein Interesse, und auch das der USA, ist es, seine weithin geschlagene Armee zu retten. Er hat den Krieg verloren, jetzt verliert er auch noch den Frieden, indem er Castro hintergeht und die Übereinkunft zwischen ihnen dem Diktator hinterbringt. Die Meuterei in Santiago findet nicht statt, Batista überträgt Cantillo wenige Stunden vor seiner Flucht den Oberbefehl über sämtliche Streitkräfte. Der General und nun auch Chef der neugebildeten Militärjunta versucht zu retten, was nicht mehr zu retten ist.
Castro reagiert auf die Nachricht von der Flucht Batistas blitzschnell. In einer landesweit ausgestrahlten Rundfunkansprache bezichtigt er noch am Neujahrstag Cantillo des Verrats. Die Bildung einer neuen Militärjunta durch den flüchtigen Tyrannen sei ein Versuch, die Revolutionäre um die Früchte ihres hart erkämpften Sieges zu bringen. Der Rebellenführer fordert alle Kubaner auf, in einen unbefristeten Generalstreik zu treten.
Castro weist Camilo Cienfuegos an, mit seinen Kräften die Hauptstadt einzunehmen und nur die bedingungslose Kapitulation der Armee zu akzeptieren. Er selbst marschiert noch am 2. Januar in Santiago ein. Dann machte er sich mit seiner Kolonne auf den Weg in die Hauptstadt. Eine Woche dauert die Reise. In Dutzenden von Städten und Dörfern macht er halt, überall sucht er den Kontakt zu den Leuten, überall läßt er sich feiern.
Am 8. Januar schließlich trifft Fidel Castro in Havanna ein. Das Volk bereitet dem Revolutionsführer einen überschwenglichen Empfang. Über eine Million Menschen hören ihm zu, als er fragt: „Wozu wollen einige nun Waffen? Wozu Waffen? Um die neue Regierung der Republik unter Druck zu setzen? Um den Ministerpräsidenten zu erpressen?“ Eine weiße Taube fliegt heran und läßt sich zufällig oder darauf abgerichtet auf der Schulter des Redners nieder. „Frieden!“ kreischt Castro, „wir wollen Frieden!“ In der Nähe stehen die Comandantes aus dem Oberkommando der Guerilla und klatschen. Einer von ihnen ist Huber Matos.
Matos lebt heute irgendwo im endlosen Meer von Einfamilienhäuschen in Miami. Der Comandante, wie er sich auch heute noch gerne anreden läßt, ist ein hagerer Mann von eher kleiner Statur schon vom Äußeren her ganz das Gegenteil seines um zwei Jahre jüngeren bärtigen Widersachers auf der Insel, des Staatsratsvorsitzenden, Generalsekretärs des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei und Comandante en jefe Fidel Castro. Er hat nichts Militärisches an sich. Und während Castro für seinen herrischen Stil, seine donnernde Rhetorik und seine maßlose Selbstverliebtheit bekannt ist, wirkt Matos auf den Besucher bescheiden, nüchtern in der Argumentation und maßvoll in der Kritik. Trotz allem, was ihm widerfahren ist, trägt er nicht jenen abgrundtiefen Groll gegen Castro in sich, der bei so vielen Exilkubanern seiner Generation auf Anhieb spürbar ist.
Huber Matos war relativ spät zur Guerilla in der Sierra Maestra gestoßen. Als Lehrer in Manzanillo hatte er zwar die Aufständischen schon nach ihrer Landung an der Südostküste logistisch unterstützt und ihnen Fahrzeuge verschafft. 1957 ging er ins Exil nach Costa Rica, um Waffen zu besorgen.
Im März 1958 trifft er von dort mit einem Kleinflugzeug und einer ansehnlichen Ladung von Gewehren, Mörsern, Granaten und Patronen in einem von der Guerilla kontrollierten Gebiet ein und schließt sich den Aufständischen an. Er führt eine eigene Einheit an, die sich vor allem bei der Belagerung von Santiago hervortut. Mit wenigen Dutzend Guerilleros verhindert er wochenlang den Ausbruch der 5 000 Soldaten aus der Stadt, deren Kaserne er schließlich zusammen mit Raul Castro einnimmt, bevor Fidel Castro selbst seinen Einzug zelebriert.
Schon wenige Monate nach dem Einzug der Rebellen in Havanna ist Matos unzufrieden mit dem Kurs, den die politische Entwicklung nimmt. Er ist zu diesem Zeitpunkt Befehlshaber der zentralen Region der Insel mit Hauptquartier in Camaguey. „Das Ziel der Revolution, und das hat auch Castro immer wieder betont“, sagt der Ex-Comandante in seinem Häuschen in Miami, „war die Wiederherstellung demokratischer Verhältnisse. Castro sprach öffentlich immer von der Verpflichtung, die Verfassung von 1940 wieder in Kraft zu setzen, zu demokratischen Zuständen zurückzukehren und wirtschaftliche und soziale Reformen durchzuführen.“ Dafür habe auch er sein Leben eingesetzt und würde es wieder tun, sagt Matos. Dann aber hätten sich die ersten totalitären Tendenzen abgezeichnet. Überall in der Administration und auch in der Armee seien vor allem auf Initiative von Raul Castro, aber auch von Che Guevara, gezielt Mitglieder der Kommunistischen Partei untergebracht worden. „Mir schickten sie zwei Kommunisten, die ich als Offiziere in den Kommandostab eingliedern sollte, aber in die tiefste Provinz versetzte. Im Kommandostab hatte ich keine Verwendung.“ Die Kommunisten seien damals nur eine kleine Minderheit gewesen und hätten auch an der Revolution wenig Anteil gehabt. Ein Teil der Partei hatte Batista unterstützt, der andere die Aufständischen. Fidel selber sei nie Kommunist, schon gar nicht Marxist, sondern nur immer an der Macht interessiert gewesen, erklärt Matos, er habe aber seinen Bruder Raul gewähren lassen.
Am 19. Oktober greift Huber Matos schließlich zur Feder. Er schreibt Fidel Castro einen Brief, für den er die Revolution war noch kein Jahr alt zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Er hat seine Strafe bis auf den letzten Tag abgesessen. Was aber stand im Brief? „Compañero Fidel“, schreibt Matos, „ich will der Revolution nicht zum Hindernis fallen und glaube, wenn ich zwischen Anpassung und Rückzug entscheiden muß, um nicht Schaden anzurichten, so ist es ehrenhaft und revolutionär, sich zurückzuziehen.“
Der „Held von Santiago“ bittet um seine Entlassung. Zu anderen Zeiten und in anderen Ländern im Konfliktfall ein gewöhnlicher Schritt, nicht aber in Kuba im Jahre eins. Matos ahnt es. „Ich will, daß Du verstehst, daß diese wohlüberlegte Entscheidung unwiderruflich ist“, schreibt er weiter, „deshalb bitte ich Dich, meinem Antrag stattzugeben und mir zu erlauben, als Zivilist in mein Haus zurückzukehren, ohne daß meine Kinder danach auf der Straße hören müssen, ihr Vater sei ein Deserteur oder ein Verräter.“ Das Schreiben schließt freundlich: „Ich wünsche Dir jeden erdenklichen Erfolg in Deinen revolutionären Bemühungen und verbleibe für immer Dein Compañero Huber Matos.“
Die Tinte ist kaum trocken, da trifft am 21. Oktober Camilo Cienfuegos in Camaguey ein. Er hat die delikate Aufgabe, Matos, mit dem er eng befreundet ist, zu verhaften. „Sie schickten Camilo, weil sie dachten, er würde von meinen Leuten in Camaguey erschossen“, glaubt Matos, „denn Raul Castro hatte immer einen großen Haß auf Camilo, der ja viel populärer war als er selbst. Camilo galt als Held. Das Volk mochte ihn sehr. Raul hingegen ist ein nachtragender, egoistischer Mensch. Er konnte Camilo nicht ausstehen. Er sah seine Rolle als zweiter Mann der Revolution gefährdet. Das war für ihn Grund genug, Camilo aus dem Weg zu räumen.“
Verschwörungstheorie eines enttäuschten Revolutionärs? Fest steht, daß umgekehrt schon am Morgen desselben Tages Matos im Rundfunk einer Verschwörung bezichtigt wird. Der Comandante, der bei seinen Soldaten und auch in der Bevölkerung von Camaguey sehr beliebt ist, wird als Verräter und Hundesohn bezeichnet. „Alles zielte darauf ab, unsere Soldaten, es waren etwa tausend, aufzuheizen, damit sie Camilo töten, wenn er mit seinen nur 20 Soldaten ankommen würde“, sagt Matos, „und mich wollte man danach des bewaffneten Aufstands und des Mords an Camilo bezichtigen.“ Ein Angebot seines ihm treu ergebenen Hauptmanns Miguelino Socarras, ihn in letzter Minute außer Landes zu fliegen, lehnt Matos ab. Er will kein Deserteur sein.
„Huber hätte sich übers Fernsehen ans Volk wenden können, er hätte die ganze Provinz einnehmen können, die Garnison war ihm absolut treu“, behauptet Carlos Franqui, ein Revolutionär der ersten Stunde, der damals die Zeitschrift „Revolución“ leitete und nach Italien ins Exil ging, als Castro 1968 den Einmarsch der Truppen des Warschauer Paktes in die Tschechoslowakei guthieß, „seine Offiziere wollten Widerstand leisten, er hatte die Soldaten hinter sich und auch die Mehrheit der Bevölkerung. Aber er war kein Konterrevolutionär. Er vertraute auf seine moralische Kraft. Huber wollte die Revolution nicht spalten. Er wollte sich zurückziehen, ohne großen Lärm zu machen.“
Huber Matos läßt Camilo Cienfuegos vom Chef seiner Eskorte am Flugplatz abholen. Die beiden Kommandanten besprechen die Situation. „Camilo hatte einen sehr unangenehmen Auftrag“, sagt Matos, „er rechtfertigte sich: ,Du weißt, wie ich denke, aber das ist nun mal mein Auftrag. Ich sagte: ,Mach dir keine Sorgen, du tust deine Pflicht. Er: ,Ich muß dich festnehmen , und er zeigte mir den Befehl.“ Cienfuegos schickt Fidel Castro einen Rapport: Matos sei sehr beliebt in der Provinz und außerdem von loyalen Truppen umgeben. Fast gleichzeitig erhält Castro eine Botschaft von Matos: „Ich habe meinen Männern Order erteilt, daß sie unter gar keinen Umständen von der Schußwaffe Gebrauch machen. Ich will nicht, daß auch nur ein einziger Tropfen kubanisches Blut fließt.“ Matos ist überzeugt, daß man ihm eine Falle gestellt hat. Castro habe den bewaffneten Konflikt gesucht, um ihn zu füsilieren.
Die Verhaftung eines der fünf obersten Kommandanten der Revolution löst in der Armee Unruhe aus. Vier Monate zuvor, im Juni, war Pedro Luis Diaz Lanz, der Luftwaffenchef, mit einem kleinen Boot in die USA geflüchtet und hatte in Washington vor dem Kongreß ausgesagt, Castro lasse die Infiltration seiner Armee durch Kommunisten zu. Im Juli hatte der kubanische Staatspräsident Manuel Urrutia im Fernsehen denselben Vorwurf erhoben. Der ehemalige Richter, der sich bei den Revolutionären einen guten Ruf erworben hatte, weil er einst den Sturm auf die Moncada-Kaserne als mit der Verfassung vereinbar bewertet hatte, war nicht viel mehr als eine politische Galionsfigur, mit der die Revolutionäre das liberale Lager einbinden wollten. Auf Urrutias Anwürfe hin trat Castro in einem überraschenden und spektakulären Akt von seinem Amt als Ministerpräsident zurück worauf mobilisierte Massen „spontan“ zum Präsidentenpalast marschierten. Urrutia, der in den Monaten vor der Querele viermal vergeblich den Rücktritt angeboten hatte, flüchtete als Milchmann verkleidet in eine Botschaft.
Zehn Tage später erklärte der neue Staatspräsident Osvaldo Dorticos, der der Kommunistischen Partei nahestand, auf einer Massenkundgebung unter dem tosenden Applaus einer vieltausendköpfigen Menge, Castro habe sich bereit erklärt, in sein Amt zurückzukehren. Der neue, alte Ministerpräsident hielt zur Feier der Entscheidung gleich eine vierstündige Rede ans Volk.
Und nun wollte sich Huber Matos zurückziehen wegen der Infiltration von Kommunisten in Staatsapparat und Armee. Fidel Castro ist wütend. Am Tag nach der Festnahme des populären Comandante kommt es zu einer dramatischen Sitzung des Ministerrats. Faustino Perez, der einst mit Castro in der „Granma“ saß und nun Minister für die Wiedererlangung veruntreuter Güter ist, Bauminister Manuel Ray und Postminister Enrique Oltuski, beide ebenfalls gestandene Revolutionäre, sowie der Finanzminister Rufo Lopez-Fresquet setzen sich offen für Matos ein und beteuern seine Unschuld. „Entweder bin ich ein Lügner oder Matos ein Verräter, wählt!“ schreit Fidel Castro, und sein Bruder Raul, eine Woche zuvor Verteidigungsminister geworden, verlangt die Füsilierung des ehemaligen Kampfgenossen. Che Guevara schwankt, spricht sich aber schließlich gegen die Todesstrafe aus. Und Franqui erinnert Castro an sein Versprechen, wonach diese Revolution nicht wie Saturn ihre eigenen Kinder fressen werde.
Castro beschließt schließlich, daß es besser sei, keine Märtyrer zu schaffen. Und so gibt er den Weg frei zum ersten großen Prozeß im revolutionären Kuba gegen einen Dissidenten aus den eigenen Reihen.
Bevor das Tribunal zusammentritt, ereignete sich aber noch etwas, das ganz Kuba erschüttert. Am 28. Oktober verschwindet Camilo Cienfuegos, den Castro ausgeschickt hatte, Matos zu verhaften. Der offiziellen Version zufolge ist er nachts mit einem Piloten und einem Soldaten in Camaguey gestartet und dann auf dem Flug nach Havanna abgestürzt. Die Suche nach dem Verunglückten beschäftigt über eine Woche lang ganz Kuba. Bauernbrigaden durchforsten das Gelände. Musiker und Schauspieler geloben feierlich, erst wieder aufzutreten, wenn der Comandante gefunden sei. Die „Revolución“, Organ der „Bewegung des 26. Juli“, kommt mit einer Sonderausgabe über die Suche nach dem Revolutionär heraus, die von „Doctor Fidel Castro“ höchstselbst geleitet werde. Fast die gesamte Armee wird aufgeboten, die ganze Insel abzusuchen. Doch wird von dem Kleinflugzeug der Marke Cessna nicht das geringste Teilchen entdeckt.
„Der Flug führte über das Tiefland“, sagt Matos, „man hätte das Wrack also finden müssen.“ Das offizielle Argument, die Maschine sei von ihrer Route abgekommen und über dem Meer abgestürzt, läßt der Ex-Comandante nicht gelten: „Hätte sich das Unglück über dem Meer ereignet, hätten einige Teile des leichtgebauten Flugzeugs auf dem Meer treiben müssen. Man hat nichts gefunden.“ Matos vermutet, man habe Cienfuegos abgeschossen und die Reste des Flugzeugs und die Leichen verschwinden lassen. Und er steht mit dieser These nicht allein. Doch hätte man dafür eine ganze Reihe von Männern gebraucht. Hätte aber in diesem Fall nicht wenigstens einer von ihnen in den letzten 40 Jahren ausgepackt?
Zwei Wochen nach dem Tod Camilos wird sein Stellvertreter, Hauptmann Cristino Naranjo, am Eingang einer Kaserne erschossen. Der Mörder, Manuel Beaton, ein Offizier der neuen Armee, wird einige Monate später wegen bewaffneter konterrevolutionärer Aktionen hingerichtet. Wurden unbequeme Zeugen ausgeschaltet?
„Beaton und Naranjo hatten eine private Fehde“, behauptet Leutnant Dionisio Suarez Esquivel, einer der über 20 festgenommenen und verurteilten Offiziere der Einheit von Matos. Er geht davon aus, daß die offizielle Version stimmt und Camilo Cienfuegos tödlich verunglückt ist. Jesus Yanes Pelletier hingegen, der als Offizier Batistas sich einst geweigert hatte, Castro im Gefängnis zu vergiften und im Oktober 1959 dessen erster Adjutant war (später wurde er des „Amerikanismus“ bezichtigt und mußte eine elfjährige Strafe absitzen), ist anderer Meinung. Er sei bei der letzten Unterredung zwischen Castro und Cienfuegos, bei der die beiden über den Fall Matos diskutierten, zugegen gewesen, behauptet er. „Camilo warf Fidel vor, er mißbrauche das Prestige der Revolution und der Revolutionäre, um eine persönliche Diktatur zu errichten. Fidel sagte kein Wort dazu, aber kurz danach ereignete sich das angebliche Unglück. Ich glaube, es gab kein Flugzeugunglück, und kein Flugzeug war im Spiel. Man ermordete Camilo auf der Erde und ließ seine Leiche im Meer verschwinden. Das ist meine Überzeugung.“
Auch Daniel Alarcon Ramirez alias „Benigno“, der in der Einheit von Camilo Cienfuegos gekämpft hat, mit ihm am 2. Januar in Havanna einmarschiert ist, später mit Che Guevara in Afrika und Bolivien kämpfte, Offizier der Staatssicherheit wurde und seit zwei Jahren in Frankreich im Exil lebt, glaubt, daß sein Comandante von den beiden Brüdern Castro gewaltsam ausgeschaltet wurde. Hauptmotiv für den angeblichen Mord: Camilo Cienfuegos, volksnah und immer gut gelaunt, sei mit seinem Image jugendlicher Frische bei den Kubanern sehr beliebt gewesen und, nachdem er die Hauptstadt eingenommen hatte, sogar populärer als Fidel Castro. Matos, Yanez Pelletier, Alarcon Ramirez, alle drei sprechen von Mord, alle drei haben sie einst Castro nahegestanden, alle drei haben sie zu unterschiedlichen Zeiten mit dem Regime gebrochen. Sind die Beschuldigungen Ausdruck von Haß und Enttäuschung? Aber hat Fidel nicht auch später jeden, der seiner Machtfülle eine Gefahr wurde, ausgeschaltet oder kleingekriegt?
Selbst Che Guevara verließ die Insel ja nicht so freiwillig, wie es die kubanische Geschichtsschreibung gerne darstellt, sondern erst nach einem Zerwürfnis zwischen ihm und Castro. Was Camilo Cienfuegos betrifft, bleibt vorerst alles im Bereich der Spekulation. Weder für ein Unglück noch für einen Mord gibt es Beweise. Vielleicht sind wir eines Tages nach der Öffnung der Archive klüger.
Am 11. Dezember wird der Prozeß gegen Huber Matos eröffnet. Die Mitglieder des Militärgerichts, sagt der Ex-Comandante, seien alle von Fidel Castro, dem Oberkommandierenden der Armee, bestimmt worden. Unter ihnen befand sich auch Victor Huerta, der Chef seiner Leibwache. „Am ersten Tag sprach ich drei Stunden lang, über die Gefahr des Kommunismus, über das proklamierte Ziel der Revolution, auf der Insel demokratische Verhältnisse durchzusetzen, und über die Bedeutung des Worts Verrat“, erinnert sich Matos, „und das Publikum applaudierte.“ Das Publikum, das waren etwa tausend Offiziere, die man aus dem ganzen Land herbeibeordert hatte. „Ich soll das Vaterland verraten haben, wo ich doch in den Bergen mein Leben riskiert habe, um es zu verteidigen? Wenn ich einem unabhängigen, souveränen Kuba im Wege stehe, soll man mich erschießen. Dann schenke ich mein Leben gern.“ So die Schlußworte des Angeklagten.
Fidel Castro, über den Verlauf des Prozesses, der sich zugunsten von Matos zu entwikkeln schien, höchst verärgert, tritt dann als Hauptzeuge der Anklage auf. Seine Rede wird, anders als die des Angeklagten, landesweit ausgestrahlt. Über sieben Stunden lang spricht Fidel, immer wieder von Zwischenrufen von Matos unterbrochen, dem er Verrat, konterrevolutionäre Umtriebe, Spionage und Sabotage an der Agrarreform vorwirft. Der ganze Prozeß ist eine juristische Farce. Die Anklage stützt sich auf anonyme Beschuldigungen, Gerüchte, abgehörte Telefonate und von der Staatssicherheit fabrizierte Beweise, die mit den konkreten Anschuldigungen nichts zu tun haben. So wird Matos schließlich wegen einer angeblichen Verschwörung, die ihm nie nachgewiesen wurde, zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Etwa zwei Dutzend mitangeklagte Offiziere seiner Einheit erhalten geringere Freiheitsstrafen.
Der Prozeß gegen Huber Matos markiert eine Zäsur. Er signalisiert den liberalen Kreisen, die die Revolution begrüßt hatten, daß sie nun nicht mehr gebraucht werden. Die zivilen, demokratischen und auch nationalistisch-revolutionären Kräfte werden zurückgedrängt, die militärischen und prosowjetischen Tendenzen erhalten Auftrieb. Die beiden Minister Faustino Perez und Manuel Ray, die sich hinter Matos gestellt und seine Unschuld beteuert hatten, werden durch dem Kommunismus nahestehende Männer aus dem Umkreis von Raul Castro ersetzt. Der Präsident der Nationalbank, Felipe Pazos, ein bekannter kubanischer Ökonom mit Vorliebe für die Marktwirtschaft, wird von Che Guevara abgelöst, der nach seiner Ernennung zunächst zweimal wöchentlich bei einem mexikanischen Wirtschaftsfachmann zum Unterricht in marxistischer Ökonomie geht. Waren in der Silvesternacht und den ersten Januartagen einige hohe Offiziere und Batistas engste Mitarbeiter geflohen, so packen nun viele Fachleute und höhere Beamte, die der Revolution mit Sympathie begegnet waren, ihre Koffer.
Die Revolution hatte ihre eigene Dynamik entwickelt. Die Revolutionäre des Jahres 1959 waren jung (selbst Castro zählte erst 32 Jahre), in Realpolitik unerfahren und mit immensen Hoffnungen konfrontiert. Interessenkonflikte, die allemal ausgebrochen wären, wurden frühzeitig militärisch oder zumindest autoritär gelöst. Die Demokratie, die die Revolutionäre auf ihre Fahnen geschrieben hatten, hatte keine Chance. An die 20 000 Tote hat der Diktator Fulgencio Batista auf dem Gewissen, wenn er denn je eines hatte.
Einige hundert „Konterrevolutionäre“ werden im Jahr eins des neuen Kuba füsiliert, die meisten von ihnen üble Schergen des gestürzten Folterregimes, einige aber werden für Aktionen militärischen Widerstands gegen das neue Regime hingerichtet, die weit harmloser waren als der Sturm auf die Moncada vom 26. Juli 1953, bei dem einige Soldaten getötet wurden und für den Castro zu 15 Jahren Haft verurteilt wurde. Der Chef der Rebellen kam damals schon nach weniger als zwei Jahren aufgrund einer Amnestie frei. Huber Matos hingegen, für einen Brief zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt, sitzt seine Strafe bis zum letzten Tag ab.
Ein Jahr nach dem Siegestaumel am Neujahrstag 1959, lange bevor die USA einen Wirtschaftsboykott gegen Kuba beschließen, sind wichtige Weichen für den künftigen Kurs gestellt. Von den drei Kommandanten, die unter dem Jubel von Hunderttausenden im Panzerwagen in Havanna eingezogen waren, schmort einer im Gefängnis, und der zweite ist tot.
Der dritte Fidel Castro, der nun schon 40 Jahre an der Macht ist hatte am Silvestertag 1958, wenige Stunden vor der Flucht des Diktators, geschrieben: „Mich persönlich interessiert die Macht nicht, und ich denke auch nicht daran, sie zu übernehmen.“

Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 02.01.1999