Der Palast des Briefträgers

Ferdinand Cheval war ein stiller Mensch. Jeden Tag sah man ihn zum Bahnhof gehen, wo er im Bistro seinen Kaffee zu sich nahm. Allein. Er liebte die Einsamkeit. Er war eben ein Eigenbrötler. Vielleicht war sein Beruf schuld daran. Täglich stapfte Cheval 32 Kilometer zu Fuß durch Wiesen und Wälder. Bei jedem Wetter. Denn er war Briefträger auf dem Land. Aber als er dann begann, am Abend Steine im Garten vor seinem Haus abzuladen, wunderten sich die Nachbarn schon. Und als der Steinhaufen immer größer wurde, dachten sie, jetzt sei der Mann wohl übergeschnappt.“Was wollen Sie denn damit anstellen?“, fragten sie ihn. „Ich will einen Palast bauen“, erwiderte er. Schon bald hieß es im Dorf, der Pöstler habe wohl einen Vogel.

Cheval erschien jeden Tag pünktlich in seiner Briefträgeruniform – blauer Kittel, graue Hose, grüne Schirmmütze – im Postamt von Hauterives, Departement Drôme, trat seine Tour an, händigte Briefe aus und leerte Briefkästen, jahraus, jahrein, bis er 1896 in Pension ging. Am Anfang brachte er die Steine, die er tagsüber gefunden hatte, im Taschentuch verknotet nach Hause, später schleppte er oft 30 bis 40 Kilo schwere Körbe an, und in den letzten Jahren seines Berufslebens pflegte er auf seiner Tour Steinhaufen anzulegen, die er dann nach Arbeitsschluss mit einer Schubkarre abholte. Oft verließ er sein Haus auch nachts um zwei Uhr noch, um – ausgerüstet mit einer Petroleumlampe – Steine zu suchen. Es waren nicht irgendwelche Steine, sondern Molassebrocken, wie man sie in den Tälern und Schluchten der Dauphiné, auf der linken Seite des Rhonetals, findet, bizarr verformtes, vom Wasser ausgewaschenes Gestein, Sediment aus dem Tertiär, einer Millionen Jahre zurückliegenden Epoche, als das Alpenvorland noch unter Wasser lag. Aber all das wusste der Briefträger damals nicht.
Das Leben eines Landbriefträgers war relativ eintönig. „Jeden Tag wanderte ich von Hauterives nach Tersanne, mal durch Schnee und Eis, mal durch eine blühende Landschaft, aber immerzu dieselben Wege“, schrieb Cheval im Alter von 75 Jahren in einem autobiografischen Aufsatz, „was soll man da anderes tun als träumen? Und genau das tat ich. Ich träumte. ,Von was? werden mich meine Leser fragen. Nun gut, um meine Gedanken zu zerstreuen, baute ich mir im Traum einen Märchenpalast, so großartig, wie ihn sich ein geniales, aber bescheidenes Gemüt eben vorstellen kann (mit Grotten, Türmen, Gärten, Schlössern, Museen und Skulpturen). Ich wollte alle alten Architekturen der primitiven Zeiten wieder zum Leben erwecken. Und alles war so hübsch, so malerisch, dass sich das Bild zehn Jahre lang in meinem Gehirn festsetzte. Trotzdem war ein solches Projekt für mich kaum zu verwirklichen. Vom Traum zur Wirklichkeit ist ein langer Weg. Ich hatte ja noch nie eine Maurerkelle angerührt, auch keinen Meißel, und nie eine Skizze von irgendetwas angefertigt. Ich verstand von Architektur absolut nichts (. ) Als mein Traum immer mehr in den Nebel des Vergessens eintauchte, wurde er durch einen Zwischenfall plötzlich wieder lebendig. Auf meinem Arbeitsweg stieß ich mit dem Fuß gegen einen Stein, und ich wäre beinahe hingefallen. Ich wollte nun meinen Stolperstein von nahe betrachten. Er hatte eine solch bizarre Form, dass ich ihn auflas und mitnahm. Am nächsten Tag kehrte ich an denselben Ort zurück und fand noch schönere Steine. “ Das war 1879, und von nun an kannte Cheval, inzwischen 43 Jahre alt, keine Ruhe mehr. Sein Leben veränderte sich vollständig. Er arbeitete wie ein Besessener. Tagsüber drehte er seine Runde als Briefträger. Am Abend arbeitete er an seinem Palast. Oft bei künstlichem Licht bis in den Morgen hinein. Er karrte Steine heran, mischte Mörtel, mauerte Stein an Stein, konstruierte ein Gerüst, formte Figuren, meißelte Inschriften, baute Korridore, Wendeltreppen, Terrassen und Türme. Alles ganz allein, ohne jegliche Mithilfe. Die finanziellen Ausgaben hielten sich in Grenzen. Außer Kalk und Zement kaufte er nichts.
Zunächst baute Cheval die „Grotte des Heiligen Amadeus“ und zu beiden Seiten einen Wasserfall. Das allein kostete ihn drei Jahre Arbeit. Dann setzte er ein Monument in ägyptischem Stil daneben, das er später „Tempel der Natur“ nannte und in dessen Gruft er sich einst „wie die Pharaonen“ beerdigen lassen wollte. Es folgten eine „Grotte der Heiligen Jungfrau Maria“, „Die vier Evangelisten“, der „Leidensweg der Engel“, ein Druidengrab, ein Hindutempel, eine Moschee, eine mittelalterliche Burg, ein Schweizer Chalet, gebaut aus Muscheln, die ihm sein Neffe aus Marseille gebracht hatte, mit vier Tannen aus Stein, die Statuen der „drei Riesen“ (Cäsar, Vercingetorix und Archimedes). Und mitten in diesem Durcheinander von Heiligtümern und profanen Monumenten gedeiht eine steinerne Vegetation von Palmen, Kakteen, Feigen- und Olivenbäumen.
Schlangen, Krokodile, Geparde, Ziegen, großohrige Hunde, Elefanten, Gänse, Adler und undefinierbare seltsame Vögel bevölkern bereits den Palast, als sein Architekt und Erbauer 1897 schreibt: „Seit 18 Jahren nun schon arbeite ich, und ich brauche noch zwei Jahre, bis das Innere und das Äußere alles fertig ist, und mein Traum wird 20 Jahre gedauert haben. “ Es sollten 33 Jahre werden. Der „Ideale Palast“, wie der Briefträger später sein uvre nennt, wird schließlich 26 Meter lang, 14 Meter breit und zehn Meter hoch.
1912 hat der Briefträger sein Bauwerk beendet. Doch setzt er sich nicht zur Ruhe, sondern geht schon bald sein nächstes Projekt an. Da ihm der Bürgermeister verboten hat, sich im „Idealen Palast“ beerdigen zu lassen, beginnt er 1914, im Alter von 78 Jahren, in einer Ecke des Dorffriedhofs seine eigene letzte Ruhestätte zu bauen. Das „Grab des Schweigens und der ewigen Ruhe“, wie es auf einer Inschrift heißt, ist im gleichen bizarren Stil wie der Palast, in den gleichen delirierenden Formen gebaut und kostet ihn weitere acht Jahre Arbeit. 1922 ist es fertig gestellt. Zwei Jahre später stirbt Ferdinand Cheval im Alter von 88 Jahren.
Der Tod ist ein ständig wiederkehrendes Motiv in Chevals Lebenswerk. Im Palast gibt es das ägyptische Grab, das alte römische Grab, das Druidengrab, den Sarazenensarg, und auf der Spitze seines Grabmals auf dem Friedhof steht der Tod mit der Sichel. Chevals beide Eltern sind gestorben, bevor er selbst 20 Jahre alt war. Sein erster Sohn wurde kaum ein Jahr alt. Seine erste Frau verschied, noch bevor er den Grundstein zu seinem Palast legte. Seine Tochter starb im Alter von 15 Jahre an einer Mengitis. Der Tod war ein ständiger Lebensgefährte des Briefträgers, und man kann Chevals ungebändigten Schaffensdrang durchaus als Versuch interpretieren, ihn zu bannen. Auch das obsessiv verfolgte Ziel, sich selbst zu verewigen, steht im Zeichen des Kampfes gegen den Tod. Jeder Mensch möchte wohl der Nachwelt etwas hinterlassen, was von seinem Leben Zeugnis abgibt, seien es auch nur Kinder. Bei Cheval wird dieser Wunsch geradezu zur Besessenheit, wie aus den überaus zahlreichen Inschriften, die er in seinen Palast gemeißelt hat, deutlich wird. Neben etwas banalen Sentenzen wie „Der Schwache wie der Starke sind vor dem Tode gleich“ oder „Das Leben ist ein stürmischer Ozean zwischen dem Kind, das gerade auf die Welt gekommen ist, und dem Greis, der verschwinden wird“, findet man viele Elogen auf den Briefträger, geschrieben von Freunden. „In die Realität hast du die Magie eingraviert“, dichtet der „alpine Barde“ E. Roux, „du hast gezeigt, wie man stark sein kann. Die Jahrhunderte werden diesen Tempel des Lebens segnen, und dein Siegeswille wird dem Tod zu trotzen wissen. “ Mit vielen Inschriften preist sich Cheval in aller Bescheidenheit selbst: „Dies ist die Arbeit eines einzigen Menschen“, heißt es stolz gleich zweimal. Aber auch Anwandlungen von Megalomanie sind unübersehbar: „Indem ich diesen Felsen geschaffen habe, wollte ich beweisen, was der Wille erreichen kann“.
Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts, als der „Ideale Palast“ noch nicht fertig gebaut war, kamen täglich Besucher nach Hauterives, um das seltsame Bauwerk zu besichtigen. Journalisten aus Paris, ja sogar aus London und aus Amerika reisten an, um den Briefträger zu interviewen. Bereits 1902 ließ ein junger Fotograf aus der Gegend Postkarten mit Bildern des Palastes drucken, um sie den „Touristen“ zu verkaufen, bis Cheval die exklusiven Rechte auf Kommerzialisierung seines Lebenswerkes juristisch durchsetzte. Auf den Ansichtskarten, die er nun selbst in Umlauf brachte, posiert er mit seinem Hund vor dem Palast, in seiner alten Briefträgeruniform, daneben sein Sohn und oben auf der Terrasse seine zweite Frau. „Die zahlreichen Besucher, die jedes Jahr kommen, um mein Meisterwerk zu bewundern“, notiert Cheval 1911, „sind entzückt und hell begeistert. Das ist ein großer Dank für all meine Mühe und all meine Arbeit, die ich geleistet habe, um dieses achte Wunder der Dauphiné, ja Frankreichs oder gar der ganzen Welt, wie man sagt, zu errichten. “ Ferdinand Cheval hat nie Kunst studiert und von Architektur verstand er, wie er selbst immer wieder betonte, überhaupt nichts. Seine Vorstellungen über andere Kulturen und seine rudimentären Kenntnisse über Geschichte, wie sie mannigfach in den bizarren Bau eingeflossen sind, bezog er wohl vorwiegend aus Illustrierten, mit Künstlern seiner Zeit stand er nicht in Verbindung, und die hätten wohl angesichts des wunderlichen Palastes gelächelt oder die Nase gerümpft, jedenfalls Cheval nicht zu ihresgleichen gezählt.
Als Erste erkannten die Surrealisten um André Breton den künstlerischen Wert eines Werkes, dessen Architekt sich um alle Regeln der Kunst foutierte. Auch Max Ernst, der mehrere Jahre seines Exils in der nahen Ardèche verbrachte, schaute sich den Palast an und verewigte dessen damals bereits gestorbenen Erbauer in einem Bild. Picasso pilgerte mehrere Male nach Hauterives, und auch Jean Tinguely war voll des Lobs für den Briefträger.
Nicht so die Pariser Kulturbürokraten. Als es erste Diskussionen darüber gab, ob der aus brüchigem Material und auf lockerem Terrain gebaute Palast mit staatlichen Geldern restauriert und erhalten werden sollte, beschieden sie 1964 in einem Rapport: „Das Ganze ist absolut scheußlich, ein erbärmlicher Haufen von Unsinn, der sich im Hirn eines Bauernlümmels zusammenbraute. “ Fünf Jahre später kam ein gegenteiliges Urteil aus berufenerem Munde. Der Schriftsteller und Kulturminister André Malraux stufte den Palast als historisches Monument ein. „In einer Zeit, in der die Naive Kunst eine beträchtliche Bedeutung bekommen hat“, begründete er den Schritt, „wäre es kindisch, die einzige Naive Architektur der Welt nicht als schützenswertes Gut zu klassifizieren und abzuwarten, bis sie zerfällt. “ Täglich kommen nun Touristen nach Hauterives, um den Traum, der zu Stein geworden ist, zu bestaunen, den Palast, den ein Mensch ganz allein in 33 Jahren gebaut hat. Und auf dem Platz des Dorfes, wo vor 120 Jahren die Leute mit Spott und Häme nicht gespart haben, steht heute eine Büste des Briefträgers Ferdinand Cheval.
Tagsüber drehte er seine Runde als Briefträger. Am Abend arbeitete er an seinem Palast. Oft bei künstlichem Licht bis in den Morgen hinein.

Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 28.06.2003