Der Wirt, der zum Märtyrer wurde

Die Tiroler sind schön, heiter, ehrlich, brav und von unergründlicher Geistesbeschränktheit“, spottete Heinrich Heine 20 Jahre nach den Ereignissen von 1809, „von der Politik wissen sie nichts, als dass sie einen Kaiser haben, der einen weißen Rock und rote Hosen trägt; das hat ihnen der alte Ohm erzählt, der es selbst in Innsbruck gehört von dem schwarzen Sepperl, der in Wien gewesen.“ Ludwig Thoma hingegen war von den Tirolern tief beeindruckt: „Ich habe 30.000 Bauern defilieren sehen. 30.000 deutsche Bauern, und jeder einzelne war mehr Germane als sämtliche deutsche Oberlehrer zusammen (…) 30.000 kriegerische Germanenbauern; in Gletschereis konservierte Goten.“ Der bayerische Dichter hatte 1909 die Feiern zum hundertjährigen Jubiläum des von Andreas Hofer geführten Tiroler Freiheitskampfs miterlebt. An diesem Sonntag, dem 20. September, werden nun 200 Jahre nach dem Aufstand des Bergvolkes 25.000 Mitglieder von Schützenkompanien, Trachtenvereinen und Musikkapellen aus dem österreichischen Tirol, dem italienischen Südtirol und auch dem italienischen Trentino, dem alten Welschtirol, durch Innsbruck marschieren. Die Tiroler Hauptstadt erwartet zum Spektakel an die 100.000 Besucher.

„Geschichte trifft Zukunft“ heißt das Motto der Feierlichkeiten. Man will nicht nur nach hinten, sondern auch nach vorne schauen. Und im Ferdinandeum, dem Tiroler Landesmuseum, wird eine Ausstellung gezeigt, die sich durchaus auch kritisch mit Hofer auseinander setzt.

Trotzdem: Innsbruck schwelgt im Hofer-Jahr. Neben der Hofkirche mit ihrem in Marmor gemeißelten Grabdenkmal Hofers wird Hofer-Bier verkauft. Auch gibt es Hofer-T-Shirts, Hofer-Comics und Kinderbücher über das Leben des Helden. Der bärtige Mann mit Hosenträger und Gewehr wird gnadenlos vermarktet. Von seriösen Historikern wurde Andreas Hofer längst vom Kopf auf die Füße gestellt. Doch der Hofer-Mythos wirkt weiter, weil er sich weniger von den Ereignissen selbst als von der Inszenierung der Erinnerung an sie nährt.

Bayern, Österreich, Frankreich

Die Ereignisse: Nach der „Drei-Kaiser-Schlacht“ von Austerlitz musste Österreich im Frieden von Pressburg (1805) Tirol an das mit Napoleon verbündete Bayern abtreten. Dessen König Max I. Joseph versuchte, ganz im napoleonischen Sinn, auch in Tirol eine Verwaltungsreform durchzusetzen und die Kirche der staatlichen Ordnung zu unterwerfen. Prozessionen und Wallfahrten wurden unter Strafe gestellt, religiöse Bräuche wie das Wetterläuten verboten, kirchliche Feiertage abgeschafft. Wie anderswo in Bayern auch, wurden historisch gewachsene regionale Einheiten zerschlagen. Tirol verschwand von der Landkarte, es entstanden drei nach den Flüssen Inn, Eisack und Etsch benannte Kreise. Als dann noch Tiroler zum bayerischen Militärdienst eingezogen wurden, kochte die Volkswut über. Seit Maximilians „Landlibell“ von 1511 waren die Tiroler nur zur Verteidigung ihrer Region verpflichtet und ansonsten vom Militärdienst befreit.

Der Aufstand der Tiroler Bauern wurde vor allem von Wirten organisiert. Das Wirtshaus war – neben der Kirche – sozialer Mittelpunkt im ländlichen Raum. Hier wurden Geschäfte getätigt, Informationen ausgetauscht, Entscheidungen getroffen. Die Wirte hatten eine herausragende soziale Stellung auf dem Land, und viele der Kommandanten der Bauerntruppen waren denn auch Wirte. Auch Andreas Hofer. Er war Besitzer des Sandhofs bei St. Leonhard im Passeiertal im heutigen Südtirol. Der Sandwirt hatte auch als Pferde- und Viehhändler ein weites Kontaktnetz. Während die ländliche Bevölkerung kaisertreu war und für den Wiederanschluss Tirols an Österreich kämpfte, hatten sich die Bewohner der Städte, die in Tirol allerdings höchstens ein Zehntel der Gesamtbevölkerung ausmachten, mit der Herrschaft der Bayern und ihren Reformen weitgehend arrangiert. Als die bewaffneten Bauernscharen dann in Innsbruck einfielen, wurden sie recht reserviert aufgenommen, zumal es schon bald zu zahlreichen Plünderungen kam. Opfer waren vor allem Juden, denen man vorwarf, sich bei der öffentlichen Versteigerung das Kirchensilber gekauft zu haben.

Etwa zehn Wochen regierte der bei den Bauern überaus populäre „Oberkommandant“ Andreas Hofer in der Innsbrucker Hofburg. Er hatte so gut wie keine Bildung genossen, von Staatsgeschäften keine Ahnung und verstand sich nur als „Treuhänder des Kaisers“, bis dieser wieder eine ordentliche Verwaltung einsetzen würde. Doch Franz I. ließ ihm zwar aus Wien eine Ehrenkette zukommen und auch Geld, trat aber schon Mitte Oktober 1809 im Frieden von Schönbrunn Tirol erneut an Bayern ab, nachdem Napoleons Truppen bereits Welschtirol (heute Trentino) besetzt hatten. Während seiner kurzen Herrschaft steuerte Hofer einen strikt konservativen Kurs. Er ließ liberal gesinnte Universitätsprofessoren verhaften und beschwerte sich in einem Sittenmandat, „dass die Frauenzimmer von allerhand Gattungen ihre Brust und Armfleisch zu wenig, oder mit durchsichtigen Hudern bedecken, und also zu sündhaften Reizungen Anlass geben“. Hofer war – wie viele seiner Zeitgenossen im bäuerlichen Milieu – ein katholischer Fundamentalist mit antisemitischen Anwandlungen.

Nach der Rückeroberung Tirols durch Bayern und Napoleon wurde Andreas Hofer, der sich auf eine Alm geflüchtet hatte, schon bald aber verraten wurde, nach Mantua gebracht und dort – auf expliziten Befehl Napoleons – im Februar 1810 füsiliert. Aus der Erschießung des Bauernführers wurde schon früh eine Legende gestrickt: Der tapfere Hofer habe den Soldaten des französischen Hinrichtungskommandos selbst den Befehl zum Feuer erteilt und sich danach noch darüber mokiert, wie schlecht sie schießen würden. So steht es auch im 1831 von Julius Mosen verfassten Gedicht „Zu Mantua in Banden“, das wenige Jahre danach vertont und 1948 schließlich offiziell zur Tiroler Landeshymne erklärt wurde.

1823 wurden Hofers Gebeine in Mantua heimlich ausgegraben und nach Innsbruck gebracht. Dann wurde es ziemlich still um den Sandwirt. Allenfalls einige Napoleon-feindliche, vornehmlich deutsche und englische Literaten verklärten die Freiheitsliebe des Tirolers. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Hofer zum österreichischen Nationalhelden, der für unbedingte Kaisertreue stand. Mit der von Ludwig Thoma erlebten Jahrhundertfeier fand der Hofer-Kult seinen vorläufigen Höhepunkt.

Bald aber sollte sich zeigen, dass der Sandwirt aus Südtirol vielseitig verwendbar war. In seiner berühmten Innsbrucker Rede, in der der österreichische Bundeskanzler Kurt Schuschnigg, ein Tiroler, drei Tage vor dem „Anschluss“ eine Volksabstimmung über die Unabhängigkeit Österreichs ankündigte, verglich er das Schicksal Hofers mit jenem seines 1934 von Nazis ermordeten Vorgängers Engelbert Dollfuss. In der Propaganda des Dritten Reichs hingegen ging mit der „Heimholung Österreichs ins Reich aller Deutschen“ schließlich „die größte Sehnsucht Andreas Hofers“ in Erfüllung. Die Nationalsozialisten stilisierten den „Sandwirt“ zum Grenzwächter im Süden, auch wenn sie dessen Heimat, das deutschsprachige Südtirol, dann Mussolini überließen.

Ein Abkommen zwischen dem Führer und dem Duce stellte die Südtiroler allerdings 1939 vor die Wahl, ins Deutsche Reich auszuwandern oder sich in einem italianisierten Südtirol zu assimilieren. 85 Prozent optierten für die Auswanderung, auch wenn dann nur ein Drittel von ihnen tatsächlich aussiedelte. Damals gründete sich der Andreas-Hofer-Bund, eine Gruppe von Südtirolern, die zwar bleiben, aber ihre Sprache und Kultur nicht aufgeben wollten. Die Widerstandsorganisation wurde nach dem Einmarsch der Deutschen Wehrmacht in Südtirol faktisch zerschlagen. Aus ihren Resten ging zum Teil die Südtiroler Volkspartei, heute stärkste Kraft der Region, hervor, die nach dem Krieg den Anschluss an Österreich forderte. Vergeblich. 1946 schlossen Wien und Rom ein Abkommen, das Südtirol Autonomie versprach, es aber tatsächlich mit dem Trentino zu einer Doppelregion vereinte, in der die Italiener in der Mehrheit waren.

Auch deshalb sorgte Hofer noch einmal für Schlagzeilen. In den 1960er-Jahren forderte ein „Befreiungsausschuss Südtirol“ die Wiederangliederung der deutschsprachigen Region an Österreich. 1961 sprengte die Untergrundgruppe 37 Strommasten, in den Folgejahren starben 14 Menschen – fast alle Polizisten, Carabinieri oder Soldaten – bei terroristischen Anschlägen. Bis heute ist ungeklärt, ob diese alle vom „Befreiungsausschuss“ verübt wurden.Vermutlich waren italienische Geheimdienstkreise in den Terror verstrickt. Gegner einer Vereinigung von Tirol sprengten ihrerseits das Andreas-Hofer-Denkmal in Innsbruck und auch das Denkmal in Mantua, wo der Tiroler Freiheitsheld hingerichtet worden war. Erst 1992 wurde der Streit um Südtirol zwischen Österreich und Italien vor der UNO beigelegt.

Als der FPÖ-Politiker Martin Graf jüngst forderte, die Südtiroler abstimmen zu lassen, ob sie zurück nach Österreich oder bei Italien bleiben wollten, war es nur noch eine billige Provokation. Auch der Südtiroler Landeshauptmann Luis Durnwalder winkte ab. Südtirol ist heute die reichste Region Italiens. Die Wiedervereinigung mit dem Norden will nur noch eine kleine Minderheit.

Für die Feierlichkeiten 175 Jahre nach dem Tiroler Aufstand finanzierten Tiroler Industrielle eine riesige gusseiserne Dornenkrone, die an das Martyrium Andreas Hofers erinnern und die Zerrissenheit von Tirol, seine Aufspaltung auf zwei Staaten, symbolisieren sollte und die damals durch die Innsbrucker Gassen getragen wurde. 1997 sprachen sich sowohl der Innsbrucker Bürgermeister wie auch der Tiroler Landeshauptmann dafür aus, sie für immer vor der Hofburg aufzustellen. Doch es regte sich Protest. Heute liegt die Dornenkrone auf dem Privatgrundstück von Arthur Thöni in Telfs, zwanzig Kilometer westlich von Innsbruck. Der Industrielle weigert sich standhaft, sie für den Umzug an diesem Wochenende zur Zweihundertjahrfeier des von Andreas Hofer geführten Tiroler Freiheitskampfs herauszurücken.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 19.09.2009