„ETA kanpora!“ – „‚ETA raus!“

Am 31. Juli 1959 beschloss eine Gruppe junger Männer aus dem Umfeld der Baskischen Nationalpartei (PNV), vornehmlich Studenten der Jesuitenuniversität von Bilbao, die Gründung einer neuen Organisation: „Euskadi ta Askatasuna“ („Baskenland und Freiheit“), kurz ETA. Das Datum war wohl nicht zufällig gewählt. An einem 31. Juli (1895) hatte Sabino Arana, Leitfigur der nationalen Erweckungsbewegung, die PNV gegründet. An einem 31. Juli (1556) auch war der im Baskenland geborene Ignatius von Loyola, Gründer des militärisch verfassten Jesuitenordens, gestorben.

Es war gewissermaßen ein Generationenkonflikt. Die alte Garde des baskischen Nationalismus schien sich mit der Diktatur Francos abgefunden zu haben. Die jungen Dissidenten hörten die Signale aus dem Ausland: in Irland hatte die IRA zwei Jahre zuvor eine Bombenkampagne gegen die Teilung der Insel gestartet, in Indochina kämpfte der Vietcong gegen ein Regime von amerikanischen Gnaden, in Algerien zeichnete sich bereits ein Sieg der FLN-Partisanen ab. Der Mythos, dass Euskadi, das Baskenland, von Spanien (und Frankreich) besetztes Land sei, wurde schon von Sabino Arana belebt, die Gründer der ETA übernahmen ihn umstandslos, und ihre heutigen Anhänger pflegen ihn weiter.

In zweierlei Hinsicht aber brach die ETA mit dem überkommenen baskischen Nationalismus. Obwohl die Organisation im niederen Klerus schon bald auf breite Sympathie stieß und ihr einige Priester beitraten, lehnte sie jede Vermischung von Religion und Politik strikt ab. Und während für Sabino Arana („der Baske ist nicht fürs Dienen geschaffen, er ist geboren, um Herr zu sein; der Spanier ist nur geboren, um Vasall und Diener zu sein“) das Baskentum eine Frage der Rasse war, ist es für die ETA eine Frage der Sprache. Baskisch ist, wer „euskera“ (baskisch) spricht. Allerdings wirken die Religion im Märtyrerkult der ETA und der Rassismus in ihrer Vorstellung von ethnischer Reinheit unterschwellig durchaus weiter.

Zunächst trat die neue Organisation mit an sich harmlosen Aktionen an die Öffentlichkeit, wie etwa mit dem Hissen der „Ikurriña“, der baskischen Flagge, oder mit dem Verteilen von Flugblättern, was aber unter der Franco-Diktatur durchaus gefährlich war. Eine erste militantere Aktion scheiterte: 1961 versuchte ein ETA-Kommando einen Zug zum Entgleisen zu bringen, in dem franquistische Parteigänger nach San Sebastián fuhren, um dort den Jahrestag des Militärputschs von 1936 zu feiern. Als Folge kam es zu massenhaften Festnahmen, und die meisten Führer der noch jungen Organisation setzten sich ins Ausland ab.

Auf ihrem ersten Kongress, den sie 1962 in einem Benediktinerkloster in Südfrankreich abhielt, sparte die ETA die Frage der Gewalt noch aus, doch schon bald radikalisierte sie sich. Auf ihrem dritten Kongress 1964 erhob sie den „revolutionären Krieg“ für die nationale und soziale Befreiung zum Programm, und auf dem vierten Kongress, der nun im spanischen Baskenland, in einer Institution der Jesuiten, stattfand, verstieg sie sich zur Behauptung, „dass die Diktatur des General Franco für unser Volk unendlich viel positiver ist als eine bürgerlich-demokratische Republik ist“. Die von der Diktatur erzeugten Spannungen würden es nämlich erlauben, „das Volk in den Kampf zu werfen“. Auf dem fünften Kongress (1966/67) hatte es die ETA dann vor allem mit Spannungen innerhalb der eigenen Organisation zu tun. Die Teilnehmer mussten aus Sicherheitsgründen ihre Pistolen am Eingang abgeben. Eine Spaltung aber konnte nicht verhindert werden. José Luís Álvarez Emparanza alias „Txillardegi“, einer der ETA-Gründer, verließ mit seinen Getreuen die Organisation, der er eine zunehmende Militarisierung vorwarf.

1968 überschritt die ETA den Rubikon. Als Txabi Etxebarrieta, gewissermaßen Chefideologe der Organisation, bei einer Geschwindigkeitskontrolle angehalten wurde, erschoss er den Polizisten José Pardines und wurde schon Stunden später selbst erschossen. Mochte die ETA beim Tod Pardines‘ noch von Notwehr sprechen, ging es zwei Monate später, am 2. August 1968, schon um Mord – oder um „Hinrichtung“ in der Sprache der Täter. Opfer war der Chef der Geheimpolizei von San Sebastián, Melitón Manzanas, weithin verhasst, weil unter seiner Verantwortung zahlreiche Häftlinge gefoltert worden waren. Es war also ein ziemlich populärer Mord. Und als sechs ETA-Mitglieder 1970 dafür zum Tod verurteilt wurden, gingen weltweit Millionen von Menschen auf die Straße, sodass sich Franco gezwungen sah, das Urteil in eine lebenslängliche Freiheitsstrafe umzuwandeln. Drei Jahre später tötete ein ETA-Kommando Carrero Blanco, den Ministerpräsidenten und designierten Nachfolger des Diktators. In Spanien machte sich klammheimliche Freude breit.

Während zu Beginn der 70er Jahre die Sympathiewerte der ETA ihren Zenith erreichten, war die Organisation zerrissen – zwischen Anhängern der alten nationalrevolutionären Linie und einer Fraktion, die sich zunehmend marxistisch orientierte, 1971 abspaltete und bald darauf auflöste. 1974 spaltete sich die Organisation erneut – in eine „militärische“ und eine „politisch-militärische“ ETA. Die moderateren „poli-milis“ traten nach einigen Jahren den Rückzug in die zivile Gesellschaft an, die „milis“ hingegen setzten die alte Tradition fort. Für sie machte es keinen grundsätzlichen Unterschied, ob in Madrid ein Diktator oder gewählter Präsident regierte. Denn bei aller linken Rhetorik vom Kampf gegen den Kapitalismus war der Kampf gegen Spanien als „Besatzungsmacht“ letztlich wichtiger. Die nationale Frage war gegenüber der sozialen immer vorrangig.

Während der Diktatur des General Franco, der im November 1975 friedlich in seinem Bett verstarb, in den ersten 16 Jahren ihrer Existenz also, brachte die ETA genau 16 Menschen um, durchschnittlich einen pro Jahr. In den folgenden 27 Jahren fielen hingegen über 830 Personen der ETA zum Opfer, jährlich mehr als 30 im Durchschnitt. Ein Höhepunkt wurde mit genau hundert Toten 1980 erreicht. Ins Visier der Terroristen gerieten nun längst nicht mehr nur Angehörige von Armee, Polizei und der Guardia Civil, in deren Kasernen und Kommissariaten auch Jahre nach dem Tod des Diktators immer wieder politische Häftlinge gefoltert wurden, sondern zunehmend auch Politiker und Unternehmer, die sich der Erpressung von „Revolutionssteuern“ verweigerten. Selbst vor „Hinrichtungen“ in den eigenen Reihen schreckte die ETA nicht zurück. So beschloss ihre Führung 1986 die Ermordung von Dolores González Katarain. Sie war die erste Frau, die in der ETA in eine leitende Position aufgestiegen war.  Nachdem sie sich vom bewaffneten Kampf zurückgezogen hatte, lebte sie sechs Jahre im mexikanischen Exil, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte, wo sie am helllichten Tag vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes erschossen wurde.

Zur Bekämpfung des Terrors setzte die spanische Regierung schließlich Todesschwadronen ein. Sehr vieles spricht dafür, dass die Antiterror-Kommandos der GAL vom sozialistischen Innenminister José Barrionuevo, womöglich mit Wissen des damaligen Ministerpräsidenten Felipe González, aufgebaut wurden. Sie ermordeten zwischen 1983 und 1988 insgesamt 27 tatsächliche oder vermeintliche Mitglieder der ETA – zum Teil im baskischen Süden Frankreichs, dem traditionellen Rückzugsgebiet der Organisation, wo zahlreiche von der spanischen Regierung gesuchte Terroristen, von den französischen Behörden unbehelligt, neue Attentate vorbereiteten.

Drei Faktoren führten zu einer anhaltenden Schwächung der ETA, von der sie sich wohl nicht mehr erholen wird. Erstens rückte der sozialistische Präsident François Mitterrand von der traditionellen Politik der Tolerierung ab. Zwischen 1984 und 1989 wurden 63 ETA-Mitglieder deportiert – vor allem in lateinamerikanische Staaten; 1992 schließlich wurde die dreiköpfige oberste Führung der ETA im Süden Frankreichs verhaftet. Zweitens beschlossen mit Ausnahme der ETA-nahen Herri Batasuna 1988 alle nationalistischen und nicht-nationalistischen Parteien des Baskenlandes einen „Pakt für die Befriedung und Normalisierung Euskadis“. Drittens, und langfristig am Wichtigsten, begann sich Widerstand in der Zivilgesellschaft zu regen, je mehr sich der Terror auch gegen Politiker, kritische Intellektuelle und Journalisten, schließlich sogar immer öfter gegen völlig unbeteiligte Zivilisten richtete.

So kam es zu breiten Protesten, als 1987 vor einem Supermarkt in Barcelona eine ETA-Bombe 21Menschen in den Tod riss. 1993 wurde der Unternehmer Julio Iglesias, Vater des populären Sängers Pablo Iglesias, entführt, um die „Revolutionssteuer“ zu erpressen – die Arbeiter seiner Firma gingen für ihren Boss umgehend auf die Straße. Und als die ETA 1997 den konservativen Lokalpolitiker Miguel Angel Blanco kidnappte und ihn nach einem Ultimatum von 48 Stunden ermordete, protestierten in ganz Spanien Millionen. Seit diesem äußerst kaltblütig ausgeführten Verbrechen hat ein beachtlicher Teil der baskischen Gesellschaft die Angst vor der ETA, die mit schlicht mafiosen Methoden Geld erpresst und ihre Kritiker gezielt einschüchtert, verloren und macht ihr und ihren Sympathisanten den öffentlichen Raum streitig.

Angesichts ihrer zunehmenden gesellschaftlichen Ächtung und politischen Isolierung suchte die ETA das Bündnis mit den moderaten nationalistischen Kräften der PNV. Im Herbst 1998 schloss diese mit „Euskal Herritarrok“ (wie sich nach der Verhaftung ihrer gesamten Führung die „Herri Batasuna“, der politische Arm der ETA, zwischenzeitlich nannte, bevor sie den Namen „Batasuna“ annahm) den „Pakt von Lizarra“, in dem sich sämtliche nationalistischen Kräfte für Verhandlungen aussprachen, um „das Problem der Gewalt“ zu beenden. Als Bedingung für den Dialog verlangte das Bündnis allerdings, dass Spanien dem Baskenland das Recht auf Selbstbestimmung zubillige. Die ETA rief gleichzeitig einen unbefristeten einseitigen Waffenstillstand aus. 1999 kam es schließlich – wie schon zehn Jahre zuvor in Algerien – zu einem Treffen zwischen Vertretern der ETA und der spanischen Regierung, diesmal in der Schweiz. Ohne Ergebnisse.

Im Dezember 1999 kündigte die ETA den Waffenstillstand auf. Im Januar 2000 starb Pedro Antonio Blanco, Oberstleutnant der Armee, als in Madrid ein mit Sprengstoff gefülltes Auto explodierte. Die ETA hatte nach fast anderthalbjähriger Pause ihr mörderisches Handwerk wieder aufgenommen. 44 Todesopfer hat ihr Terror seither gefordert. Doch ist die Organisation heute isolierter denn je in ihrer 43jährigen Geschichte. Und zum 22. Dezember hat nun der „lehendakari“, der Präsident des Baskenlandes, Juan José Ibarretxe, ein gemäßigter Nationalist, die Basken zu einer Massendemonstration in Bilbao aufgerufen – zum erstenmal ausschließlich unter der Losung: „ETA kanpora“ – „ETA raus“.

Thomas Schmid, 06.12.2002 (publiziert in „Macetas“)

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