Steile Klippen stürzen ins tiefblaue Meer. Nur da, wo sich Flüsse durch die Felsen zur Küste gefressen haben, sind kleine Buchten entstanden, in denen verwegene Menschen Siedlungen gründeten: Cetara, Maiori, Minori, Conca dei Marini, Positano und vor allem Amalfi.
Der Dichter Renato Fucini, der vor mehr als 100 Jahren aus der Toskana an die Küste südlich von Neapel reiste, war von der Schönheit des Ortes überwältigt. „Der Tag des Jüngsten Gerichts“, schrieb er begeistert, „wird für die Amalfitaner, die ins Paradies kommen, ein Tag wie jeder andere sein.“ Diese Liebeserklärung steht auf einer Gedenktafel bei der Porta della Marina, dem großen Tor, durch das man von der See her in die Stadt gelangt. Gabriele D’Annunzio, dem Dichter, der sonst für schöne Frauen und schöne Landschaften schwülstigste Formulierungen fand, verschlug es ob des Zaubers die Sprache. „Oh, mare, mare, mare, mare!“, stammelte er ins Gästebuch des Convento dei Cappuccini. Wer im Kapuzinerkloster nächtigt, das hoch über dem Ort thront und schon im vergangenen Jahrhundert in ein Hotel umgewandelt wurde, dem liegt in der Tat die ganze Küste bis hinunter nach Salerno zu Füßen – und Meer, so weit man eben sieht.
Auch die alten Römer wussten vom Paradies dieses Küstenstreifens. In der frühen Kaiserzeit bauten sich einige hohe Beamte des Hofes hier ihre Villen. Doch wurden diese nach dem desaströsen Ausbruch des Vesuvs im Jahr 79, der das nahe Pompeji auslöschte, unter einer Schlammlawine begraben. Amalfi selbst ist eine Gründung von Flüchtlingen. So will es jedenfalls die Legende. Nach dem Zerfall ihres Reiches flohen viele Römer vor den anrückenden germanischen Horden nach Konstantinopel, in die Hauptstadt des Oströmischen Reiches. Einige von ihnen sollen nach einer Odyssee rund um den italienischen Stiefel hier an dieser wilden Küste gelandet sein und die Stadt gegründet haben. Vielleicht nahmen auch sie die Schönheit des Ortes wahr. Wichtiger aber war ihnen gewiss der Schutz vor den Barbaren (so werden noch heute die germanischen Stämme in den italienischen Schulbüchern bezeichnet), den die damals nur vom Meer her zugängliche Bucht bot.
Seine erste urkundliche Erwähnung von 596 verdankt Amalfi dem Ärger eines Papstes. Die Stadt war damals die südlichste einer beachtlichen Anzahl von Festungen des zum Byzantinischen Kaiserreich gehörenden Herzogtums Neapel und deshalb den Angriffen der Langobarden aus dem nahen Fürstentum Benevent besonders ausgesetzt. In diesen Festungen waren zwar Soldaten stationiert, aber die örtliche Bevölkerung wurde in die Verteidigung mit einbezogen. Auch der Bischof war gehalten, in der Festung zu leben.
Doch der hatte sich aus dem Staub gemacht. Papst Gregor der Große, der mit Byzanz im Bund stand, fürchtete, das schlechte Beispiel könne Schule machen, und schrieb seinem Statthalter in Kampanien, er möge Pimenius, den Bischof von Amalfi, an seine Residenzpflicht erinnern, ihn zur Rückkehr in die Festung bewegen oder ihn, falls er der Aufforderung nicht nachkomme, in Klosterhaft nehmen.
Schließlich nützten auch die dicken Stadtmauern und die hohen Wehrtürme nichts. Im Winter 838/839 eroberte der Langobardenfürst Sicard von Benevent Amalfi. Die Festungsmauern wurden geschleift und die Überreste der Heiligen Trofimena entführt. Sie war der Sage nach eine Sizilianerin, die auf See gestorben und an den Strand von Minori gespült worden war. Mit dem Raub der Reliquien ihrer Schutzpatronin werde die Stadt, so das Kalkül der Eroberer, auch die Protektion verlieren. Doch schon ein halbes Jahr später fiel Sicard einer Verschwörung zum Opfer. Die Amalfitaner plünderten das nahe Salerno, das unter langobardischer Herrschaft stand, und riefen am 1. September ihren unabhängigen Staat aus, der fast drei Jahrhunderte bestehen sollte.
Jeden Sommer findet in Italien eine Regatta statt, bei der die vier mittelalterlichen Seerepubliken um die Wette rudern: die drei großen Seemächte Venedig, Pisa und Genua und eben das kleine Amalfi. Historisch war Amalfi die erste Seerepublik unter den vieren. Sein Wappen besteht aus drei Teilen. Im Feld links oben ist ein rotes Band auf blauem Hintergrund, das auf den römischen Ursprung verweist. Rechts oben steht ein achtspitziges Kreuz, das heute aus Gründen, die noch zu erörtern sein werden, als Malteserkreuz gilt. Die untere Hälfte nimmt ein Kompass über einem Kometen ein. Natürlich war Amalfi, anders als die lokalpatriotische Geschichtsklitterung suggeriert, keine Republik im modernen Sinn. Ihre Führer – zunächst die comites (Grafen), später die duces (Herzöge) – wurden anfänglich von der Oberschicht gewählt, schon bald aber entstanden regelrechte Dynastien. Nominell gehörte Amalfi weiterhin zum Byzantinischen Reich, faktisch aber war es weitgehend unabhängig. Im Übrigen war die „Seerepublik Amalfi“ nicht sonderlich groß. Sie umfasste knapp die Hälfte der Halbinsel Sorrent, zwischen Neapel und Salerno gelegen, und die Insel Capri.
Aber ihre Bedeutung reichte weit über dieses begrenzte Territorium hinaus. Ihre Handelsschiffe kreuzten im westlichen wie im östlichen Mittelmeer, und Amalfi hatte seine Handelsniederlassungen in Konstantinopel, Antiochia, Jerusalem, Kairo, Alexandria, Tripolis, lange bevor Venedig zur Mittelmeermacht aufstieg.
Der Schweizer Soziologe Thomas Schmid, 55, hat eine Reihe historischer Mittelmeerstadtporträts veröffentlicht. Neben seiner Arbeit im Auslandsressort des Nachrichtenmagazins „Facts“ schreibt er für die „Zeit“. Schmid lebt in Berlin und Zürich.
Thomas Schmid – mare No. 57 – August/Sept. 2006