Es ist Ferienzeit. Am Hauptbahnhof von Bologna, einem der wichtigsten Verkehrsknotenpunkte Italiens, herrscht reges Treiben, als am Samstag, dem 2. August 1980, morgens um 10.25 Uhr, ein im Wartesaal zweiter Klasse abgestellter Koffer explodiert. 23 Kilogramm Sprengstoff. Ein Flügel des Bahnhofsgebäudes stürzt über dem Ancona-Chiasso-Express auf Gleis 1 und einem Taxiparkplatz zusammen. 85 Tote und 200 Verletzte werden gezählt. Ärzte und Krankenschwestern eilen aus dem Urlaub zu Hilfe. Ein öffentlicher Bus wird für den Transport der Leichen eingesetzt. Staatspräsident Sandro Pertini fliegt umgehend im Hubschrauber an den Ort der Katastrophe und besucht die Verwundeten in den Krankenhäusern. 30 Jahre nach dem blutigsten Attentat der italienischen Nachkriegsgeschichte wird am Montag ganz Italien erneut der Toten gedenken.

Ministerpräsident Francesco Cossiga sprach schon zwei Tage nach der Explosion von einem „eindeutig faschistischen“ Anschlag. Der Verdacht einer rechtsradikalen Urheberschaft lag auf der Hand. 1969 hatte auf der Mailänder Piazza Fontana ein Bombenanschlag 17 Todesopfer gefordert, in Brescia hatte auf der Piazza della Loggia 1974 ein Sprengsatz acht Menschen getötet, und im selben Jahr starben bei einer Explosion im Italicus-Express zwischen Florenz und Bologna zwölf Personen. In all diesen Fällen stand nach Ermittlungen der Staatsanwaltschaft fest: Die Bombenleger stammten aus militanten neofaschistischen Gruppen, und der Geheimdienst war in den Terror zutiefst verstrickt. Ihr gemeinsames Ziel war es, ein Klima der Angst zu erzeugen, in dem sich – auch angesichts der Wahlerfolge der KPI, der größten kommunistischen Partei Westeuropas – die Ablösung der parlamentarischen Republik durch eine autoritäre Präsidialrepublik durchsetzen ließe.

Schon wenige Wochen nach dem Attentat von Bologna werden 47 Haftbefehle ausgestellt – die meisten gegen Mitglieder der NAR. Hinter dem Kürzel, das für „Revolutionäre bewaffnete Kerne“ steht, verbirgt sich eine rechtsradikale Gruppe von Killern, die aus dem Schoß der parlamentarischen neofaschistischen MSI hervorgegangen ist. Im Februar 1981 wird Valerio Fioravanti, einer der Gründer der NAR und ihr ungekrönter Chef, nach einem Feuergefecht verhaftet, das zwei Polizisten das Leben kostet. Seine Freundin, Francesca Mambro, geht der Polizei bei einem Raubüberfall ins Netz.

Fioravanti und Mambro wurden 1995 wegen des Attentats von Bologna rechtskräftig zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt. Später bekam für dieselbe Tat noch ein drittes Mitglied der NAR 30 Jahre Haft aufgebrummt. Die Prozesse über die Bombenanschläge auf der Mailänder Piazza Fontana, auf der Brescianer Piazza della Loggia und auf den Italicus-Express sind alle im Sande verlaufen. Wenigstens blieb also das größte aller italienischen Massaker jenes bleiernen Jahrzehnts nicht ungesühnt. Aber waren Fioravanti und Mambro wirklich die Täter? Es gibt erhebliche Zweifel, noch immer.

Fioravanti, geboren 1958, war noch keine 20 Jahre alt, als er einen Kommunisten per Genickschuss tötete. Bei der Armee stahl er 144 Handgranaten. Er überfiel bewaffnet ein linkes Radio und ein Lokal der KPI, ermordete mindestens einen Polizisten, zwei Carabinieri, einen Studenten, einen Richter und einen Führer einer konkurrierenden rechtsradikalen Gruppe. Mambro, seine 1959 geborene Freundin, kann auf eine ähnliche terroristische Karriere zurückblicken. Beide sind gnadenlose Killer. Aber anders als die Neofaschisten zu Beginn der 70er-Jahre haben sie nie Bomben gelegt. Sie haben gezielt getötet. Und während die „alten“ Neofaschisten mit dem Staatsapparat verkungelt waren, haben die NAR im Staat einen Feind gesehen – ähnlich wie die damaligen Linksterroristen. Ihr Terror richtete sich gegen Polizisten und Richter, später auch gegen Altfaschisten, denen sie vorwarfen, die Jungen ins Feuer zu schicken und sich selbst ein bequemes Leben zu machen, und zuletzt gegen die Führer der rechtsradikalen „Terza Posizione“, wo sie Verrat und Intrige witterten.

Fioravanti und Mambro, die sich zu ihren Taten sonst bekannt haben, erklärten sich im Fall des Attentats von Bologna immer für unschuldig, obwohl er achtmal und sie neunmal zu einer lebenslänglichen Strafe verurteilt waren und ein Eingeständnis sie nichts an Freiheit gekostet hätte. Fioravanti hat 28 Jahre lang im Gefängnis gesessen, Mambro zwei Jahre weniger. Beide sind heute frei und arbeiten in einer Organisation, die sich für die Aufhebung der Todesstrafe einsetzt.

Der Prozess gegen das Killerpärchen war ein reiner Indizienprozess. Es gibt keinen Beweis für die Tatbeteiligung, keine Fingerabdrücke, auch keinen Nachweis, dass die beiden überhaupt in Bologna waren. Das ganze Gebäude der Anklage stützte sich letztlich auf die Aussage eines einzigen dubiosen Zeugen: Massimo Sparti, einen Mann aus dem Ganovenmilieu der Römer Vorstadt Magliana, in dem sich auch viele Neofaschisten tummelten. Schon kurz nach seiner Festnahme behauptete Sparti, Fioravanti habe ihm in Rom zwei Tage nach dem Attentat in Bologna gestanden, dass er die Bombe platziert habe. Er habe ihn auch gebeten, ihm zwei gefälschte Ausweise zu beschaffen. Sparti aber sei damals gar nicht in Rom gewesen, gab seine Frau zu Protokoll. Und weshalb sollte ein Terrorist sich gefälschte Dokumente erst nach der Tat besorgen? Wie auch immer, die Richter glaubten Sparti. Der Ganove wurde nach einem Jahr Haft wegen Bauchspeicheldrüsenkrebs im Endstadium auf freien Fuß gesetzt und lebte noch 20 Jahre munter weiter.

An der Täterschaft der NAR-Terroristen zweifeln in Italien in Italien inzwischen namhafte Juristen und Politiker. Giovanni Pellegrino, der die Parlamentskommission zur Untersuchung der Attentate der 70er-Jahre präsidierte, sagt heute über das rechtskräftige Urteil gegen Fioravanti und Mambro: „Es hängt in der Luft.“ Guido Salvini, einer der prominentesten Staatsanwälte des Landes, der in zahlreichen Fällen von Links- und Rechtsterrorismus die Ermittlungen führte, vermutet die Täter im Milieu der Neofaschisten um „Ordine Nuovo“, die damals gut mit den Geheimdiensten vernetzt waren und wohl den Bombenterror zu Beginn der 70er-Jahre zu verantworten hatten.

Schon 2005 hat die Bologneser Staatsanwaltschaft neue Ermittlungen aufgenommen. Anlass war der Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission, deren Mitglieder mehrheitlich der postfaschistischen Alleanza Nazionale und der Forza Italia Berlusconis angehörten und die sich mit den Aktivitäten des Sowjetgeheimdienstes KGB in Italien befasste. In diesem taucht eine gewagte Hypothese auf: Für das Attentat könnte der Deutsche Thomas Kram, Mitglied der „Revolutionären Zellen“, verantwortlich sein, der im Auftrag des venezolanischen Superterroristen „Carlos“ handelte, der seinerseits von der „Volksfront zur Befreiung Palästinas“ (PFLP) um einen Racheakt gebeten worden war.

Der Hintergrund: In den 70er-Jahren hatten die italienische Regierung und die PFLP offenbar einen Pakt geschlossen. Den Palästinensern wurde erlaubt, Waffen durch Italien zu transportieren. Im Gegenzug versprachen diese, im Land selbst nicht terroristisch tätig zu werden. Als drei italienische Autonome im November 1979 beim Transport von Raketen für die Palästinenser erwischt wurden, nahm die Polizei auch Abu Saleh, den Repräsentanten der PFLP in Italien, fest. Ein klarer Bruch des Gentlemen Agreement.

Zu den „Revolutionären Zellen“ hatte die PFLP einst gute Beziehungen. Zwei Gründer der deutschen Terrororganisation hatten zusammen mit einem PFLP-Kommando 1976 ein Flugzeug von Tel Aviv nach Entebbe entführt. Sie wurden dort bei Erstürmung des Flughafengebäudes getötet. Unter den „Revolutionären Zellen“ löste das Drama offenbar eine Grundsatzdebatte aus. Fortan lehnten sie die gezielte Tötung von Personen ausdrücklich ab und beschränkten sich auf „Knieschuss“-Attentate. Doch sind sie wohl auch für den Tod des früheren hessischen Wirtschaftsministers Heinz Herbert Karry verantwortlich, den sie vermutlich bei einem Entführungsversuch erschossen.

Den „Revolutionen Zellen“ gehörte Thomas Kram seit Mitte der 70er-Jahre an. Doch erst 1987 tauchte er ab. 19 Jahre lebte er danach im Untergrund, bevor er sich im Dezember 2006 den deutschen Behörden stellte. Vor anderthalb Jahren wurde er wegen Mitgliedschaft in einer terroristischen Vereinigung zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Er lebt heute in Berlin. Fest steht: Kram hat die Nacht vom 1. auf den 2. August 1980 in einem Hotel in Bologna verbracht, 15 Minuten zu Fuß vom Hauptbahnhof entfernt. Fest steht auch: Kram kennt „Carlos“ persönlich. Mit dessen engstem damaligem Mitarbeiter, Johannes Weinrich, hat er in den 70er-Jahren in Bochum einen politischen Buchladen geführt. In Bologna habe er übernachtet, weil es schon spät geworden war und er nicht mehr weiter nach Florenz fahren wollte, um in der Toskana einen Freund zu treffen. Kram hatte vom September 1979 bis März 1980 an der Ausländeruniversität von Perugia studiert. Schon damals wurde er von der italienischen Polizei überwacht.

Kram reiste im Zug von Karlsruhe nach Italien. An der italienischen Grenze wurde er fast zwei Stunden lang verhört, sein Gepäck minutiös kontrolliert. Der Grenzpolizei legte er seinen echten Personalausweis vor, im Hotel in Bologna seinen Führerschein, ebenfalls echt. All dies ist in Polizeiakten festgehalten. „Reist einer, der eine Bombe legen will, mit echten Papieren ein und übernachtet im Hotel unter seinem Klarnamen, noch dazu in der Nähe des Tatortes?“ fragt Kram kopfschüttelnd, „von Konspiration verstanden wir ja nun wirklich viel.“ In der Tat konnten sich die „Revolutionären Zellen“ dem Zugriff der Staatsschutzbehörden viel länger entziehen als etwa die „Rote Armee Fraktion“.

Eine Beteiligung Krams am Attentat von Bologna scheint also unwahrscheinlich. Doch es sind noch andere Spuren im Gespräch, die die Justiz nie ernsthaft verfolgt hat. Auch Staatspräsident Giorgio Napolitano – ein Mann, der seine Worte sehr genau abzuwägen pflegt – glaubt nicht mehr, dass das Urteil von Bologna letztlich Bestand hat. „Die Schatten und Zweifel, die geblieben sind“, sagte er etwas sibyllinisch am nationalen Gedenktag für die Opfer des Terrorismus, „haben zu einem neuen Strang von Ermittlungen geführt. Wohin diese führen, ist noch nicht abzusehen.“Rettungshelfer bergen ein Opfer am 2. August 1980, kurz nach dem brutalen Bombenanschlag auf den Bahnhof von Bologna, bei dem 85 Menschen starben.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 31.07.2010

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert