Wie ein Leutnant der Schweizer Armee italienische Partisanen rettete

Ein Schild warnt vor Einsturzgefahr. Es ist verboten, die verkommenen Gewölbe, die einsam in der Landschaft stehen, zu betreten. Neben den Mauerresten erinnern nur etwa ein Dutzend Badewannen mit fauligem, von einem grünen Algenteppich bedeckten Wasser an die Geschichte des Ortes. Schon in einem Dokument von 1352 wird der flumen aquae calidae erwähnt, der hier aus dem Pegmatit-Gestein fliesst. Doch erst im ausgehenden 19. Jahrhundert wurde an der Thermalquelle, die jede Minute zwölf Liter 30 Grad warmes Wasser spendet, ein Badehaus samt Albergo errichtet. 1951 zerstörte eine Lawine die Anlage. Die Bagni di Craveggia, im hintersten Onsernone, eine halbe Stunde zu Fuss von Spruga, just an der Grenze, aber schon auf italienischem Boden, sind seither nur noch als Ruine vorhanden.

An die andere Geschichte der Bagni di Craveggia erinnert noch weniger. Nur ein einfaches Kreuz, unweit der Grenze, auf Schweizer Boden. Hier starb am 18. Oktober 1944 der italienische Partisan Federico Marescotti, erschossen von Soldaten der faschistischen Republik von Salò. Der von einer italienischen Trikolore umwundene Sarg mit dem toten Freiheitskämpfer wurde von einer Gruppe Partisanen von Spruga nach Comologno getragen, eskortiert von einer Abteilung bewaffneter Soldaten der Schweizer Armee.

Einer, der sich an die dramatischen Tage von damals noch genau erinnert, ist Augusto Rima. Der Ingenieur, der heute unter anderem Expertisen für die Staatsanwaltschaft in Bellinzona erstellt und privat geologische Studien betreibt, war – auf seine Art – Protagonist der Ereignisse bei den Bagni di Craveggia. Als Leutnant der Schweizer Armee rettete er Dutzende von Menschenleben, indem er auf eigene Faust handelte – gegen die expliziten Anweisungen aus Bern und gegen die Anordnungen seiner militärischen Vorgesetzten. „Die Befehle waren eindeutig“, erinnert sich Rima heute, „aber ich sagte mir: Wer in einer solchen Situation einen noch einigermassen klaren Kopf hat, kann doch unmöglich einfach abwarten, bis das Massaker geschieht, ohne etwas zu unternehmen.“

Eine Republik wird aufgerollt

Dass der Krieg im Oktober 1944 den verträumten Ort an der Grenze bei Spruga erreicht hat, hängt mit grundlegenden strategischen Entscheidungen der Alliierten zusammen. Erinnern wir uns: Schon im Juli 1943 – zwei Wochen nach der Landung der Alliierten in Sizilien – war Mussolini gestürzt worden, im September hatten die Nazis Nord- und Mittelitalien besetzt, um den Vormarsch der Amerikaner zu stoppen, und den Duce befreit. Die damals noch kleinen Partisanenverbände erhielten nun massiven Zulauf, weil viele sich der Deportation in deutsche Arbeitslager oder der Rekrutierung durch die Behörden von Mussolinis Republik von Salò, eines kleinen faschistischen Reichs von Hitlers Gnaden, entziehen wollten.

Im Herbst 1944 kam die alliierte Offensive an der „Gotischen Linie“ im Apennin zum Stehen. Die Amerikaner und die Briten waren im Juni in der Normandie gelandet und setzten nun das Gros ihrer militärischen Kräfte an der Westfront ein. Für die italienische Resistenza war dies in gewisser Weise eine fatale Entscheidung. Die Befreiung Norditaliens zögerte sich hinaus, und die Waffenlieferungen an die Partisanen gerieten immer häufiger ins Stocken. Prekär wurde die Lage nun auch im Ossola-Tal, wo die Aufständischen am 10. September 1944 eine «freie Republik» gegründet hatten, die sich im Westen bis an die Walliser Grenze, im Süden bis fast nach Intra und im Osten bis zum Sopraceneri erstreckte. Anfang Oktober ordnete Generalfeldmarschall Albert Kesselring, Kommandant der deutschen Truppen in Italien, den «Kampf gegen das Bandenwesen» an. Mit deutscher Unterstützung rollten nun faschistische Truppen die Repubblica d’Ossola auf. Nach dreitägigen Kämpfen zog sich die Partisanendivision Piave, bestehend aus den Brigaden Perotti, Battisti und Matteotti, die das Val Cannobina verteidigte, am 11. Oktober zurück. Teile ihrer Truppen überquerten den Pass Sant‘ Antonio und kamen schliesslich erschöpft, durchnässt und ausgehungert in den Bagni di Craveggia an.

Grünes Licht für Zivilpersonen

Am Morgen des 12. Oktober meldet der Schweizer Hauptmann Tullio Bernasconi, der an der Grenze im Onsernone im Einsatz ist, dass sich im Badehaus auf der andern Seite des Grenzbachs und im Gebäude der Finanzpolizei, wenige hundert Meter oberhalb des Bades, zivile und militärische Personen befänden. In einigen Zimmern brenne das Licht. Noch am selben Tag wird direkt an der Grenze ein Wachposten eingerichtet und eine lange Stange mit einer Schweizer Fahne in den Boden gerammt. Und damit sich auch nachts kein Fremder auf helvetischen Boden verirrt, wird eine Laterne unter die Fahne gestellt.

Eine Woche nach den Ereignissen wir der Offizier in einem Rapport festhalten: „In Bagni di Craveggia hatten sich etwa 250 Männer der Division Piave versammelt, die von den deutschen und den faschistischen Truppen aufgerieben worden war. Die Partisanen der Piave befanden sich seit einigen Tagen in einer tristen Situation: Sie besassen wenig Waffen, wenig Munition, es fehlte ihnen an Nahrungsmitteln, sie waren physisch und moralisch erschöpft.“

Aber nicht nur Partisanen strömten zum Badehaus an der Grenze. Auch zahlreiche Bauern der „freien Republik“, die die Rache der Faschisten fürchteten, flüchteten Richtung Onsernone-Tal. Zwischen dem 13. und dem 16. Oktober 1944 überschritten 251 Personen die Demarkationslinie hinter Spruga: 35 Frauen, 31 Kinder, 185 Männer, unter diesen auch ein Ire und neun kranke Partisanen. Die gesunden Partisanen hingegen wurden zurückgewiesen. Vergeblich übergab Pippo Frassati, der Kommandant der etwa 250 bewaffneten Männer, die zwei Wochen zuvor noch Cannobio befreit hatten, dem Schweizer Grenzkommando am 15. Oktober eine formelle Petition, in der er Einlass für seine Männer begehrte. „Wir haben bloss 31 Gewehre und Karabiner, Pistolen und nur noch sehr wenig Munition“, heisst es im Schreiben, „Lebensmittel haben wir überhaupt keine mehr, von heute an können wir unsere Leute nicht mehr ernähren. Aufgrund der topographischen Bedingungen an der Grenze werden schwere Verluste nicht zu verhindern sein – selbst wenn ihr im Fall eines Angriffs ein schreckliches und unnützes Massaker verhindern wollt, indem ihr uns eure Grenzen öffnet.“

Die neue Order aus Bern war klar, und auch Pippo Frascati kannte sie offenbar. Nur bei unmittelbarer Lebensgefahr wurde militärischen Personen Zuflucht geboten. Ein Jahr zuvor noch, im September 1943, waren innerhalb von zwei Wochen über 19.000 Soldaten der italienischen Armee über die Grenze gekommen. Das Kavallerieregiment Savoia war damals mit 15 Offizieren, 642 Soldaten, 316 Pferden und neun Maultieren sogar in geschlossener Formation ins Tessiner Exil marschiert. Nun aber hatte sich der Bundesrat – sicher auch unter dem Druck Hitlers uns seines Vasallen mit Residenz in Salò – für eine rigidere Position entschieden. Die Nazis und die Repubblichini, wie die Anhänger von Mussolinis Republik genannt wurden, bezichtigten die Schweiz wiederholt der Verletzung der eigenen Neutralität. In der Tat wurden immer wieder Lebensmittel über die Schweizer Grenze in die Repubblica d’Ossola gebracht, und am 14. Oktober war der Tessiner Regierungsrat Guglielmo Canevascini sogar höchstpersönlich nach Domodossola gereist, um mit der Giunta Ossolana, der „Regierung“ der Partisanenrepublik, Kontakt aufzunehmen.

Ein Schweizer überschreitet Grenzen

Auch Leutnant Augusto Rima, der dem Hauptmann Bernasconi unterstellt war, wusste von der neuen Order aus Bern. Und er nahm sie beim Buchstaben. Am 17. Oktober 1944 geht er auf eigene Faust, ganz allein, ohne auch nur einem einzigen Kameraden ein Sterbenswörtchen zu verraten, über die Grenze, was das Brigadekommando streng verboten hat, und trifft sich mit den Führern der Partisanen. „Passt auf“, sagt er ihnen, „die Faschisten sind im Anmarsch. Um nicht in die Falle zu gehen und von den Bundesbehörden die Erlaubnis zum Grenzübertritt zu erhalten, müsst ihr euch in den Kampf begeben. Es muss Lebensgefahr bestehen. Stellt also Posten auf, um den Weg zu überwachen, den die Faschisten nehmen müssen, um hierher zu kommen. Sobald ihr sie seht, gebt Feuer, und dann dürft ihr über die Grenze.“ Danach erkundigte der Leutnant zusammen mit den Partisanen die besten Fluchtwege zur Grenze. Wo die Natur vor dem Feuer keine Deckung zu geben verspricht, wird mit Steinen und Buschwerk nachgeholfen.

Das Inferno an der Grenze

Am 18. Oktober, mittags, inspizieren Hauptmann Bernasconi und Leutnant Franzoni das Grenzgebiet. Sie treffen etwa 300 Meter diesseits der Demarkationslinie auf drei bewaffnete Partisanen. Sie schicken sie nach Italien zurück – nachdem sie ihnen die Munition abgenommen haben.Kurz vor vier Uhr nachmittags ist es dann so weit. Drei Karabinerschüsse eines Wachpostens künden die Ankunft der faschistischen Truppen an. Es sind 150 Fallschirmjäger und 50 Marineinfanteristen, alle gut ausgerüstet, mit fünf schweren Maschinengewehren, elf Sturmgewehren und Karabinern, begleitet von einigen SS-Männern. Die Bagni di Craveggia verwandeln sich sofort in ein Inferno. Eine Stunde lang wird geschossen – vor allem vom Südhang über den Bach zum Nordhang hinüber, wo sich die Partisanen unter dem Kugelhagel zur Grenze durchkämpfen. Etwa 25.000 Schüsse sind nach Schätzungen der Schweizer Armee gefallen.

256 Partisanen fliehen an diesem Tag auf den vorbereiteten Fluchtwegen ins Onsernone-Tal. 13 von ihnen sind verwundet. Einer von ihnen, ein 19-jähriger Jude namens Renzo Coen, stirbt in den Morgenstunden des folgenden Tages in einem Locarneser Spital. Er war aus dem sicheren Internierungslager von Lugano-Trevano entflohen, um sich dem Kampf für ein freies Italien anzuschliessen. Zwei Partisanen werden von den faschistischen Truppen festgenommen, bevor sie die Grenze überqueren: einer, schon auf Schweizer Boden, wird von einer MG-Salve niedergemäht: der 24-jährige Federico Marescotti. Er war einem Lager der Deutschen in Italien entflohen und hatte sich erst einen Monat vor seinem Tod der Resistenza im Ossola-Tal angeschlossen.

Ein Ultimatum aus Italien

Als Hauptmann Bernasconi um 16:55 Uhr an der Grenze schliesslich eintrifft, ist bereits Ruhe eingekehrt. Doch präsentiert sich ihm alsbald ein schäumender Offizier der faschistischen Truppen. Es ist Hauptmann Paolo Violante, der den Angriff auf die Partisanen befehligt hat und nun deren Auslieferung fordert, „lebend, verletzt oder tot“. Der Offizier stellt gleich noch ein Ultimatum – bis Mitternacht. Für den Fall einer negativen Antwort dort her eine „bewaffnete Aktion auf Schweizer Boden“ an. Die Schweizer lassen das Ultimatum verstreichen. Hauptmann Violante verlängert die Frist um sechs Stunden. Am 19. Oktober um sechs Uhr morgens treffen sich Major Respini vom Generalstab der Brigade, Hauptmann Bernasconi und zwei weitere Offiziere zum letzten Mal mit Violante und teilen ihm mit, dass dem Auslieferungsbegehren nicht stattgegeben werde und dass allfällige Aktionen der italienischen Truppen auf Schweizer Boden eine bewaffnete Antwort finden würden. Danach, vermerkt Bernasconi später in einem Rapport, habe Violante – „ein vulgärer, arroganter, moralisch verkommener Typ“ – gesagt, er werde mit seinem deutschen Vorgesetzten reden, und „dann ging er, wie er gekommen war, mit den Händen in der Tasche“.

Die Schweizer Soldaten, die an der Grenze inzwischen ihre Verteidigungspositionen ausgebaut hatten, warteten vergeblich auf die Rückkehr von Hauptmann Violante. Nach der Befreiung Italiens wurde der faschistische Offizier in einer Turiner Fabrik entdeckt. Ein Untersuchungsverfahren, das wegen des Mords an Marescotti gegen ihn eröffnet wurde, kam nicht zum Abschluss. Violante starb noch während der Ermittlungen.

Zwei andere Protagonisten der Ereignisse bei den Bagni di Craveggia leben hingegen noch. Pippo Frassati der damals die Partisanen befehligte, ist heute Universitätsprofessor in Pisa. Nach der Auseinandersetzung an der Grenze war er mit einer Verletzung am rechten Unterarm ins Locarneser Carità-Krankenhaus eingeliefert worden. Doch schon zwei Tage später hatte sich der Partisanenhauptmann wiederaus aus dem Staub gemacht. Der Tessiner Leutnant, der ihm und seinen Mannen mit seiner ganz privaten Initiative das Leben gerettet hat, konnte ihm nicht einmal mehr das Erinnerungsfoto vom Krankenbett überreichen, das er geschossen hatte. Im übrigen wehrt Ingenieur Augusto Rima ab, wenn er heute auf seine mutige Aktion von damals angesprochen wird. In gewissen Situationen dürfe man eben nicht blind den Befehlen gehorchen, sondern müsse auf eigenes Risiko hin handeln. Das sei doch selbstverständlich – und vermutlich hätte das jeder Bundesrat so gesehen, wenn er dort hinten im hintersten Onsernone gestanden wäre, fügt er verschmitzt hinzu. Ob er das im Ernst glaubt oder ob es bloss Ausdruck seiner Bescheidenheit ist, lässt er sich nicht anmerken.

Thomas Schmid, „Tessiner Zeitung“ vom 29.07.1989 (Der Beitrag erschien unter dem Titel „Partisanen bei den Bagni di Craveggia“).