Die Bilder gingen um die Welt. Ein weiß gekleidetes Mädchen, begleitet von zwei griechischen Athleten, begibt sich auf einen Bühnensteg, schreitet zur Fackel hoch, schürzt die Lippen und pustet die Flamme aus. Die Spiele waren zu Ende. Das Mädchen, das im Sommer 2004 das Olympische Feuer ausgeblasen hatte, war zehn Jahre alt und hieß Fotini, zu deutsch: Flamme. Es stammte aus dem SOS-Kinderdorf in Vari, das damals für einen kurzen Augenblick ins Scheinwerferlicht der Weltöffentlichkeit rückte.
Vari, bekannt für seine Tavernen, wo man die besten Kokoretsi – am Spieß gegrillte, mit Innereien gefüllte Därme – ganz Griechenlands kriegt, liegt wenige Kilometer außerhalb von Athen. Das Kinderdorf, eröffnet 1982, befindet sich an einem Hang über dem eigentlichen Dorf. Es besteht aus einem Dutzend einfacher Häuser. Die Landschaft im Süden Attikas ist kahl. Aber hier stehen überall Bäume. Der Blick aufs nahe Meer ist zauberhaft. Gute Voraussetzungen für eine glückliche Kindheit.
Mit Glück waren die 65 Kinder, die hier untergekommen sind, zuvor nicht gerade gesegnet. Sie entstammen verwahrlosten Familien, wenn sie denn je eine hatten: die Mutter alkoholkrank oder auf dem Strich, oft beides; der Vater drogensüchtig, gewalttätig oder im Gefängnis. Hier haben die Kinder eine neue Familie gefunden und eine neue Mutter. Die Idee der SOS-Kinderdörfer geht auf den 1919 geborenen Österreicher Hermann Gmeiner zurück, der mit sechs Jahren seine Mutter verloren hatte und aus dem Zweiten Weltkrieg schwer verwundet zurückkehrte. 1950 baute er das erste Kinderdorf für fünf Kriegswaisen. Als er 1986 starb, gab es weltweit 233 Kinderdörfer, heute sind es 508.
Im SOS-Kinderdorf von Vari leben elf „Familien“ in elf Häusern, jede hat eine „Mutter“. Marina Loukaiti, die einst in Düsseldorf als Apothekerin arbeitete, hat drei eigene Kinder großgezogen. Inzwischen hat sie in Deutschland bereits vier Enkel. Seit 19 Jahren arbeitet sie nun schon hier im Kinderdorf, wo sie weitere 20 Mal Mutter wurde. Zur Zeit hat sie sieben Kinder im Alter von 13 bis 16 Jahren. „So schwierig wie jetzt war die Lage noch nie“, sagt Loukaiti, die schon vieles durchgestanden hat, „und die Kinder bekommen es zu spüren.“ Früher trafen viele Sachspenden im SOS-Kinderdorf ein. Nun spendete im Oktober eine Firma etwas Öl und Milch, das war alles. Schmalhans heißt jetzt der Küchenmeister. Man streckt sich nach allen Seiten.
„Früher habe ich den älteren Kindern 30 Euro Taschengeld im Monat gegeben, den jüngeren etwas weniger“, sagt Loukaiti, „heute erhalten sie keinen Cent mehr. Die Älteren verstehen das vielleicht noch, aber erklären Sie mal einem 13-Jährigen die Krise.“ Das „Kinderdorf“ hat keine eigene Schule. Es will ja nur Familienersatz bieten. Die Kinder sollen ganz gewöhnlich aufwachsen, in einer Familie eben, und im Dorf zur Schule gehen, wie die andern Kinder auch. Aber jetzt merken sie schon, dass sie – ohne jeden Cent – doch anders sind. Immerhin können sie zumindest Urlaub machen. Zur Ferienzeit nimmt Loukaiti ihre sieben Kinder mit nach Nafplio, ihren Heimatort auf dem Peleponnes. Dort kommen sie alle bei Verwandten unter.
Mütter und Kinder des Kinderdorfs von Vari müssen den Gürtel enger schnallen. Aber andern geht es noch schlechter, viele sind von der scharfen Wirtschaftskrise noch ärger gebeutelt. „In jüngster Zeit“, berichtet Loukaiti, „kommen hier immer wieder völlig verzweifelte Mütter vorbei, die ihre Kinder abgeben wollen, weil sie nicht mehr weiter wissen. Das habe ich in all den 19 Jahren, in denen ich hier arbeite, vorher nie erlebt.“ Aber das Kinderdorf hat keine freien Plätze mehr. Zudem werden hier nur Kinder aufgenommen, die das Sozialzentrum schickt, das die Hilfsorganisation in Kypseli, dem am dichtesten bevölkerten Stadtteil Athens, unterhält.
Dort arbeitet Stergios Sifnios, der 18 Jahre lang Leiter des SOS-Kinderdorfs in Vari war. Auch bei ihm kommen immer wieder Frauen vorbei, die sich von ihren Kindern trennen wollen. „Aber unser Ziel ist es“, sagt Sifnios, „die Mädchen und Jungen in ihren Familien, wo immer das irgendwie möglich ist, zu belassen.“ Das Sozialzentrum versorgt bedürftige Familien mit Lebensmitteln, Kleidern und Schulbüchern und bezahlt manchmal auch die Elektrizitätsrechnung. Es bietet psychologische Betreuung und juristische Beratung an. Sifnios hat nur einen Mitarbeiter in seinem Sozialzentrum, aber doch ein breites Team von Ärzten, Anwälten, Psychologen, Sozialarbeitern, Streetworkern, die ihm – als Volontäre – helfen. „Wir hatten im vergangenen Jahr etwas 600 Fälle zu betreuen“, sagt Sifnios, „dieses Jahr werden es tausend sein. Das ist eine Steigerung um 65 Prozent.“
Die wirtschaftliche Radikalkur, die Griechenland verordnet wurde – massive Lohnkürzungen, Entlassungen, neue Steuern -, hat zu einer wirtschaftlichen Rezession geführt und viele Griechen in Armut gestürzt. Die finanziellen Probleme führen oft zu einem Verlust von Selbstwertgefühl, zu psychischen Krisen, zu Alkoholmissbrauch und Drogenkonsum. „Die Zahl zerrütteter Familien nimmt rapide zu“, stellt Sifnios fest, „und auch die der Anfragen nach einem Platz im SOS-Kinderdorf.“ In der Regel werden in Vari aber nur Kinder aufgenommen, deren Eltern die Justiz das Sorgerecht entzogen hat, weil sie ihrer Fürsorgepflicht nicht nachkommen oder die Kinder misshandeln. Für diese ist dann das Kinderdorf oft die Rettung.
Die Krise bekommen die drei SOS-Kinderdörfer Griechenlands – in Vari bei Athen, in Plagiari bei Thessaloniki und in Thrace unweit der türkischen Grenze – doppelt zu spüren. Auf der einen Seite steigt die Nachfrage nach Plätzen, auf der andern Seite hat die Organisation, deren griechische Sektion zu hundert Prozent von Spenden und privaten Schenkungen lebt, deutlich weniger Geld. „Die Spenden sind innerhalb von einem Jahr um 25 Prozent zurückgegangen“, sagt Giorgos Protopapas, der Leiter der griechischen SOS-Kinderdörfer, „und seit Januar 2011 werden Steuern auf Spenden, Erbschaften und Immobilien erhoben.“ Vom Jahresbudget 2011, das ungefähr 3,5 Millionen Euro betrug, muss die Organisation, die da einspringt, wo der Staat versagt, diesem 165.000 Euro überweisen.
„Mit diesem Betrag könnten wir weiteren hundert bis zweihundert Familien helfen“, schätzt Protopapas. Etwas wehmütig zeigt er das Foto von Fotini, dem weiß gekleideten Mädchen, das vor sieben Jahren die olympische Flamme ausgepustet hat. Damals stand das SOS-Kinderdorf Vari im Rampenlicht. Heute scheint es vergessen. Damals erlöschte nur eine Flamme. Heute scheint ganz Griechenland endloser, tiefer Nacht zu versinken.
Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 15.11.2011