Die Fokionos-Negri-Allee gehörte vor noch nicht allzu langer Zeit zu den Prachtboulevards der griechischen Hauptstadt. Cafés säumen die Fußgängerzone, Bauhaus-Stil und Art Déco zeugen von glanzvollen Zeiten. Vergangenen Zeiten. Der Brunnen ist trockegelegt. Der Rasen ungepflegt. Die Hälfte der Läden steht zum Verkauf aus. Und unten an der Ecke, wo eine Kirche seit Wochen geschlossen ist, weil niemand die Schäden eines Kabelbrandes beseitigt, ist das Pflaster aufgerissen. Ein Kiosk stand einst hier. Doch der Händler hat aufgegeben und ihn abmontiert.

In den Sträßchen, die von der Allee abgehen, wohnen vor allem ärmere Leute, unter ihnen viele Künstler und Emigranten. „Kypseli ist der am dichtesten besiedelte Stadtteil Athens“, sagt Theocharis Vlachojannis, „aber nun findet man wieder Parkplätze“. Er selbst braucht zwei. Auf der Kühlerhaube seines Opels stellt der Obst- und Gemüsehändler Granatäpfel, Kastanien und Pflaumen aus. Daneben, auf der Ladefläche seines Kleinlasters, liegen Salatköpfe.

Welcher Hanswurst regiert, ist egal

Ob er am Freitag um Mitternacht das Vertrauensvotum verfolgt hat, das über das Schicksal von Ministerpräsident Giorgos Papandreou entschied? Diese nächste Volte im griechischen Drama, die Papandreou noch einmal hauchdünn für sich entschied? Vlachojannis setzt ein gequältes Lächeln auf. Ob Papandreou oder sein konservativer Widersacher Samaras oder sonst ein Hanswurst die Geschicke seines Landes leite, sei ihm egal. „Das geht bestimmt fünf Jahre weiter so und dann wird alles noch schlimmer“, prophezeit er düster. Sein eigener Umsatz sei schon jetzt um 30 bis 40 Prozent eingebrochen, er arbeite 15 Stunden am Tag, um zu überleben. Der winzige Tante-Emma-Laden, vor dem Opel und Kleinlaster stehen, wird von ihm, seinem Bruder und der Mutter betrieben. Seit 1959 ist das Geschäft in Familienbesitz. Doch für die Zukunft sieht Vlachojannis „schwarz, kohlrabenschwarz“.

Hoffnungslosigkeit ist die vorherrschende Stimmung unter den Griechen. Auf dem Land lastet eine Depression, die wie eine schwere, bleierne Decke, alles zu ersticken droht. Die Mehrwertsteuer für Nahrungsmittel, die vor zwei Jahren noch neun Prozent betrug, ist inzwischen auf 23 Prozent gestiegen. Die Löhne sind im selben Zeitraum im Durchschnitt um ein Drittel gesunken, und um die Staatseinnahmen zu erhöhen, wurde nun auch noch eine Immobiliensteuer eingeführt. In Kypseli beträgt sie pro Jahr fünf Euro pro Quadratmeter, bei vielen Wohnungsbesitzern ist das ein Monatslohn. Im Nobelviertel Kolonaki, wo das gehobene Bürgertum zuhause ist, sind es 20 Euro. Als Folge der Radikalkur, die den Haushalt sanieren soll, ist die durchschnittliche Kaufkraft massiv eingebrochen, worunter der Einzelhandel leidet. Dadurch sinken wiederum die Steuereinnahmen. So mündete der verordnete Sparkurs – absehbar und vorausgesagt – in eine Rezession.

Eleni Pandou bekommt diese noch drastischer zu spüren als die Vlachojannis-Familie. Der Inhaberin eines Kleidergeschäfts ist der Kummer ins Gesicht geschrieben. Um 60 Prozent ist ihr Umsatz eingebrochen. Die elegante Frau streicht das lange blonde Haar in den Nacken und sagt mit kaum unterdrückter Wut: „Haben Sie Papandreous Rede gehört? Er fand, dass alles auf einem guten Weg sei. In welchem Land lebt der Mann denn! Gehört er in die Psychiatrie? Oder hält er uns alle für Vollidioten?“

Das Schlimmste seien nicht die finanziellen Probleme, die hätten die Griechen auch schon früher gehabt, sagt Pandou. „Aber damals hatten wir auch Hoffnung.“ Heute steht ihr Sohn kurz vor dem Abitur und besitzt nur zwei Schulbücher. Die übrigen hat er kopieren lassen, weil der Staat zu wenig Schulmaterial zur Verfügung stellt. Und weil auch der Unterricht so schlecht ist, nimmt er, wie über die Hälfte der Abiturienten, Nachhilfeunterricht in einer Privatschule. „Er ist in einer Fünfergruppe, das kostet mich dann nur 400 Euro im Monat“, sagt Pandou sarkastisch und ergänzt: „Den Einzelunterricht kann ich mir nicht leisten.“ Den geben viele staatlich bezahlte Lehrer nach Schulschluss für 25 Euro die Stunde. Dieser unversteuerte Nebenverdienst ist oft ihr Hauptverdienst.

Ein eigenes Label

Die Kleider, die Pandou verkauft, nähen ihr Mann, ihr Schwager und ihre Schwiegermutter. Seit 1989 führt sie den Laden. Seit 1991 hat die Familie sogar ihr eigenes Label. Vor zwölf Jahren hat Pandou eine Jeans für umgerechnet 40 DM verkauft, heute muss sie dieselbe Hose für zehn Euro anbieten. „Mehr bezahlt hier keiner.“ Zwölf Stunden steht sie täglich in ihrem Laden, von neun Uhr morgens bis bis neun Uhr abends. Die Arbeitszeiten wurden länger – der Umsatz kleiner. „Wir dürfen aber den Kopf nicht hängen lassen“, sagt sie, „wir müssen unseren Kindern eine bessere Welt hinterlassen.“ Sie klingt, als wolle sie sich selbst aufmuntern.

Trotz allem interessiert sich Pandou immer noch für Politik. In ihrem Laden läuft permanent das Radio. Die dramatische Nacht von Freitag auf Samstag hat sie am Fernseher verfolgt. Am schlimmsten fand sie den Auftritt von Eva Kaili. Die Pasok-Abgeordnete, eine attraktive ehemalige Fernsehsprecherin, hatte angekündigt, Papandreou das Vertrauen nicht auszusprechen. Daraufhin war sie von einem Parteifreund öffentlich mit derben anzüglichen Bemerkungen herabgewürdigt worden. Anstatt sich zu wehren, gab sie bekannt, nun doch für Papandreou zu stimmen.

Der wiederum versprach am Wochenende, dass er als Regierungschef zurücktreten wolle, um so eine große Koalition zu ermöglichen. Pandou mag dem Politiker nicht mehr glauben. „Er sagt das eine und macht das andere.“ Aber Oppostionsführer Samaras, der auch nach Papandreous Ankündigung an der Idee einer Expertenregierung festhielt, findet sie noch unerträglicher. Die kommunistische KKE ist ihr zu stalinistisch, und über die rechtsnationalistische LAOS braucht man mit ihr gar nicht zu reden. Ihr Herz schlägt am ehesten für die linksradikale Syriza – auch wenn sie skeptisch stimmt, dass deren Chef ein Millionär ist.

Neben Politik ist Pandou noch etwas anderes wichtig, sie sagt es zum Abschied: „Wir sind keine Faulpelze.“ Wie viele ihrer Landsleute geht sie davon aus, dass die Deutschen glauben, die Griechen würden zu wenig arbeiten, zu früh in Rente gehen, den ganzen Tag am Strand liegen und sich das alles von Europa bezahlen lassen.

Dass Politiker von CDU und FDP vor zwei Jahren empfahlen, den griechischen Staatshaushalt über den Verkauf einiger Inseln zu sanieren, hat viele hier verletzt. Und das Focus-Titelblatt, auf dem vor einem Jahr – neben der Schlagzeile „Betrüger in der Euro-Familie“ – die Liebesgöttin Aphrodite den Stinkefinger zeigt, hat für Empörung gesorgt. Geschmacklosigkeiten findet man allerdings auch in der griechischen Medienlandschaft: Auf dem Titelbild der aktuellen Ausgabe des Gesellschaftsmagazins Crash geht über der Akropolis statt der Sonne das Hakenkreuz auf. Links und rechts davon, im Halbschatten, erscheinen Angela Merkel und Papandreou.

Deutsche in Athen nicht gehasst

Doch auch wenn die Deutschen in Athen zur Zeit nicht so beliebt sind, gehasst werden sie nicht. Allenfalls fällt ab und zu eine spitze Bemerkung über ausgebliebene Reparationszahlungen für die Verbrechen, die SS und Wehrmacht in Griechenland verübt haben. Oder über Hochtief, Deutschlands führenden Baudienstleiter, der in Griechenland Autobahnen gebaut hat und nun die Mautgebühren selber einstreicht. Auch die Betriebsgebühren des 2001 fertiggebauten von Athener Flughafens fließen zu einem großen Teil an den deutschen Konzern, der das Baukonsortium anführte. Solche Beispiele verstärken die Furcht vieler Griechen, ihr Land werde bei der mit EU-Kommission, Europäischer Zentralbank und Internationalem Währungsfond ausgehandelten Privatisierung staatlicher Betriebe ans Ausland verhökert

Trotzdem wissen die die meisten hier, dass die Probleme im wesentlichen hausgemacht sind. Sie schimpfen auf die Politiker der beiden großen Parteien, die seit dem Sturz der Militärdiktatur 1974 das Land regierten und ein System von Klientelwirtschaft und Korruption aufgebaut haben. Von diesem haben viele Griechen lange profitiert. Hunderttausende fanden im aufgeblähten öffentlichen Dienst eine Stelle mit scheinbar sicherer Altersversorgung. Hunderttausende hinterzogen folgenlos Steuern. Jetzt wird die Gegenrechnung aufgemacht.

Viele haben mittlerweile jede Hoffnung auf eine bessere Zukunft verloren. Die traditionell niedrige Selbstmordrate – in Griechenland gibt es jährlich nur 3,5 Fälle auf 100 000 Tote, in Deutschland sind es 12 – hat sich seit Beginn der Krise verdoppelt, vielleicht auch verdreifacht.

Die Heiterkeit ist sowieso verschwunden. Im Stadtteil Kypseli klagen alle. Der Obst- und Gemüsehändler Theocharis Vlachojannis, der mit den Supermärkten kaum mehr mithalten kann genauso wie Eleni Pandou, die ihre selbstgefertigten Jeans für zehn Euro anbieten muss. Und sogar Leonidas Remoudou, Besitzer der ältesten Bäckerei in Kypseli, die sein verstorbener Vater vor einem halben Jahrhundert gekauft hat. Remoudou und sechs seiner Geschwistern sind ebenfalls Bäcker geworden. „Brot wird immer gegessen“, lautete die Devise in der Familie. Auch Remoudou selbst glaubte fest daran, gerade jetzt, wo die Leute an Fleisch und frischem Obst und Gemüse sparen. Nun beklagt er einen Umsatzeinbruch von 40 Prozent.

Die Kunden sparen an allem

„Früher haben wir an ein Vier-Sterne-Hotel in Plaka an jedem Samstag 450 Brötchen verkauft“, sagt Remoudous Frau Adriana. Sie lacht. „Jetzt waren es im ganzen Oktober, an 31 Tagen, gerade noch 1200.“ Plaka mit seinen vielen Straßenrestaurants liegt am Fuß der Akropolis. Vielleicht kommen weniger Touristen. Vielleicht kauft das Hotel anderswo billiger ein. Die Bäckerin weiß es nicht. Aber mit Brot verdiene man ohnehin wenig, tröstet sie sich, lukrativer sei der Verkauf von Fein- und Süßgebäck. Das Problem ist allerdings, dass die Kunden daran noch mehr sparen.

Auch Leonidas Remoudou hat das mitternächtliche Vertrauensvotum am Fernsehen verfolgt. Ab zwei Uhr früh steht er ohnehin jeden Tag in der Backstube. Vorher hört er jeweils die Bestellungen ab, die auf seinem Anrufbeantworter eingegangen sind. Ob Papandreou bleibt, ob ihm sein Finanzminister Evangelos Venizelos nachfolgt, ob es zu einer Regierung der nationalen Einheit oder gar zu Neuwahlen kommt – früher hätte er sich dafür brennend interessiert. Heute zeigt er nur auf seine Vitrine. Dort stehen zwei Liter Milch. Die „aus Europa“ importierte kostet einen Euro, die griechische 1,30 Euro – „wegen all der Abgaben, die man uns nun aufzwingt“.


Griechenland, die Wiege der Demokratie, da ist sich der Bäcker sicher, wird vom Ausland regiert.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.11.2011

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