SKALA SKAMNIAS (LESBOS). Die alte Frau steht da wie festgewurzelt, neben einer Feuerstelle mit Resten von verkohltem Holz. Sie hält einen langen Ast in die Höhe, an dessen Ende eine Schwimmweste in grellem Orange flattert. Es ist stürmisch. Das Meer tobt. Die Gischt klatscht an die Felsen. Und die Frau steht einfach da und hält ihre leuchtende Fahne in den Wind. Ihr Haus liegt direkt an der unbefestigten Küstenstraße, etwas außerhalb des Dorfes. Vor dem kleinen Stall meckert eine Ziege. Unter den Olivenbäumen scharren Hühner. Nachts macht die Bäuerin vor ihrem Haus ein Feuer an. Sie signalisiert den Flüchtlingen, wo das Wasser flach ist, wo sie anlanden können. Ihren Namen mag sie nicht nennen. „Ich bin nicht wichtig“, sagt sie.
Nur neun Kilometer Wasser trennen hier Asien von Europa. Die griechische Insel Lesbos liegt weit weg von Athen, direkt vor der türkischen Küste. Vier Fünftel der Mittelmeerflüchtlinge kommen in Griechenland an. In den ersten zehn Monaten dieses Jahres waren es über 550.000, und über die Hälfte von ihnen gingen in Lesbos an Land, die allermeisten am fünfzehn Kilometer langen Küstenabschnitt zwischen Skala Skamnias und Molivos im Norden der Insel – da, wo die alte Frau steht, die ihren Namen nicht nennen mag, und mit ihrer improvisierten Flagge den Flüchtlingen den Weg weist.
Am Straßenrand beten fünf Männer, das Gesicht gegen Mekka gerichtet. Es sind keine Flüchtlinge, sondern Engländer mit indischen Wurzeln. Mohammed Agcha, ein drahtiger Mittvierziger mit gepflegtem Kinnbart, ist einer von ihnen. Er arbeitet als Mathematiklehrer in Manchester. Er hat nur eine Woche Herbstferien. Und die verbringt er hier mit einer Gruppe indischstämmiger, muslimischer Briten. „Am Anfang haben wir alle geweint“, sagt er. Der Anfang war vor einer Woche. Jetzt haben sie bereits Routine. Der Kollege mit dem Feldstecher gibt das Signal. Sie steigen in ihr Auto, rumpeln auf der holprigen Straße zur Stelle, wo gerade Flüchtlinge ankommen.
Das schwarze Gummiboot tanzt gefährlich auf den Wellen. Es ist brechend voll mit dunkelhäutige Menschen in orangefarbenen Schwimmwesten. Zwei Männer in gelb-roten Gummianzügen springen ins Wasser. Es sind Roger Comas und Dani Rodríguez. Sie gehören der Hilfsorganisation „Proactiva“ an, einem Seenotrettungsdienst in Badalona bei Barcelona. Als Anfang September Bilder von vier ertrunkenen Flüchtlingskindern über Facebook verbreitet wurden, beschloss die Gruppe einzugreifen. Seit bald zwei Monaten arbeitet sie nun schon auf Lesbos. Die gelb-roten Männer haben hier Heldenstatus.
Comas und Rodríguez ziehen das Boot an Land, greifen sich zuerst die Kinder heraus, schwingen sie den ausgestreckten Armen der Engländer entgegen. Dann helfen sie den Frauen, eine Alte muss von vier Männern an Land getragen werden. Schließlich steht die ganze Gruppe von etwa 40 Afghanen, die wohl alle zum ersten Mal in ihrem Leben das Meer gesehen haben, völlig durchnässt und schlotternd auf der Straße. Zwei Norwegerinnen, die Physiotherapeutin Berit Thorsund und die Fabrikarbeiterin Marit Eide Dahl, nehmen haltlos heulende Kinder in die Arme. Die beiden gehören einer norwegischen NGO an, die sich sonst um die Gesundheit von Frauen kümmert.
Eine rothaarige Frau verteilt allen zum Schutz vor Kälte Plastikfolien in goldener Farbe. Es ist die irische Journalistin Olga Cronin, die früher bei einer Tageszeitung arbeitete und nun als Freelancerin eigentlich recherchieren und schreiben wollte. Sie hat in der vergangenen Woche ohnmächtig zuschauen müssen, wie auf halber Strecke zwischen türkischer und griechischer Küste ein Schiff mit 230 Flüchtlingen sank. Nur etwa ein Drittel von ihnen konnte die Küstenwache retten. „Es war grauenhaft“, sagt sie, „das Bild werde ich nie vergessen.“ Eigentlich hätte sie schon den Rückflug antreten sollen. Doch sie hat eine neue Aufgabe gefunden und will vorerst auf der Insel bleiben.
Wohl über hundert Mitglieder von kleinen, weithin unbekannten ausländischen Hilfsorganisationen aus aller Welt fahren täglich auf der Ausschau nach Flüchtlingen die Schotterstraße an der Nordküste von Lesbos ab. Auch einige wenige griechischen Helfer sind vor Ort. Bei gutem Wetter kamen die Boote Mitte Oktober im Zehnminutentakt an. Jetzt, wo die Herbststürme eingesetzt haben, sind es noch immer ein bis zwei Dutzend am Tag.
Schon um die 450 Menschen sind in diesem Jahr bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland – vor Lesbos, Kos, Samos, Chios und andern Kleinasien vorgelagerten Inseln – nachweislich ertrunken. Die Dunkelziffer lässt sich nicht einmal schätzen.
Es ist ein Riesendrama. Ein organgefarbener Streifen säumt die Nordküste von Lesbos: Zehntausende weggeworfene Schwimmwesten zeugen von jenen, die es geschafft haben. Und hunderte, vielleicht tausende Schlauchboote zeugen vom kriminellen Milliardengeschäft der Schleuser. Doch hier, wo europaweit die allermeisten Mittelmeerflüchtlinge stranden, glänzt der griechische Staat zu Wasser wie zu Lande durch Abwesenheit: keine staatliche Hilfe, keine Seenotrettung, höchstselten nur taucht die Küstenwache auf.
Aber immerhin sorgt der griechische Staat dafür, dass Lesbos, das etwas über 80.000 Einwohner zählt, nicht aus allen Nähten Platz. Täglich kommen zwar – je nach Wetterlage – 2.000 bis 7.000 Flüchtlinge an, täglich aber besteigen auch einige tausend – nach ihrer Registrierung – die Fähren nach Piräus oder Thessaloniki. So nimmt die Anzahl der Flüchtlinge auf der Insel mal zu, mal ab und hat sich zwischen 10.000 und 15.000 eingependelt. Zu rund 60 Prozent stammen die Gestrandeten aus Syrien, zu 30 Prozent aus Afghanistan, die übrigen kommen aus Pakistan, Irak, Bangladesch, einige wenige aus Afrika.
Im Stadtzentrum von Mytillini, dem Hauptort der Insel, sind die Flüchtlinge omnipräsent. Männer in Kapuzenpulli und Trainingshosen bummeln über die Hafenpromenade oder schlafen, in dicke Decken gehüllt, auf den öffentlichen Bänken. Davor legen Frauen mit Kopftuch nasse Kinderwäsche auf den Beton, sobald ihn die ersten herbstlichen Sonnenstrahlen erwärmen. Gewiss, es gibt auch Griechen, denen all dies zuviel ist, die die Flüchtlinge zum Teufel wünschen. Aber 10.000 Flüchtlinge sind eben auch 10.000 Kunden. Direkt oder indirekt verdienen viele an ihnen. Wo Wasser, Pita, Hamburger verkauft oder Handy-Chips aufgeladen werden, bilden sich Menschentrauben. Viele Ladenbesitzer preisen ihre Ware auch in arabischer Schrift an. Zigaretten und Taschentücher sind fast überall ausverkauft.
Vor dem Zollgebäude, da wo die Fähren ablegen, haben Dutzende Familien ihre farbigen Iglu-Zelte aufgeschlagen, die sie jemandem abgekauft haben und die sie schon bald weiterverkaufen werden. Geldwechsler bieten Euros für Dollars und türkische Lire an. Die Flüchtlinge müssen ihre Fahrt aufs griechische Festland selbst bezahlen: 45 Euro kostet der Trip. Doch aufs Schiff wird nur zugelassen, wer registriert ist. Ohne Fingerabdruck darf keiner die Insel verlassen.
Das wissen auch die völlig durchnässten Flüchtlinge, die an der Nordküste von Lesbos gerade an Land gegangen sind. Und viele von ihnen können die Länder an der Balkan-Route der Reihe nach richtig aufsagen: Mazedonien, Serbien, Kroatien, Slowenien, Österreich, Deutschland. In ihre goldenen Plastikfolien gehüllt, bietet die Gruppe ein gespenstisches Bild. Sie macht sich auf den Weg nach Skala Skamnias. Schon vor dem Dorfeingang werden die Flüchtlinge mit heißem Tee und Sandwichs versorgt von einer Hilfsorganisation, die sich vor zehn Tagen gegründet hat. Sie nennt sich „Lighthouse“ (Leuchtturm). „Wir sind fünf Personen“, sagt Henry Hartley, ein Engländer, der gerade sein Lehrerstudium abgeschlossen hat, „ein Däne, ein Spanier, ein Norwegerin, eine Schottin und ich.“ Die Fünferbande hat sich in einer Taverne des Dorfes zusammengefunden. Alle sind sie individuell angereist, um irgendwie zu helfen. Bei einem Bauern haben sie ein Stück Land gemietet und einige Zelte aufgebaut, damit sich erst mal ausruhen kann, wer will.
Aber die meisten Flüchtlinge wollen sofort weiter. Zum Transitlager, das oberhalb des Dorfes liegt, eine halbe Stunde Fußmarsch, für einige auch eine Stunde. Hier werden sie mit trockenen Kleidern und warmem Essen versorgt. Ein Arzt kümmert sich um Kranke und Verletzte. Chef des Transitlagers ist Christoforos Schuff. Die schwarze Kutte mit dem hölzernen Kreuz weist ihn als griechisch-orthodoxen Mönch aus. Doch Shuff ist Amerikaner, lebt aber schon seit 14 Jahren auf Lesbos, die letzten acht Jahre hat er im Kloster Leimonas im Zentrum der Insel verbracht. „Viele Leute rufen mich an und fragen, wie sie helfen können“, berichtet er, „und dann bringen sie Milch, Brot, Kleider.“ Vom Staat erhalte er keine Unterstützung, sagt er, „auch von oben nicht“, wobei er nicht Gott meint, sondern die Bischöfe.
Beim Mönch bleiben die Flüchtlinge höchstens einen Tag und eine Nacht. Dann werden die syrischen Familien zur Registrierung ins Lager Kara Tepe gefahren, alle andern – auch Syrer ohne Familie – in ein Lager bei Moria. Kara Tepe, wo zwischen 2.000 und 3.000 Flüchtlinge campieren, wird von der Gemeinde Lesbos und dem UNHCR gemeinsam geführt. Am Eingang des Lagers haben Händler ein halbes Dutzend Minimärkte und Imbissbuden aufgestellt. Vodafone lädt Handys auf. Die „Ärzte ohne Grenzen“ haben eine Krankenstation eingerichtet, und auch „Safe the Children“ ist vor Ort. Es gibt einen Kinderspielplatz, und es sieht alles ziemlich sauber aus. Lagerleiter Stavros Myrogiannis läuft mit Sonnenbrille wie ein Oberkommandant durchs Areal und schreit unentwegt: „Frauen da längs! Zurück! Alle in eine Reihe! Ich verspreche euch, ihr werdet innerhalb von 24 Stunden registriert!“
„Kaum eine Familie muss hier länger als einen Tag warten“, bestätigt Fred Morlet, ein Franzose aus Bordeaux, der ausgezeichnet deutsch spricht. Er war jahrelang Chef für Öffentlichkeitsarbeit der Armee im französischen Sektor West-Berlins. Nun ist er als freiwilliger Helfer hier. Er sorgt dafür, dass im Durcheinander von Ankommenden und Wegziehenden jede Familie in einem Zelt unterkommt, dass der Abfall weggeräumt wird und für vieles andere mehr. Morlet kennt sich aus in der Gegend, auch auf der türkischen Seite. Seine Frau ist Türkin, die Schwiegereltern wohnen in Ayvalik, da wo die Fähre nach Mytilini ablegt. Er war auch in Assos, das just gegenüber von Skala Skamnias liegt. „Ich habe zugeschaut, wie dort die Flüchtlinge in die Boote steigen“, sagt er, „aber fahren Sie nicht hin, das ist sehr gefährlich, mit den Leuten lässt sich nicht spaßen, da geht es um ein Geschäft von zwei Millionen Euro täglich.“
Im Oktober setzten an vielen Tagen über 2.000 Syrer und Afghanen von Asien nach Europa über, und jeder zahlte tausend Euro. „Die Schlepper fahren 50 Meter mit“, sagt Morlet, „dann springen sie ins Wasser und lassen die Flüchtlinge allein. Oft muss derjenige, der bereit ist, das Boot zu steuern, nach vorheriger Absprache nur hundert Euro bezahlen.“ Bei sehr starkem Wellengang gibt es manchmal einen Risikorabatt. Dann kostet der Trip nur 500 Euro. Afghanen lassen sich eher darauf ein als Syrer – vielleicht, weil sie das Meer nicht kennen, vielleicht, weil sie in der Regel noch ärmer sind als jene. In den letzten Tagen war das Meer sehr stürmisch. Es kamen fast nur Afghanen an.
Sie werden alle ins Lager bei Moria geleitet, das mit über 7.000 Menschen völlig überlaufen ist. Griechenland hat auf Druck der EU zugesagt, fünf Hotspots zur Registrierung der Flüchtlinge einzurichten. Das Lager von Moria steht unter direkter Kontrolle von Athen. Die Polizei ist massiv präsent. Es ist der erste und bisher einzige Hotspot. In Kara Tepe werden syrische Flüchtlingsfamilien nur deshalb registriert, weil Moria mit der bürokratischen Erfassung nicht nachkommt. Doch ist längst klar, dass registrierte Flüchtlinge, die weiter westwärts wandern, später nicht nach Griechenland zurückgeschickt werden können, wie es das Dublin III-Agreement eigentlich vorsieht. Griechenland, von der Wirtschaftskrise arg gebeutelt, kann die Flüchtlinge nicht alle aufnehmen. Deshalb haben sich acht EU-Länder sowie die Balkanstaaten Serbien, Mazedonien und Albanien Ende Oktober darauf geeinigt, 100.000 Plätze zur Aufnahme und Registrierung von Flüchtlingen zu schaffen, 50.000 sollen in Griechenland entstehen.
Aber 50.000 Flüchtlinge kamen allein in zwei Oktoberwochen in Griechenland an! Und sehr viele haben es nicht geschafft. Die Leichenhalle in Mytilini ist übervoll. Für die geborgenen Toten will der Bürgermeister von Lesbos, Spyros Galinos, einen neuen Friedhof errichten. Auf dem Gottesacker bei der Kirche des Heiligen Panteleimon, wo sie bisher bestattet wurden, ist kein Platz mehr. Dort sind jetzt schon zahlreiche namenlose Gräber durchnummeriert, auf den einen steht „agnosto“ (unbekannt), auf anderen „afthanos“ (ertrunken). Am Wochenende machte Galinos, der im übrigen der rechtspopulistischen Anel angehört, einen ungewöhnlichen, aber doch naheliegenden Vorschlag: Ein Fährdienst soll die Flüchtlinge aus der Türkei abholen und sie auf sicherem Weg nach Griechenland bringen.
© Berliner Zeitung.
In der veröffentlichten Fassung stand, dass in diesem Jahr schon über 3.300 Flüchtlinge bei der Überfahrt von der Türkei nach Griechenland ertrunken seien. Das ist falsch und ist in der oben stehenden Version korrigiert. Über 3.300 Flüchtlinge sind in diesem Jahr bei der Überfahrt übers Mittelmeer ertrunken, davon um die 450 in der Ägäis. Obwohl etwa vier Fünftel der Mittelmeerflüchtlinge von der Türkei nach Griechenland übersetzen, ertrinken immer noch die meisten auf dem weiten Weg von Libyen nach Italien, während die Strecke von der Türkei auf eine der ägäischen Inseln oft nur zehn Kilometer lang ist.
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04-11-2015