Seine Nachbarn tuschelten, hielten ihn für verrückt, doch Franketienne baute eine sieben Meter hohe Mauer um sein Anwesen. Das war 1976. Damals herrschte Jean-Claude Duvalier alias „Baby Doc“ über Haiti und hielt sein Volk mit 300 000 „Tontons Macoutes“ in Schach, mit der Geheimpolizei, die sein Vater „Papa Doc“, einer der bizarrsten und blutrünstigsten Diktatoren der lateinamerikanischen Geschichte, einst gegründet hatte. In seinem Roman „Die Stunde der Komödianten“ hat Graham Greene den bald subtilen, bald brutalen Terror beschrieben, der damals in Haiti die Gesellschaft zersetzte und lähmte. Franketienne war ein notorischer Gegner der Diktatur. Hinter der hohen Mauer fühlte er sich sicherer.

Die Gewalt ist in den vergangenen Wochen zurückgekehrt, drei Tage lang beherrschten die „Chimären“ das Zentrum der Hauptstadt Port-au-Prince und zertrümmerten auf dem Markt Geschäfte und Verkaufsbuden. Kurz danach wurde der bekannteste Radiojournalist des Landes ermordet. Er hatte es gewagt, das Machtgeflecht um den früheren Präsidenten und Armenpriester Jean-Bertrand Aristide zu kritisieren, der auch heute noch die Fäden der Politik zieht. Am 21. Mai wählt Haiti ein neues Parlament. Und die Opposition, die einst Aristide aus dem Exil zurückgeholt hat, fürchtet sich nun vor den „Chimären“, den Schlägerbanden, die Aristide in den Armenvierteln rekrutiert. „Lumpenproletariat“, sagt Franketienne. Die Mauer um sein Haus hat er noch nicht eingerissen.
Wer das schwere Eisentor hinter sich schließt, tritt in eine andere Welt ein. Draußen die dreckige Straße, die Frauen, die auf dem Bürgersteig in abgestandenem Öl Kochbananen sieden, die Männer, die schwere „Kabwa“, mit Abfall oder Früchten beladene Holzkarren, ziehen, lärmende Kinder. Drinnen das Paradies, ein traumhafter Garten, hohe Bäume, die Schatten spenden, hier und da ein paar Korb- oder Schaukelstühle, eine geradezu sakrale Ruhe, nur ab und zu zwitschert, ganz profan, ein Vogel. Seine zweistöckige Villa hat Franketienne selbst entworfen. Eine breite Freitreppe führt in einer großzügigen spiralenförmigen Windung ins Obergeschoss. Das ganze Haus ist eine einzige Galerie. Denn Franketienne ist nicht nur der berühmteste Schriftsteller des Landes, er ist auch einer der bekanntesten Maler. Doch seine Kunst hat nichts mit der „art naive“ zu tun, der farbenfrohen gegenständlichen Malerei, in der die Welt oft wie ein einziges Schlaraffenland aussieht und für die Haiti so berühmt geworden ist. „Es gibt große primitive Maler“, sagt Franketienne, „es sind großartige Künstler, ich aber bin ein Intellektueller, also wäre ich immer ein falscher Naiver.“
Bilder von Frauen mit lasziv zur Schau gestelltem Geschlecht, Bilder von Komödianten, die auf einer Palette tanzen, an der sie festkleben und die Haiti zu symbolisieren scheint; Bilder von vaginaförmigen Muscheln, steinernen Gehäusen, die ein wertvolles Kleinod schützen, so wie die sieben Meter hohe Mauer das kleine Paradies mitten in Port-au-Prince schützt; und immer wieder abstrakte Bilder von Gewalt, Explosion mit einem blutroten Grundton. Ein großes Gemälde erinnert an die Lynchjustiz nach dem Sturz der Duvalier-Diktatur, die drei Jahrzehnte lang geherrscht hatte. Damals stieß Franketienne zufällig auf einen Mob, der gerade einem früheren Geheimpolizisten eine „Halskrause“, einen brennenden Autoreifen, umlegte. Er war unfähig einzugreifen. Das Bild im Kopf ließ ihn nicht los. Jetzt hängt es in Öl an der Wand.
Gewalt stand schon am Ursprung von Franketiennes Leben. „Ich bin ein Bastard“, sagt er, „ein haitianischer Neger mit weißer Haut.“ Sein Vater, Benjamin Liles, war Geschäftsführer der haitianischen Eisenbahn, ein US-Amerikaner, zur einen Hälfte deutscher, zur andern irischer Abstammung. Eines Tages bot der Millionär einer armen haitianischen Bauerntochter aus der Familie Etienne an, bei ihm als Haushaltshilfe zu arbeiten. „Irgendwann im Juli 1935 hat er sie dann vergewaltigt“, erzählt Franketienne, „oder wie soll man es nennen? Sie war ja erst dreizehn Jahre alt. Ich sage das ohne Groll. Ich verdanke diesem Gewaltakt schließlich das Leben.“ Mit seinen acht Halbgeschwistern, dem Stiefvater, der Bäcker war, und der Mutter, die einen kleinen Verkaufsladen hatte, wuchs Frank Etienne, der seinen Namen später zum Künstlernamen Franketienne zusammenzog, in recht einfachen Verhältnissen auf. Aber immerhin wurden alle neun Kinder in die Schule geschickt, damals wie heute in Haiti keine Selbstverständlichkeit.
Nachdem er drei Jahre als Mechaniker gearbeitet hatte, schrieb sich Franketienne in der Hoffnung auf eine Diplomatenlaufbahn an der „École des Hautes Etudes internationales“ ein. Doch aus dem Karrieretraum wurde nichts. So gründete er nach Abschluss des Studiums eine eigene Privatschule. Es gab nur eine Klasse, nur sieben Schüler, und er war der einzige Lehrer. 30 Jahre lang, bis 1991, verdiente er sich als Privatlehrer das Leben. Denn vom Schreiben allein kann in Haiti niemand leben, auch Franketienne nicht. 35 Bücher hat er veröffentlicht, alle hat er – wie es in Haiti üblich ist – selbst verlegt.
1964 publizierte Franketienne sein erstes Buch: „Au fil du temps“ („Am Faden der Zeit“). Es war eine Gedichtsammlung. Drei weitere Poesie-Bände kamen in den folgenden zwei Jahren hinzu, 1968 dann sein erster Roman „Mûr a crever“ („Reif zu platzen“). Doch die überlieferten literarischen Formen genügten ihm bald nicht mehr. „Ich wollte nicht bereits gemachte Erfahrungen wiederholen“, erinnert er sich, „das schien mir keine Lösung.“ So gründete er mit einigen Gleichgesinnten zu Beginn der 70er-Jahre eine neue literarische Bewegung: den Spiralismus. Die Spiralen, die er schrieb, sind schwer verständlich. Es sind Romane in Gedichtform oder Gedichte, die sich zu einem Roman entwickeln. Wie bei einer Spirale wiederholt sich alles, doch immer auf einer neuen Ebene, alles dreht sich immer schneller und droht zu explodieren. Sind die Formen einmal gesprengt, beginnt die Sprache zu tanzen, fällt in Trance. Und wo Sprache und Schrift selbst zur Fessel werden, entstehen Wortschöpfungen und verwandelt sich Schrift in Bild. „Man hielt mich für verrückt und las mich nicht mehr“, sagt Franketienne, „unter der Diktatur war das für mich auch ein Schutz.“
Mit „L oiseau schizophone“ („Der schizophone Vogel“) schrieb er eine Spirale mit stark autobiografischen Zügen: Der Schriftsteller Philemond Theophile wird von Geheimdienstlern des zozobistischen Regimes gekidnappt, weil seine literarischen Formen ästhetisch stören und zutiefst subversiv sind; im Hochzeitszimmer des Todes wird er von einem Inquisitionsgericht dazu verurteilt, seinen Roman Seite für Seite aufzuessen. Seine jüngsten Spirale „Rapjazz“, erschienen 1999, ist – ebenfalls autobiografisch gefärbt – das Tagebuch eines Paria, der durch Port-au-Prince wandelt, „dieses Magma unsäglichen Unglücks“, der in delirierender und mäandernder Sprache die Stadt zu erfassen versucht und schließlich von ihr erfasst wird. Er tanzt, flieht, räsoniert, gerät bald in Depression, bald in Verzückung, bleibt aber immer Herr seiner sinnlosen Worte. In „Rapjazz“, einem literarischen Wirbelsturm, wechseln sich französische und kreolische Sprache ab, der Autor outet sich als Anhänger der Schizophonie, was im Übrigen seine eigene Wortschöpfung ist und soviel wie „Sprachspaltung“ bedeutet.
Franketienne war der erste Schriftsteller Haitis, der mit „Dezafi“ („Herausforderung“) 1975 einen Roman auf Kreolisch schrieb, in der Sprache, die alle Haitianer verstehen. Erst Jahre später hat er selbst ihn ins Französische übersetzt, die Sprache der gebildeten Oberschicht. Das Thema des Romans ist die Zombifizierung der Gesellschaft, ein ausgesprochen aktuelles Thema während der Duvalier-Diktatur, die den Voudou, den weit verbreiteten afrohaitianischen Kult, und die Angst, in einen Zombie, einen willenlosen Menschen, verwandelt zu werden, immer politisch instrumentalisiert hat. Doch – und das war eine Herausforderung der Terrorherrschaft auf der Insel – blasen die Zombies in Franketiennes Roman schließlich zum Aufstand und fegen das verhasste Regime hinweg. Aber auch ein in kreolischer Sprache verfasster Roman verkauft sich in einem Land, in dem die Leute am Hungertuch nagen, schlecht. Und so ließ man den Autor in Ruhe. Erst als Franketienne Theaterstücke auf Kreolisch schrieb und aufführte, war ihm ein breiteres Publikum beschieden. Doch nun wurde es auch ungemütlicher. Anonyme Drohungen häuften sich, und um sein Haus streunten „Tontons Macoutes“. Damals baute der Schriftsteller die Mauer um sein Haus. Beim Theater in kreolischer Sprache ist er bis heute geblieben.
Seine Stücke führte Franketienne auch in den großen haitianischen Exilgemeinden in den USA, in Miami und in New York, auf. Zurzeit präsentiert er in Port-au-Prince eine Komödie, die 1978 uraufgeführt wurde: „Pelen tet“ (Kopffalle). Es ist die Geschichte von zwei Haitianern im Exil: Der eine, ein Intellektueller, träumt davon, in Haiti die Revolution zu organisieren, um das Land von den Hyänen und Blutsaugern zu befreien. Der andere, ein ungebildeter Arbeiter, will noch einige Jahre lang zwölf Stunden täglich malochen und dann den Rest des Lebens in einem vornehmen Viertel von Port-au-Prince verbringen. Den Intellektuellen spielt der 64-jährige Schriftsteller, Dramaturg und Maler selbst.
Wer das Drama des Exils zum Thema macht, redet auch über die Zustände des Landes, aus dem die Menschen flüchten. Und so hat Franketienne sein altes Theaterstück aktualisiert. Heute treibt nicht mehr der Terror, sondern die extreme Misere viele Haitianer ins Exil. Die Armee ist aufgelöst, und es herrscht Meinungsfreiheit in Haiti. Doch überall macht sich Resignation breit. Die Euphorie nach dem Sieg des Armenpriesters Jean-Bertrand Aristide bei den Präsidentschaftswahlen vor zehn Jahren war von kurzer Dauer. Nach sieben Monaten Amtszeit wurde der radikale Gottesmann von der Macht geputscht, und die Haitianer erlebten einen Terror, der selbst jenen der Duvaliers in den Schatten stellte. Als Aristide 1994 auf den Bajonetten der US-Army in den Präsidentenpalast zurückkehrte, atmete das Volk zwar auf, doch von Aufbruchstimmung konnte schon nicht mehr die Rede sein. „Heute“, sagt Franketienne, „haben wir die dümmste Elite des Kontinents. Überall herrscht entsetzliche Mittelmäßigkeit.“ Viele Intellektuelle des Landes haben der Insel den Rücken gekehrt und sind ins Exil gegangen, aus wirtschaftlichen Gründen oder angewidert von der Politik, doch er bleibt. Er war oft in den Vereinigten Staaten, auch schon in Deutschland und Japan, in den reichsten Ländern der Welt. Aber im Ausland will er nicht leben. „Ich liebe Haiti, weil dieses Land, wo Komödie und Tragödie so nah beieinander liegen, mich inspiriert“, sagt Franketienne, „ich brauche seine Mythen, seine Verrücktheiten, seine Hirngespinste – und ich brauche das Chaos, die Hitze, den Lärm.“
„Ich brauche die Mythen Haitis, seine Verrücktheiten – und ich brauche das Chaos. “ Franketienne

Thomas Schmid – Berliner Zeitung – 06.05.2000

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