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Der gewendete Erdogan PDF Drucken


Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 27.11.2008


Wie in der Fabel die fette Mohrrübe vor der Nase den Esel anspornt, den Gutsherrn zum Markt zu tragen, so motivierte die europäische Perspektive die Türkei zu einer erstaunlichen Demokratisierung. Doch der Prozess ist längst zum Stillstand gekommen, und es gibt sogar deutliche Zeichen dafür, dass der Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan zum Rückzug bläst.



Just unter der religiös grundierten konservativen Regierung von Erdogan hatte sich das Land in rasantem Tempo Richtung Europa bewegt. Die Paragrafen, die die Presse knebelten, wurden gelockert. Sprache und Kultur der Kurden wurden in der Öffentlichkeit aufgewertet. Ja, sogar das Tabu des Völkermords an den Armeniern wurde angetastet. Die alte kemalistische Elite, die die Justiz und vor allem die Armee des Landes kontrolliert, war alarmiert. Zum ersten Mal seit der Gründung der modernen Türkei durch Kemal Atatürk 1923 verlor sie die Kontrolle über Teile des Staates.

Die Kemalisten wehrten sich. Ein erster Warnschuss war das Kopftuchurteil vom Juni. Unter evidenter Überschreitung seiner eigenen Kompetenzen erklärte das Verfassungsgericht eine vom Parlament verabschiedete Verfassungsänderung für ungültig, die den Studentinnen das Tragen von Kopftüchern an der Universität erlaubt hätte. Im Juli fehlte in demselben Gericht nur eine einzige von elf Stimmen, um ein Verbot von Erdogans Regierungspartei durchzusetzen, die bei den letzten Wahlen 47 Prozent der Stimmen erreicht hatte.

Das denkbar knappe Urteil hat Erdogan damals das politische Überleben gesichert. Doch inzwischen wittern viele Türken einen Deal. Sie argwöhnen, die Kemalisten hätten dem Ministerpräsidenten die Zähne gezogen. Und in der Tat schlägt dieser seit Wochen völlig neue Töne an: In der kurdischen Stadt Hakkari behauptete er in bester kemalistischer Manier, es gebe in der Türkei "eine einzige Sprache, einen einzigen Staat, eine einzige Nation". Kurz danach ersetzte Erdogan den Vizepräsidenten seiner Partei, der für eine liberale Kurdenpolitik stand, durch einen Mann, der für eine militärische Lösung der Kurdenfrage steht.

Noch deutlicher zeigte sich Erdogans neue Linie, als jüngst eine mutige kleine Zeitung enthüllte, dass die Armeeführung über einen Angriff der kurdischen PKK-Guerilla, bei dem 17 türkische Soldaten umkamen, nicht nur vorab informiert war, sondern eine unbemannte Drohne ihr auch noch live Bilder von der Attacke überspielt hatte. Der Generalstabschef schüchterte danach öffentlich die Zeitung ein - und Erdogan stellte sich ebenso öffentlich hinter ihn.

Erdogan vergrätzt die Kurden. Unter den zehn Millionen Alewiten, einer religiösen Minderheit, wächst der Unmut darüber, dass alle Kinder zum Unterricht in sunnitischer Religion gezwungen sind. Und liberale Kreise gehen inzwischen deutlich auf Distanz zu ihrem einstigen Hoffnungsträger. Es deutet immer mehr darauf hin, dass der Demokratisierungsprozess in der Türkei einem Kompromiss zwischen Erdogan und seinen kemalistischen Gegnern zum Opfer fällt. Mag sein, dass der Ministerpräsident die Hoffnung aufgegeben hat, dass die EU sein Land eines Tages aufnehmen wird. Auf jeden Fall aber kommt sein neuer Kurs in Europa jenen zupass, die - wie Nicolas Sarkozy oder Angela Merkel - der Türkei eine "privilegierte Partnerschaft" anbieten wollen, um sie nicht als gleichberechtigten Partner akzeptieren zu müssen.

© Berliner Zeitung



 

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid