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Wissen, Werte, Glauben PDF Drucken


Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 31.01.2009


Vor vier Jahren wurde in Berlin die 23-jährige Kurdin Hatun Sürücü erschossen. Ihr kleiner Bruder hatte ihr drei Kugeln ins Gesicht gefeuert, weil er der Ansicht war, sie lebe wie eine Deutsche, nicht wie eine anständige Muslimin. Unter dem Eindruck der Debatte, die der Ehrenmord auslöste, führte der Berliner Senat 2006 - obligatorisch für alle Schüler ab der siebten Klasse - das Schulfach Ethik ein, in dem Kinder von Christen, Muslimen, Juden, Agnostikern und Atheisten in der Hauptstadt seither gemeinsam unterrichtet werden.



Es geht um moralische Werte wie Toleranz und Respekt, und es geht um Religionsgeschichte und Religion. Sara und Werner werden vielleicht erfahren, dass Jesus im Koran erwähnt wird und dass das Osmanische Reich die sephardischen Juden aufnahm, die die Katholischen Könige Philipp und Isabel aus Spanien vertrieben hatten. Esmahan und Hüssein werden vielleicht hören, dass die Juden über Jahrhunderte hinweg einer schrecklichen Verfolgung ausgesetzt waren. Vor allem aber werden sie - und zwar gemeinsam im selben Raum - lernen, dass man den anderen und auch die Religion des anderen achten soll.

Die Initiative Pro Reli will genau dieses Modell eines obligatorischen Ethik-Unterrichts beerdigen. Ihre Forderung, Religion, das heute als Unterrichtsfach fakultativ belegt werden kann, als Wahlpflichtfach dem Ethikunterricht gleichzustellen, ist fatal. Es hieße, dass nur noch ein Teil der Kinder weiterhin in den gemeinsamen Ethikunterricht geht und der andere einen nach Konfessionen getrennten Religionsunterricht besucht.

Welche ethischen Werte, welche Werte, die für ein ziviles Zusammenleben, für den Erhalt einer freiheitlichen Gesellschaft und für eine erfolgreiche Integration von Immigranten grundlegend sind, könnten die Religionslehrer der verschiedenen Konfessionen - Protestanten, Katholiken, Orthodoxe, Sunniten, Alewiten, Juden - den Kindern ihrer Konfession nahe bringen, die nicht auch gut ausgebildete (atheistische, christliche, muslimische oder jüdische) Ethiklehrer im überkonfessionellen Unterricht vermitteln könnten? Viele der Werte, die wir heute als universal gültige betrachten - unter ihnen nicht zuletzt auch die Religionsfreiheit - mussten gegen den hartnäckigen Widerstand der Kirche erkämpft werden. In allen drei Offenbarungsreligionen gibt es auch heute noch fundamentalistische Strömungen, die von Toleranz und Ökumene wenig halten und die eigene Konfession als höherwertig als die anderen einstufen.

Weshalb sollen sich die Kinder von Christen, Muslimen, Juden und Atheisten getrennt auf ihre verschiedenen und gemeinsamen kulturellen Wurzeln besinnen? Judentum, Christentum und Islam sind ja nicht zufällig in derselben Ecke der Welt entstanden. Die abendländische Kultur hat ja nicht nur mit der Kirche zu tun, sondern auch mit der Antike, deren wissenschaftliche Erkenntnisse dank muslimischer Gelehrter übers Mittelalter hinweg in die Neuzeit gerettet wurden, mit Judentum und mit Aufklärung.

Gewiss weiß ein Religionslehrer in der Regel besser über die eigene Religion Bescheid als ein Ethiklehrer. Wem dieses Wissen wichtig ist, wird eben das fakultative Fach Religion belegen. Aber es wäre doch fatal, wenn er sich dadurch künftig vor dem überkonfessionellen Ethik-Unterricht drücken könnte.

Viele Eltern möchten, dass in einem konfessionellen Unterricht ihre Kinder zum Glauben angehalten werden. Doch die Vermittlung von Glauben gehört in Berlin nicht zum öffentlichen Erziehungsauftrag. Die Schule soll den Kindern Wissen (auch über Religionen und ihre Geschichte und Dogmen) und Werte vermitteln, sie lehren, die Welt nüchtern anzuschauen und sich ein Urteil zu bilden, sie zu toleranten Staatsbürgern heranziehen. Für Glaubensangelegenheiten ist sie nicht zuständig. Da sind die Eltern, jüdische und muslimische Gemeinden und christliche Kirchen gefragt.

Die Vertreter von Pro Reli fordern mehr Gerechtigkeit. Sie jammern, die Kinder, die den freiwilligen Religionsunterricht besuchen wollen, seien benachteiligt, weil sie zusätzliche Stunden nehmen müssten. Das stimmt. Doch gilt das genauso für Kinder, die neben dem Sportunterricht auch noch in den Fußballverein oder neben dem Musikunterricht noch zur Klavierlehrerin gehen wollen.

Auch dass Berlin im Bundesvergleich mit dem obligatorischen Ethik-Unterricht einen Sonderweg gewählt hat, spricht nicht gegen diesen. Berlin geht voran, andere werden hoffentlich nachziehen. Die gemeinsame Diskussion über Werte und Religionen von Kindern mit verschiedenem kulturellen Hintergrund ist für die Integration, die Ausländern so gerne abverlangt wird, eminent wichtig, und letztlich kann sie auch dazu beitragen, dass es doch nicht zum clash of civilizations kommt, dem Zusammenprall der Kulturen, den der amerikanische Politologe Samuel Huntington prophezeit hat.

© Berliner Zeitung

 

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid