Aufruhr im Paradies |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 26.08.2009
ST.
GALLEN/BASEL/LUZERN: Ulrich Thielemann lebt gern in der Schweiz. Seit
elf Jahren wohnt er in St. Gallen, einer Stadt mit einer imposanten
Kathedrale, erbaut im Spätbarock, einer weltberühmten Stiftsbibliothek
und vor allem einer Universität mit internationaler Reputation. Zum
Bodensee ist es nicht weit, und auch die Berge liegen fast vor der
Haustür. Der Deutsche fühlt sich wohl hier. Aber verwurzelt sei er noch
immer nicht, sagt er. Wie so viele seiner Landsleute ist er wegen der
Arbeit gekommen. Thielemann, 48, ist Vizedirektor des Instituts für
Wirtschaftsethik der Universität St. Gallen, die als Schweizer
Kaderschmiede für Führungskräfte gilt. Vielleicht erklärt dieser Ruf
die Heftigkeit der Reaktionen, die er jüngst über sich ergehen lassen
musste. Denn wo wirtschaftliche Kader geschmiedet werden, ist der Raum
für ethische Fragestellungen eng. Die Wogen schlugen hoch. Der
deutsche Finanzminister Peer Steinbrück hatte im Frühling das Schweizer
Bankgeheimnis scharf attackiert. Er hatte von Zuckerbrot gesprochen und
angedroht, zur Peitsche zu greifen. Zuckerbrot und Peitsche - da denkt
doch "kein vernünftiger Mensch an wirkliche Patisserie und konkrete
Folterwerkzeuge", versuchte der Literaturwissenschaftler Peter von Matt
die aufgebrachte Öffentlichkeit zu beschwichtigen. Ohne viel Erfolg. In
der Schweiz hatte man wieder den hässlichen Deutschen entdeckt, den
arroganten Besserwisser aus dem großen Kanton im Norden. Und ein
Regierungsmitglied in Bern tauschte sogar seine in Deutschland
produzierte Staatskarosse gegen ein französisches Modell ein. Damals
luden die Grünen Thielemann als Experten zu einer Sitzung des
Finanzausschusses des Deutschen Bundestags ein. In seinem Referat
sprach der Wirtschaftsethiker von "abenteuerlichen Argumenten zur
Rechtfertigung des Bankgeheimnisses". Und auf eine Nachfrage des
SPD-Abgeordneten Ortwin Runde antwortete er, er habe den Eindruck, dass
die politische und wirtschaftliche Elite der Schweiz bei Steuerdelikten
"keinerlei Unrechtsbewusstsein" habe. Die helvetische Presse jaulte
auf: Ein solcher Deutscher - untragbar an einer Schweizer Universität! "Man
schimpfte mich überall einen Nestbeschmutzer", sagt Thielemann in
seinem Büro in St.Gallen und fügt schelmisch hinzu, "aber ist die
Schweiz denn ein Nest? Ich dachte, sie sei ein modernes - und also auch
kritisierbares - demokratisches Gemeinwesen." Es habe ihn sehr
geärgert, meint er dann aber durchaus ernst, "dass man in der Schweiz
offenbar in der Sache nicht scharf argumentieren kann, ohne dass das
Gegenüber dies als persönlichen Angriff auffasst". Er sagt es in jenem
Stakkato und in jenem gestochenen Hochdeutsch, bei dem sich Schweizer
so schnell gemaßregelt fühlen. Die Schweizer, findet Thielemann
nebenbei, sollten sich um ein besseres Deutsch bemühen. Wenn es darum
gehe, über die persönliche Befindlichkeit zu sprechen, möge ja der
Dialekt - die Mundart, wie die Schweizer sagen - die passende Sprache
sein; was aber die Reflexion betreffe, lasse das Hochdeutsche mehr
Differenzierung zu. Im übrigen aber weiß der Wissenschaftler die
Schweiz durchaus zu schätzen. Die Lebensqualität ist hoch, die
Landschaft schön und der menschliche Umgang angenehm. "Man ist hier
generell höflicher als in Deutschland, und es gibt viel weniger Dünkel
und viel mehr Egalität." Seit 1998 lebt Thielemann in der Schweiz. Aber
Schweizer Freunde hat der Deutsche aus Remscheid kaum, "eigentlich nur
deutsche, das hat sich so ergeben". Knapp 300 000 Deutsche leben
in der Schweiz, allein im vergangenen Jahr kamen über 30 000 an, vor
allem wegen der hohen Löhne und der niedrigen Steuern. Fast alle lassen
sich in der deutschsprachigen Schweiz nieder, vor allem in den
Großstädten, viele als Professoren, Ärzte oder CEO, wie
Vorstandsvorsitzende, alleinige Geschäftsführer und Generaldirektoren
in der Schweiz nach angloamerikanischem Vorbild genannt werden.
Deutscher Nationalität sind auch die CEOs der UBS, der größten
Schweizer Bank, und von ABB, einem elektrotechnischen Konzern, der sich
mit Siemens einen harten Wettbewerb liefert. An der Universität
Zürich dozieren neben 238 Schweizer Professoren 163 deutsche. Die
Deutschen sind in der Schweiz die am schnellsten wachsende und nach den
Italienern die zweitgrößte Ausländergruppe. Die Schweizer benötigen sie
dringend. Sie selbst haben zu wenig Ärzte und vor allem zu wenig
hochqualifizierte wissenschaftliche Fachkräfte. Vor 150 Jahren
ist das Waisenmädchen Heidi aus Graubünden nach Frankfurt ausgewandert,
um dort die gelähmte Klara zu pflegen. Damals gehörte die Schweiz zu
den ärmsten Ländern Europas. Seit dem Abschluss eines
Freizügigkeitsabkommen mit der EU 2002 haben zehntausende Deutsche den
umgekehrten Weg angetreten und sich in der reichen Schweiz angesiedelt. Sie
sind weniger beliebt, als sie selbst glauben. Noch hört man das Wort
"Sauschwoob" - "Schwabe" allein schon ist in der Schweiz ein
abwertender Ausdruck für Deutsche generell - selten, und selten auch
das Wort "Kuhschweizer", ein Begriff, der aus dem Schwabenkrieg von
1499 stammt und den Schweizern unterstellt, sie trieben es mit Kühen.
Doch konstatierte die Eidgenössische Kommission gegen Rassismus vor
wenigen Monaten, dass sich "die Gehässigkeiten" gegen Deutsche häuften.
Vor allem im Internet würden stereotype Bilder und Klischees
verbreitet. Die Spannungen nehmen zu. "Wie viele Deutsche erträgt die
Schweiz?" schlagzeilte die Boulevard-Zeitung Blick, und in ihrer
neuesten Ausgabe titelt die Zürcher SonntagsZeitung: "Es wird eng im
Paradies". Einem Clash of Civilizations, einem Zusammenprall der
Kulturen diesseits und jenseits des Rheins, will Eleonore Wettstein
entgegenwirken. Die Schweizerin ist Integrationsbeauftragte der GGG,
der Gesellschaft für das Gute und Gemeinnützige in Basel. Sie führt
kostenlos spezielle Informationsveranstaltungen für deutsche Zuwanderer
durch. Da sollen die deutschen Führungskräfte lernen, wie man sich in
der Schweiz besser nicht benimmt. "Wir schauen, dass die nicht in alle
Fettnäpfchen und Fußangeln treten, die der helvetische Alltag so parat
hält", erzählt die Mittfünfzigerin. "Man sagt nicht: Ich kriege die
Unterlagen morgen um neun Uhr auf den Tisch. Sondern: Ist es Ihnen
vielleicht möglich, mir morgen gegen neun Uhr die Unterlagen
vorbeizubringen? Und man sagt nicht: Das ist unbrauchbar. Sondern: Das
müssen wir noch mal zusammen anschauen." Wettstein rät auch davon
ab, am ersten Tag bei der neuen Nachbarin mit einem "Grüezi, ich bin
Ihr neuer Nachbar" hereinzuplatzen. Die Schweizer bräuchten etwas mehr
Zeit als andere, meint sie. Wenn die Deutschen Kontakt zu den
Einheimischen suchten, sollten sie am besten einem der zahllosen
Vereine beitreten. Gewiss sei die Sprache eine Barriere, räumt
Wettstein ein. Es gibt zwar Kurse für Schweizerdeutsch. Aber die
Deutsche bräuchten den schwierigen Dialekt nicht zu lernen, tröstet die
Baslerin, doch verstehen sollten sie ihn schon. Der Deutsche kann
es den Schweizern im übrigen schwerlich recht machen. Mit seinem
korrekten Hochdeutsch wirkt er anmaßend. Wenn er sich andererseits im
kehligen Dialekt versucht oder gar an jedes zweite deutsche Wort die
helvetische Verkleinerung -li anhängt, fühlt sich der Schweizer nicht
ernst genommen. "Die Deutschen finden uns niedlich, oft quaken sie es
auch noch laut heraus", sagt die Baslerin Wettstein. "Wir wollen aber
nicht niedlich sein." Auch Mathias Weigl will den deutschen
Immigranten helfen. Der 39-jährige Hamburger ist vor fünf Jahren in die
Schweiz gekommen. Im Schaufenster seines Büros in Luzern prangt
Schwarz-Rot-Gold friedlich neben dem weißen Kreuz auf rotem Grund. Der
Versicherungsmakler hat vor einem halben Jahr den "Verein Deutsche in
der Schweiz" gegründet. Viele Einwanderer haben ganz praktische
Probleme: Wie melde ich mein Auto um? Welche Krankenversicherung ist
für mich am günstigsten? Wo muss ich bei doppeltem Wohnsitz Steuern
bezahlen? Fragen über Fragen. Weigl hilft gerne. Die
Vereinsmitgliedschaft kostet 49 Franken (32 Euro) im Jahr. "Aber beim
Abschluss von Versicherungen schlage ich ihnen einen Rabatt raus",
behauptet Weigl, "viele sparen jährlich 700 Franken, da lohnt sich die
Mitgliedschaft allemal." "Die Schweizer haben einen
Minderwertigkeitskomplex." Weigl sagt den Satz apodiktisch. Er hat auch
eine Erklärung für die These: "Der Deutsche redet schneller, als der
Schweizer denken kann." Auch sonst ist der Versicherungsmakler mit
Allgemeinplätzen schnell zur Hand: "Der Deutsche ist kritisch. Der
Schweizer ist neutral. Er verträgt keine Ehrlichkeit. Er nimmt alles
persönlich. Er kann nicht Tacheles reden. Er will immer allen alles
recht machen. Der Deutsche ist ein schwieriger Kunde, er will immer
alles genau wissen. Der Schweizer unterschreibt blind, wird beschissen,
regt sich darüber aber nicht auf, weil er keinen Streit will." Er
sei aus rein wirtschaftlichen Gründen in die Schweiz ausgewandert, sagt
Weigl. "In Deutschland muss man ja für immer weniger Geld immer mehr
arbeiten." Auf Steinbrück ist er ganz schlecht zu sprechen: "Der will
doch bloß an das Geld anderer Leute ran. Man hat ja in Deutschland
keine Sicherheit mehr. Ich empfehle: Zweitkonto in der Schweiz.
Geschäftsleute werden doch in Deutschland alle als potenzielle Betrüger
behandelt." Integriert fühlt sich der umtriebige
Versicherungsmakler in der Schweiz nicht. "Die Leute reden zwar aus
Höflichkeit mit mir, aber eigentlich wollen sie, dass ich abhaue."
Trotzdem: Weigl will bleiben, auch wegen seiner Freundin. Die ist
Schweizerin. Aber sie werde immer wieder gefragt: "Wie kannst du nur
mit einem Deutschen?" Es ist Zeit, dass sich die Proxemik des
Problems annimmt. Das ist das Fachgebiet von Psychologen, die das
Raumverhalten von Menschen untersuchen. Es geht um Nähe und Distanz -
körperlich wie emotional. Was empfinden wir als aufdringlich? Was als
abweisend? Was als angenehm und was als unangenehm? Susanne
Schmutte, Eventmanagerin der Schweizer Zigarren- und Stumpenfabrik
Villiger, sagt: "Ich akzeptiere die Schweizer, wie sie sind, und bin
eben doch Deutsche. Ich trage mein Herz auf der Zunge. Das mögen die
Schweizer nicht unbedingt. Aber ich gewöhne mir an, mein Ziel dreimal
zu umkreisen, bevor ich sage, was ich will." Es gibt einen
Misstrauensvorschuss gegenüber den Deutschen. "Am Anfang hatte ich
Hemmungen, in der Straßenbahn zu telefonieren. Ich fühlte mich sofort
beobachtet", erinnert sich Schmutte. Doch heute ist sie "voll
integriert". Nach Deutschland zurück will sie nicht mehr. "Nieder
mit den Alpen - freie Sicht aufs Mittelmeer!", lautete eine Parole der
rebellischen Jugend zu Beginn der Achtzigerjahre. Sie spiegelt das Bild
wider, das viele Schweizer von andern Schweizern haben: Dem Schweizer
gebricht es an Weitblick und an einer mediterranen Nonchalance. Er ist
eben ein Spießer - oder ein "Bünzli", wie man in der Schweiz sagt. Er
ist ein "Tüpflischiisser" - oder Korinthenkacker auf Hochdeutsch. Aber
ähnliche Muster gibt es ja auch in Deutschland. Wenn ein Deutscher
etwas "typisch deutsch" findet, meint er das in der Regel negativ. Auch
die Stuttgarterin Christiane Binder, Journalistin in Zürich, ist
gegenüber ihren eigenen Landsleuten recht kritisch: "Viele Deutsche
sind einfach taktlos. Sie merken nicht, dass sie hier im Ausland sind.
Sie sind laut und lärmig, wie man hier sagt. Viele halten die Schweizer
für verschlagene Hinterwäldler. Sie sind misstrauisch und - kein Wunder
- ernten deshalb auch Misstrauen." Mit den Schweizern hat Binder vor
allem angenehme Erfahrungen gemacht. Allerdings schaut sie sich
Fußballspiele der deutschen Nationalmannschaft nie zusammen mit
Schweizern an: "Die freuen sich ja, wenn die Deutschen verlieren." Vielleicht erklärt sich das komplexe Verhältnis zwischen Schweizern und Deutschen am besten mit dem, was Sigmund Freund in seiner Abhandlung über "Das Unbehagen in der Kultur" 1930 den "Narzissmus der kleinen Differenzen" genannt hat. Man ist sich doch ähnlicher, als man wahrhaben will, und pflegt deshalb gerade die kleinen Unterschiede. Dieser Narzissmus, so meint der Begründer der Psychoanalyse, sei eine "relativ harmlose Befriedigung der Aggressionsneigung". Gemeinschaften stabilisieren sich, wenn sie die Aggression, statt nach innen, nach außen lenken. Vielleicht ist ja das, was die Schweizer an den Deutschen nicht mögen, nur das Deutsche in ihnen selbst. Ein ketzerischer Gedanke. © Berliner Zeitung |