Ein Pastor muckt auf |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 12.12.2009
Vor zwanzig Jahren gab Laszlo
Tökes das Startsignal zum Sturz der Diktatur in Rumänien. Weihnachten
wurden Nicolae und Elena Ceausescu hingerichtet.
Vier
Jahre lang hatte Mircea Dinescu geschwiegen, schweigen müssen. Der
einst als "rumänischer Majakowski" gefeierte Dichter war beim
"Conducator" (Führer), wie sich Rumäniens Staats- und Parteichef
Nicolae Ceausescu zu bezeichnen beliebte, in Ungnade gefallen. Dann
aber - am 22. Dezember 1989 - trat er vor die Kameras des staatlichen
Fernsehens: "Liebe Rumänen, ich bin gekommen, um euch mitzuteilen, dass
der Diktator gestürzt ist, um euch mitzuteilen, dass das Land frei ist,
um euch mitzuteilen, dass wir alle freie Menschen sind." Der Jubel in
Bukarest war unbeschreiblich. Vor 20 Jahren ging der rumänische
Albtraum zu Ende. Ceausescu, vom Westen lange Zeit hofiert, weil er
1968 den Einmarsch sowjetischer Truppen in die Tschechoslowakei
verurteilt hatte, war ein kommunistischer Potentat sui generis. Er riss
ein Fünftel der Bukarester Altstadt ab, um einen monströsen Volkspalast
zu bauen. Er ließ sich als "Genie der Karpaten" und "Titan unter den
Titanen" verherrlichen. Die "Epoche Ceausescu" wurde offiziell zur
"glorreichsten Epoche der rumänischen Geschichte" erklärt. Für das
gewöhnliche Volk aber bedeutete sie vor allem Not, Elend und
Entbehrung. Lebensmittel wie Zucker, Speiseöl und Fleisch waren
rationiert. Für die Milch, die es nur in den frühesten Morgenstunden
gab, stand man eine ganze Nacht durch an. Butter, Mehl und Reis kamen
nur gelegentlich in den Verkauf. Es gab täglich Strom-, Gas- und
Wassersperren. Wohnungen durften im Winter nur bis auf zwölf Grad
geheizt werden. Lehrer und Kinder saßen in den Schulzimmern in dicke
Mäntel gehüllt. Die Wende in Rumänien spielte sich in
schwindelerregendem Tempo ab - und sie hinterließ, anders als in den
übrigen Staaten des Ostblocks, viele Tote. Nur eine Woche, bevor
Dinescu seine historische Rede hielt, war in Temesvar das Startsignal
gefallen. In der zweitgrößten Stadt Rumäniens, dem Hauptort des Banat,
gibt es eine kleine deutsche Minderheit, der auch die
Nobelpreisträgerin Herta Müller entstammt, und eine etwas größere
ungarische Volksgruppe. Der Ungarisch-Reformierten Kirche von Temesvar,
stand 1989 ein recht aufmüpfiger Pastor vor: Laszlo Tökes. In seinen
Sonntagspredigten kritisierte er die Missstände im Land und auch die
Diskriminierung der ungarischen Minderheit, deren Schulen nach und nach
geschlossen wurden. Vor allem aber prangerte er die sogenannte
Systematisierung an, die Ceausescu 1988 verkündet hatte. Der Begriff
stand für das barbarische Projekt des Conducators, mehr als 7 000
Dörfer einzuebnen und deren Bevölkerung in 500 agro-industriellen
Zentren zusammenzufassen. Im März 1989 wird Tökes zu seinem
Vorgesetzten bestellt, zu Laszlo Papp, dem regimetreuen Bischof von
Oradea. Der kündigt ihm die Versetzung nach Mineu, einen kleinen Ort in
Siebenbürgen, an und händigt ihm die Entlassungsurkunde aus. Tökes'
Einspruch wird abgelehnt, und der Bischof fordert den Pastor
schriftlich auf, die Wohnung, die im ersten Stock eines Wohnblocks,
just unter dem Kirchenraum im zweiten Stock, liegt, bis Freitag, den
15. Dezember, zu räumen. Am Sonntag zuvor spricht Tökes von der Kanzel
zu seiner Gemeinde: "Liebe Brüder und Schwestern in Christus. Mir wurde
befohlen, das Haus zu räumen. Da ich die Aufforderung nicht akzeptiere,
werde ich mit Gewalt aus eurer Mitte entfernt werden. Bitte seid am
kommenden Freitag als Zeugen zur Stelle, seid friedfertig, aber seid
Zeugen!" Schon am frühen Freitagmorgen treffen einige Dutzend
Gläubige vor Tökes' Haus ein, obwohl dort auch Posten der Securitate,
der gefürchteten Geheimpolizei, Stellung bezogen haben. Am Nachmittag
sind es bereits Hunderte, am Abend mehr als tausend. Sie beten, zünden
Kerzen an, singen "Erös car a mi istenünk" - "Das Gotteshaus ist die
größte Macht" - und andere Kirchenlieder. Der Bürgermeister schaut
vorbei und fragt den Pastor, ob es Probleme gebe. "Wir können nicht
einkaufen, wir haben keinen Brennstoff, die Behörden haben unsere
Fenster zertrümmert, unsere Tür ging entzwei, als wir von der
Securitate angegriffen wurden", zählt Tökes die Missstände auf, "und
der Arzt durfte meine Frau nicht besuchen, obwohl sie schwanger und in
keiner guten Verfassung ist." Kaum ist der Bürgermeister gegangen,
tauchen von überall her Geheimpolizisten auf und greifen die Menge mit
Knüppeln an. Nur etwa 150 Personen halten die ganze Nacht über vor dem
Wohnblock des Pastors Wache. Am Samstag ist die Menschenmenge vor
Tökes' Wohnblock viel größer als am Vortag. Und längst sind es nicht
mehr nur Ungarn, sondern nun vor allem Rumänen. Die Feuerwehr
verspritzt mit Tränengas versetztes Wasser. Die Menschen singen
"Desteapta-te, romane" - "Erwache, Rumäne", ein Lied aus der
1848er-Revolution, das unter Ceausescus Herrschaft verboten ist und
schon bald Nationalhymne werden wird. Auf dem Opernplatz im Zentrum der
Stadt ertönen Rufe wie "Nieder mit Ceausescu!" - "Nieder mit dem
Regime!" - "Nieder mit dem Kommunismus!" Am Abend strömen die
Arbeiter zahlreicher Betriebe in die Innenstadt. Angeführt werden sie
von Sorin Oprea. Der 27-jährige Elektriker ist stadtbekannt. Er hat vor
drei Wochen erst einen Hungerstreik abgebrochen, mit dem er
menschenwürdige Arbeitsbedingungen, ein besseres Essen in der Kantine
und neue Schweißgeräte für seinen Betrieb durchsetzen wollte. Oprea, in
Turnschuhen und Jeans, führt die Menge zur örtlichen Parteizentrale.
Bald sind sämtliche Fensterscheiben des Gebäudes zertrümmert. Gegen
zehn Uhr abends rücken Einheiten der Securitate an. Der wütenden Menge
gelingt es, einen Wasserwerfer zu erobern. Er wird in einzelne Teile
zerlegt und in die Bega, den Stadtkanal, geworfen - wie auch die
gesammelten Werke von Ceausescu, die Demonstranten aus einer
aufgebrochenen Buchhandlung herbeischleppen. Ein Laden, in dem
Pelzmäntel ausgestellt sind, geht in Flammen auf. Pelzmäntel kann sich
im völlig verarmten Land nur die Nomenklatura leisten. Um drei
Uhr früh kommen die Grenztruppen zum Einsatz. Sie jagen die
Demonstranten durch die Straßen und knüppeln jeden Protest
erbarmungslos nieder. Hunderte werden verhaftet. Viele von ihnen werden
ins berüchtigte Gefängnis der Securitate gebracht. Um vier Uhr früh
herrscht in Temesvar wieder Ruhe, Friedhofsruhe. In derselben
Nacht hat sich Tökes vorsichtshalber mit seiner schwangeren Frau und
zwei engen Freunden in die Kirche im zweiten Stock seines Wohnblocks
zurückgezogen. Er steht im Talar und in gelben Latschen da, als die
Securitate die Tür einbricht. Die Geheimpolizisten schlagen den Pastor,
der ihnen wie eine Waffe die Bibel entgegenhält, fürchterlich zusammen
und deportieren ihn nach Mineu, ins Dorf, wohin ihn Bischof Papp
beordert hat. Dort wird er unter Hausarrest gestellt. Doch
Temesvar kommt auch am Sonntag nicht zur Ruhe. Niemand weiß, wohin der
beliebte Pastor verschleppt wurde und ob er überhaupt noch am Leben
ist. Klar ist nur, seine Sonntagspredigt fällt aus. Schon am Mittag
stürmen Demonstranten die Parteizentrale und werfen die Porträts des
Conducators aus den Fenstern. Im Zentrum der Stadt werden überall
Schaufenster zerschlagen. Bücher Ceausescus und seiner Frau Elena, der
"liebenden Mutter der Nation", die noch verhasster als der Diktator
selbst ist, werden verbrannt. Um 17 Uhr feuern Einheiten der
Grenztruppen ohne jede Vorwarnung in die Menge. Panik macht sich breit.
Doch immer wieder hört man Sprechchöre: "Nieder mit der Diktatur" -
"Freiheit! Freiheit!" Bis in die frühen Morgenstunden wird demonstriert
und geschossen. Doch der Widerstand ist nicht gebrochen. Während
die Securitate in die Krankenhäuser eindringt, um Schwerverletzte zu
verhören, verlangen am Montag Demonstranten die Herausgabe ihrer Toten.
Mindestens 50 Menschen sind in der Nacht im Kugelhagel von Grenztruppen
und Securitate gestorben. Nun treten auch Arbeiter einzelner Betriebe
in den Streik. Sie wollen die Bestrafung jener, die auf dem Opernplatz
zwei Arbeiterkinder erschossen haben. Panzer fahren in der Stadt auf.
Wieder wird geschossen. Doch es gibt am Montag keine weitere Toten. Am
Dienstag nehmen die Demonstranten den Opernplatz ein. Nun schickt Elena
Ceausescu - ihr Mann ist am Vortag zu einem Staatsbesuch in den Iran
abgereist - Ministerpräsident Constantin Dascalescu zu Verhandlungen
nach Temesvar. Er trifft sich in der besetzten Parteizentrale mit einer
von Oprea angeführten Delegation der Demonstranten. Der Premier muss
das Gebäude durch einen Hintereingang verlassen, während der Elektriker
vom Balkon aus der Menge verkündet, die Verhandlungen hätten nichts
gebracht. Am Mittwoch kommt es zu neuen Massendemonstrationen,
den größten, die Temesvar je gesehen hat. Völlig unerwartet greifen die
militärischen Verbände nicht ein. Junge Männer springen auf die Panzer,
Mädchen bringen den Soldaten Blumen und Essen. Es kommt überall in der
Stadt zu Verbrüderungsszenen. Vom Balkon der Oper verliest ein
"Provisorisches Komitee der Revolution", dem Arbeiter, Studenten,
Professoren, Journalisten und Schriftsteller angehören, seine
Forderungen: Meinungsfreiheit, Freilassung der politischen Gefangenen,
Rückgabe der Toten und vieles andere mehr. Die Proklamation geht im
Applaus unter, die Menge tanzt die "Hora unirii", einen rumänischen
Nationaltanz, und betet gemeinsam das Vaterunser. Im fernen
Bukarest ist inzwischen Ceausescu aus dem Iran zurückgekehrt. In einer
Fernsehansprache an sein Volk spricht er von "terroristischen,
antinationalen Gruppen", die zusammen mit "reaktionären,
imperialistischen und chauvinistischen Kreisen" Militäreinheiten
angegriffen hätten. Erst jetzt erfährt ganz Rumänien, dass es in
Temesvar zu Unruhen gekommen ist. Am Donnerstag ordnet der
Conducator in der Hauptstadt eine Massenveranstaltung an. Zehntausende
von Arbeitern, Studenten und Angestellten werden herbeigekarrt. Doch
schon nach wenigen Minuten wird Ceausescu ausgebuht. Die Kundgebung
wird live übertragen, und so sieht ganz Rumänien, wie das Gesicht des
völlig überraschten Staats- und Parteichefs zur Maske erstarrt. Der
Bann ist gebrochen. Am Freitag erstürmen Demonstranten in
Bukarest das Zentrum der Macht, das Gebäude des Zentralkomitees der
Partei, in dem sich auch Ceausescu und seine Frau aufhalten. Die beiden
flüchten in einem Hubschrauber, der auf dem Dach des Gebäudes landet -
die Szene wird live übertragen, Demonstranten haben zuvor das
Fernsehgebäude gestürmt. Am Abend liefern sich Securitate und Armee auf
den Straßen der Hauptstadt Gefechte. Auch viele Demonstranten sterben
im Kugelhagel. Drei Tage später, an Weihnachten, werden Nicolae
und Elena Ceausescu außerhalb von Bukarest aufgespürt, festgenommen, in
einem militärischen Eilverfahren zum Tod verurteilt und hingerichtet. Die
rumänische Revolution hat mehr als tausend Todesopfer gefordert. Aber
war es überhaupt eine Revolution? Inzwischen spricht vieles dafür, dass
hohe Armeekreise auf eine Ablösung des Conducators hinarbeiteten und
dass sogar ein Teil der Securitate die Demonstrationen steuerte. Vieles
ist bis heute ungeklärt. Klar ist nur, dass die Nutznießer der Wende
zunächst vor allem die Wendehälse waren. Der gewendete Kommunist Ion
Ilescu wurde 1990 zum Präsidenten gewählt und errichtete ein
halbautoritäres, halbdemokratisches Regime, das bis zum Wahlsieg des
Christdemokraten Emil Constantinescu im Jahr 1996 andauerte. Der Pastor Laszlo Tökes, der das Startsignal zum Sturz der Diktatur gegeben hat, ist heute Europaabgeordneter, und der Dichter Mircea Dinescu, der den Sturz des Tyrannen verkündet hat, lebt in einem rumänischen Dorf an der Donau - als Weinbauer. © Berliner Zeitung |