Gründonnerstag in Caracas |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.04.2010
Mit einer Revolte in Venezuela begann vor 200 Jahren der Kampf um ein freies LateinamerikaEs war Gründonnerstag, der 19. April 1810, und der Gouverneur
von Caracas, Feldmarschall Vicente de Amparan, hatte um sieben Uhr früh
vor der Kathedrale den Stadtrat versammelt. Wie es die Sitte erforderte,
wollte man gemeinsam der Heiligen Messe beiwohnen. Doch da kam ein Bote
an und raunte dem Gouverneur zu, er werde im Rathaus erwartet, es sei
dringend. Amparan schritt also über den großen Platz, auf dem schon
außergewöhnlich viel Menschen aufgeregt diskutierten, zurück Richtung
Rathaus. Am Vortag war in La Guaira, dem Hafen 20 Kilometer
nördlich von Caracas, die Schonerbrigg "Palomo" aus dem spanischen Cadiz
eingelaufen. Sie hatte neue Nachrichten aus der Alten Welt mitgebracht.
Und obwohl die spanischen Kolonialbehörden eine strikte Zensur verhängt
hatten und ankommende Schiffe peinlichst kontrollierten, war die
Neuigkeit bereits in Caracas, der Hauptstadt des Generalkapitanats
Venezuela, angekommen, die nur durch den schmalen, zweitausend Meter
hohen Ávila-Gebirgszug vom Karibischen Meer getrennt ist. Napoleon hatte
also auch Sevilla erobert. Ganz Spanien war besetzt - bis auf Cadiz, im
äußersten Süden Andalusiens. Der spanische König Ferdinand VII.
lebte mit seiner Familie schon seit bald zwei Jahren im Schloss Valençay
bei Tours faktisch unter Hausarrest. Immerhin ließ der französische
Kaiser seinem prominenten Gefangenen eine üppige Jahresrente in Höhe von
einer Million Franc zukommen. In Spanien hatte Napoleon seinen älteren
Bruder Joseph als König eingesetzt. In Sevilla regierte eine
Zentraljunta, die König Ferdinand treu blieb. Nachdem aber die gesamte
Iberische Halbinsel unter französische Kontrolle geraten war, hatte sich
die Junta aufgelöst und die Macht an einen Regentschaftsrat in Cadiz
übergeben, das von den Franzosen beschossen und belagert, aber nie
eingenommen wurde. Dies war also die politische Weltlage, als in
Caracas der Gouverneur des Generalkapitanats Venezuela, das direkt der
spanischen Krone und nicht dem Vizekönig von Neu-Granada mit Sitz in
Bogota unterstellt war, über den Platz zum Rathaus schritt. Amparan
begab sich in den ersten Stock des Rathauses, wo sich die wichtigsten
Männer der liberalen kreolischen Aristokratie versammelt hatten. Kreolen
nannten sich die Abkömmlinge der Spanier, die in der Kolonie geboren
waren. Sie kontrollierten zwar weitgehend die Wirtschaft, an den Hebeln
der politischen Macht aber saßen spanische Kolonialbeamte. Im großen
Saal des Rathauses roch es förmlich nach Rebellion. Die
Versammelten forderten den Gouverneur unverblümt auf, eine provisorische
Regierung von Caracas einzusetzen, die gegebenenfalls die Provinz
verteidigen und die Rechte des Monarchen wahren sollte. Sie boten ihm
sogar den Vorsitz im neuen Gremium an. Bei seinem Amtsantritt ein Jahr
zuvor hatte Amparan verkündet: "Es wird hier kein anderes Gesetz geben
als meinen Willen." Nun aber zögerte er, versprach, den Vorschlag zu
überdenken, erst wolle er die Heilige Messe besuchen. Er erhob sich,
verließ den Saal und machte sich auf den Weg zur Kathedrale. Dort aber
strömten nun Patrioten zusammen, um ihm den Weg in die Kathedrale zu
versperren. Einer von ihnen, Francisco Salias, packte ihn beherzt am Arm
und forderte ihn auf, ins Rathaus zurückzukehren. "Zurück ins Rathaus!"
riefen nun auch die Umstehenden. Angesichts der angespannten
Situation legten die 50 spanischen Grenadiere die Waffen an. Ihr
Kommandant aber befahl: "Gewehr bei Fuß." Da ihm die Truppe bei seiner
Rückkehr zur Kathedrale auch keine militärische Ehrenbezeigungen
erwiesen hatte, kehrte der Gouverneur ziemlich verwirrt ins Rathaus
zurück. Dort wollte er den Vorschlag der Versammelten annehmen.
Doch nun trat der Domherr Cortes de Madariaga dazwischen. Er hatte an
den zahlreichen Versammlungen der Verschwörer nicht teilgenommen, aber
diese wussten ihn auf ihrer Seite. Er forderte die Bildung einer eigenen
Regierung - ohne den Gouverneur. Der sei nämlich beim Volk verhasst.
Amparan schritt zum Balkon, um die Stimmung des Volkes zu testen. Er
rief zur Menge, die sich auf dem Platz versammelt hatte: "Seid ihr mit
meiner Regierung zufrieden?" Hinter ihm aber stand der Domherr und
beschwor die Leute unter dem Balkon mit eindeutigen Gesten. "Wir wollen
ihn nicht! Wir wollen ihn nicht!" schrien die Menschen zurück. "Na gut",
antwortete Amparan resigniert, "dann will ich auch nicht." Seine
historischen Worte wurden als Abdankung interpretiert und sofort
protokollarisch festgehalten. Es wurde eine Vertretung von Caracas
gebildet. Den Gouverneur aber brachte man nach La Guaira, wo er in die
Vereinigten Staaten verschifft wurde. Die Revolution hatte gesiegt! Kein
Tropfen Blut war geflossen. Es war eine Revolution der
kreolischen Oberschicht, die sich der spanischen Vormundschaft
entledigen wollte. Das einfache Volk stand abseits. Als erste Maßnahmen
beschloss die neue Regierung die Abschaffung der Umsatzsteuer auf
Lebensmittel, das Verbot des Sklavenhandels, die Beseitigung der
Exportzölle und die Freigabe des Handels mit befreundeten und neutralen
Staaten. Sie hatte ihre Souveränität im Namen Ferdinands VII. erklärt.
Noch wagte man nicht, sich öffentlich von der spanischen Krone
loszusagen. Doch die Ereignisse von Caracas waren der Auftakt zu einer
Reihe von Rebellionen auf dem ganzen Subkontinent. Im Mai kam es zu
einer Revolution in Argentinien und Paraguay, im Juli in Kolumbien
(damals Neu-Granada), im August in Peru, im September in Mexiko. Überall
übernahm eine kreolische Elite die Macht. Und überall bereiteten
nun die Spanier den Gegenschlag vor. Auch in Venezuela. Nicht sämtliche
Provinzen des Generalkapitanats hatten sich den Patrioten von Caracas
angeschlossen. Coro, Maracaibo und Guyana hatten sich hinter den
spanischen Regentschaftsrat von Cadiz gestellt. Der Versuch, diese
Provinzen zu unterwerfen, mündete in einen offenen Krieg, der sich noch
verschärfte, als ein neu gebildeter Kongress in Caracas am 5. Juli 1811
die Unabhängigkeit Venezuelas proklamierte. Am vehementesten für
die Ausrufung der Republik hatte sich ein Mann eingesetzt, der schon an
der Verschwörung vom 19. April 1810 maßgeblich beteiligt war, sich
damals aber noch im Hintergrund gehalten hatte: Simón Bolívar, Spross
einer der reichsten Familien der kreolischen Aristokratie. In die
Weltgeschichte ging er als "El Libertador", der Befreier, ein. Es
drängte ihn, die Verteidigung der bedrohten Republik zu übernehmen. Doch
mit dieser Aufgabe wurde Francisco de Miranda betraut. Der legendäre
General war schon 1805 und 1806 in Venezuela gelandet, um einen Aufstand
gegen die Spanier zu entfachen. Nach den beiden missglückten Versuchen
hatte er sich nach London ins Exil begeben. Nun war er zurück. Wirtschaftlich
sah sich die junge Republik schon bald vor horrende Probleme gestellt.
Einen großen Teil des Budgets verschlang der Kauf von Waffen und
Munition. Dann fielen unversehens die Preise für Kakao und Kaffee, die
beiden wichtigsten Exportprodukte des Landes, in den Keller. Das Gehalt
der Staatsangestellten musste halbiert werden. Unzufriedenheit mit dem
neuen Regime machte sich breit. Das Volk murrte und immer wieder liefen
Soldaten zu den Spaniern über. Die Katastrophe brach am 26. März
1812 über Venezuela herein. Es war wieder ein Gründonnerstag. Die Erde
bebte fürchterlich. Allein in Caracas blieben über 10 000 der damals 45
000 Einwohnern tot unter den Trümmern zurück. Viele Bewohner der
Hauptstadt hielten das Erdbeben für ein Zeichen göttlichen Zorns über
die frevelhafte Regierung, die es gewagt hatte, sich von der Krone des
katholischen Spanien loszusagen. Aufgehetzt von Priestern, die inmitten
von Ruinen Hasspredigten gegen die Revolutionäre hielten, riefen sie
nach König Ferdinand. Das Erdbeben brach der ersten Republik das
Genick. Am 25. Juli 1812 kapitulierte sie vor den spanischen Truppen.
Miranda, der sich militärisch als Versager herausgestellt hatte, wurde
von einer Gruppe um Bolívar festgenommen und an die Spanier überstellt.
Bis 1814 hielten diese ihn in einem Gefängnis der Hafenstadt La Guaira
fest, dann überstellten sie ihn nach Cadiz, wo er 1816 in Kerkerhaft
starb. Bolívar ließen die Spanier ausreisen. Schon ein Jahr später
war er in Caracas zurück und rief im August 1813 die Zweite Republik
aus. Doch auch sie hatte nur zwei Jahre Bestand. Bolívar musste erneut
fliehen. © Berliner Zeitung |