Einmal Zürich und nicht zurück |
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 21.06.2010
Die Schweiz praktiziert die weltweit liberalste Regelung der
Sterbehilfe. Deshalb gibt es mittlerweile einen "Sterbetourismus", den
die Regierung nun eindämmen will
ZÜRICH. Der Weg zu dem Mann, den manche den Todesengel nennen, führt durch blühende Landschaften. Wiesen und Wälder wechseln sich ab. Der rote Regionalzug fährt zum Rücken des Pfannenstiels hoch, wie der Hügelzug oberhalb von Zürich heißt. Am Horizont taucht ab und zu die verschneite Kette der weit entfernten Hochalpen auf. Schließlich hält der Zug in Scheuren, einem Dörfchen mit adretten Häusern und blitzsauberen Autos vor den Garagen. Hier wohnt Ludwig A. Minelli. Der
77-jährige Jurist, der 27 Jahre lang als Journalist gearbeitet hat,
zehn Jahre davon als Korrespondent des Spiegels, führt den Gast durch
den lichtdurchfluteten Salon in den Wintergarten. Neben Blumen und
Kräutern wachsen Bergamotten, gelbe Zitrusfrüchte, denen der Earl Grey
sein spezifisches Aroma verdankt. "Teeologie ist die einzige Theologie,
die ich akzeptiere", sagt er, "und in religiösen Fragen halte ich es mit
der Maxime: lieber Heidenspaß als Höllenqualen." Höllische Qualen Es
sind einstudierte Phrasen, die er wohl schon oft gedroschen hat.
Trotzdem, es sind die höllischen Qualen, die viele Menschen an ihrem
Lebensende erleiden, die Minelli bewogen haben, 1998 den Verein
"Dignitas" - zu Deutsch "Würde" - zu gründen. Der Mensch, so betont er,
hat nicht nur das Recht auf ein würdevolles Leben, sondern auch auf ein
würdevolles Sterben. Minelli organisiert Freitodbegleitungen - oder
"Beihilfe zum Selbstmord", wie seine Gegner meinen. Die Schweiz
hat wohl weltweit die liberalste Regelung der Sterbehilfe. Wer hingegen
in Deutschland, wo die Nazis einst psychisch Kranke und physisch oder
geistig Behinderte als "unwertes Leben" systematisch vernichteten,
Beihilfe zum Suizid leistet, riskiert ein Strafverfahren wegen
unterlassener Hilfeleistung. Bisher jedenfalls. Das könnte sich am 25.
Juni ändern. Dann wird der Bundesgerichtshof in Karlsruhe sein Urteil im
Fall Wolfgang Putz bekanntgeben. Der Rechtsanwalt hatte der Tochter
einer Frau, die seit fünf Jahren im Wachkoma lag, empfohlen, den
Schlauch zu durchschneiden, der zur Ernährungssonde führte. Die Frau
befolgte den Ratschlag, worauf das Pflegeheim die Polizei rief und die
künstliche Ernährung wieder aufnahm. Die alte Frau starb zwei Wochen
später aus einem anderen Grund. In einem Prozess wurde ihre
Tochter freigesprochen, der Rechtsanwalt aber zu neun Monaten Haft auf
Bewährung verurteilt. Nun will der Bundesgerichtshof eine
Grundsatzentscheidung fällen, ob das Durchschneiden des Schlauchs eine
aktive Tötungshandlung oder lediglich die Beendigung einer
lebensverlängernden Maßnahme ist. Während also in Deutschland die
Sterbehilfe möglicherweise schon bald ein Stück liberalisiert wird,
zeichnet sich in der Schweiz just eine gegenteilige Tendenz ab. Jahr für
Jahr begeben sich viele Deutsche zum Sterben ins Nachbarland. Schon
lange ist von einem "Sterbetourismus" die Rede. Nun will die
Bundesregierung in Bern die Hilfe zum Suizid stark einschränken. Sie
soll nur noch erlaubt sein, wenn die sterbewillige Person "an einer
unheilbaren Krankheit mit unmittelbarer tödlicher Prognose" leidet - und
dies von zwei unabhängigen ärztlichen Gutachten bescheinigt wird. Vor
drei Jahren hat das Schweizer Bundesgericht festgestellt, dass das
Selbstbestimmungsrecht im Sinne der Europäischen
Menschenrechtskonvention "auch das Recht, über Art und Zeitpunkt der
Beendigung des eigenen Lebens zu entscheiden", umfasst. Suizidhilfe darf
deshalb - bislang noch - in der Schweiz gewährt werden, wenn die
sterbewillige Person weiß, was sie tut (Urteilsfähigkeit), nicht aus
Affekt handelt (Wohlerwogenheit), einen dauerhaften Sterbewunsch hegt
(Konstanz), von Dritten nicht beeinflusst wird (Autonomie) und den
Suizid eigenhändig ausführt (Handlungsfähigkeit). "Rein rechtlich
gesehen dürfen also auch junge gesunde Menschen begleitet werden", sagt
Hans Wehrli, "aber wir helfen nur Menschen mit hoffnungsloser Prognose
oder mit unerträglichen Beschwerden oder mit unzumutbarer Behinderung."
Wehrli, geboren 1940, ist Präsident von "Exit", der mit 53 000
Mitgliedern größten Schweizer Sterbehilfeorganisation, die bereits 1982
gegründet wurde. Für einen Jahresbeitrag in Höhe von umgerechnet 30 Euro
bietet sie nach einer Mitgliedschaft von mindestens drei Jahren eine
kostenlose Sterbebegleitung an. Hans Wehrli hat
Naturwissenschaften studiert, ist Doktor der Philosophie, hat ein
ziemlich schwer verständliches Buch mit dem Titel "Metaphysik.
Chiralität als Grundprinzip der Physik" geschrieben und wohnt in einer
Villa in bester Lage oberhalb des Zürichsees. Er wirkt abgeklärt, lacht
oft etwas verstockt just an den Stellen des Gesprächs, wo es andere
vielleicht gruseln würde. Womöglich hat er einfach zu viel erlebt oder
zu oft über das geredet, was man zu verdrängen gewohnt ist. "Wir machen
effiziente Suizidprävention", sagt er, "wer weiß, dass er im äußersten
Notfall bei 'Exit' Hilfe findet, wird nicht so schnell Hand an sich
selbst legen wie derjenige, der keinen Notausgang sieht." Im
Unterschied zu "Dignitas" begleitet "Exit" nur in der Schweiz ansässige
Personen in den Tod - im Krankenhaus, im Altersheim, im Pflegeheim oder
zu Hause. Die Sorgfaltspflicht lasse Hilfe für Personen im Ausland nicht
zu, meint Wehrli. Ein Arzt muss schließlich die Urteilsfähigkeit des
Sterbewilligen bescheinigen, und die Freitodbegleiter müssen
entscheiden, ob der Patient tatsächlich autonom - und nicht etwa unter
dem Druck von Erben - zu seinem Beschluss gekommen ist. Auch über die
Konstanz des Sterbewillens und über die Wohlerwogenheit des Entschlusses
befindet der Freitodbegleiter. Wohlerwogen - das heißt der Patient muss
auch über mögliche Alternativen, etwa Palliativmedizin, Bescheid
wissen, und er muss sich auch Gedanken machen, was seine Entscheidung
für die Angehörigen bedeutet. Das alles fordert Zeit, viele
Begegnungen, viele Gespräche. Etwa 1 500 Anfragen erhält "Exit"
jährlich, in rund 300 Fällen werden die tödlichen Rezepte - entweder vom
Hausarzt oder einem Konsiliararzt der Sterbehilfeorganisation -
ausgestellt. "In etwa 170 Fällen kommt es dann zum Tod", bilanziert
Wehrli, "die anderen 130 Fälle melden sich gar nicht mehr." "Exit"
gilt in der Schweiz weithin als seriöse Organisation. Trotzdem meldet
Otfried Höffe Bedenken an. Er befürchtet, dass der Giftbecher zu schnell
gereicht wird. Der deutsche Moralphilosoph, der im schweizerischen St.
Gallen eine ständige Gastprofessur für Rechtsphilosophie hat, präsidiert
die von der Regierung eingesetzte Nationale Ethikkommission der
Schweiz. "Jeder hat das Recht, sich zu töten", sagte er jüngst im
Interview mit der Basler Zeitung. Doch sei die Frage berechtigt, "ob
Suizidhilfe, die unter die Kategorie der Tötungsdelikte fällt, zulässig
ist und in welchem Fall sie missbräuchlich ist". Höffe plädiert
für den Ausbau der aus finanziellen Gründen staatlich vernachlässigten
Palliativpflege, die umfassende Sterbebegleitung unter Einsatz
schmerzlindernder Medikamente bietet. Außerdem unterstützt Höffe die
Hospizbewegung. Gegen die geplante Einschränkung des Rechts auf
Sterbehilfe wird er nicht opponieren. Angst vor Einsamkeit In
der Schweiz ist der Anteil der nicht tödlich Erkrankten, denen
organisierte Sterbehilfe gewährt wird, markant gestiegen. Betrug er in
den 90er-Jahren noch 22 Prozent, so stieg er im Zeitraum von 2001 bis
2004 auf bereits 34 Prozent. Rheuma und chronische Schmerzen wurden am
häufigsten als Gründe für den Sterbewillen angeführt. Vielleicht würde
sich in vielen Fällen bei umsichtigem Nachfragen herausstellen, dass der
Sterbewunsch so groß gar nicht ist, dass der Patient eigentlich Angst
vor Einsamkeit hat oder den Angehörigen nicht zur Last fallen will. In
einzelnen Fällen wurde auch psychisch Kranken Suizidhilfe gewährt. Kann
aber ein Sterbebegleiter entscheiden, ob ein psychisch Kranker oder
jemand, der an Alzheimer leidet, urteilsfähig ist, sich autonom und nach
Abwägung der Alternativen entscheidet? Der an Demenz leidende
frühere Tübinger Rhetorik-Professor Walter Jens war einst ein großer
Verfechter der aktiven Sterbehilfe. Er hat mit seiner Frau Inge zusammen
eine Patientenverfügung unterzeichnet, aus der hervorgeht, dass er in
seinem jetzigen Zustand nicht mehr leben will. Inge Jens berichtete
jüngst in einem Interview mit der Deutschen Presseagentur: "Neulich hat
er gesagt: 'Nicht totmachen, bitte nicht totmachen.' Ich bin mir nach
vielen qualvollen Überlegungen absolut sicher, dass mich mein Mann jetzt
nicht um Sterbehilfe, sondern um Lebenshilfe bittet." Dass die
Schweiz nun wieder über Sterbehilfe diskutiert, hat allerdings nicht so
sehr mit einem neuen Problembewusstsein oder mit einer Kritik an "Exit"
zu tun, sondern viel mehr mit Minelli, dem Chef von "Dignitas". Der
sorgt zuverlässig und regelmäßig für Schlagzeilen wie "Sterbehilfe auf
dem Parkplatz!" oder "Asche in den Zürichsee gekippt!" Zudem wird
ihm vorgeworfen, dass er möglichst viel Leute möglichst schnell aus der
Welt schaffe, um sich daran zu bereichern. Die Beihilfe zu Suizid "aus
selbstsüchtigen Beweggründen" aber ist auch in der Schweiz strafbar.
Doch wurde Minelli in einem Gerichtsverfahren, bei dem er lukrativer
Geschäfte bezichtigt wurde, freigesprochen - mangels Beweisen. An
seinem schlechten Image ist Minelli nicht unschuldig. "Dignitas hat zwei
aktive Mitglieder", sagt er, "das eine bin ich, das andere will anonym
bleiben, was ich respektieren muss." Die Buchhaltung legt er nicht
offen. "Ich muss mich dauernd in Strafprozessen verteidigen", klagt er,
"ich komme gar nicht dazu, eine ordentliche Buchhaltung zu führen." Natürlich
habe er die Asche in den See schütten lassen, sagt Minelli, das sei der
letzte Wunsch des Sterbewilligen gewesen. Ja, da sei tatsächlich einer
auf dem Parkplatz in seinem Auto gestorben. "Aber wenn es im Hotel
geschieht, gibt es ja auch Schlagzeilen. Wer will schon in einem Hotel
nächtigen, in dem einige Zimmer weiter jemandem Gift bereitgestellt
wird?" Das Problem ist, dass mittlerweile neunzig Prozent der
Patienten, die sich an "Dignitas" wenden, im Ausland wohnen. Sie können
also nicht zu Hause sterben. Die Wohnung, die er in Schwerzenbach
angemietet habe - "übrigens just über einem Puff" -, sei ihm gekündigt
worden, klagt der Sterbehelfer. Nun hat Minelli eine Lösung
gefunden. Er zeigt sein neues Sterbehaus am Rand einer Industriezone von
Pfäffikon, einem Dorf im Zürcher Hinterland. Im Teich des Gartens
schwimmen Goldfische. Das Sterbezimmer, in das von zwei Seiten Licht
hereinströmt, ist spartanisch, aber doch freundlich eingerichtet: ein
Bett, wie man es in Krankenhäusern findet, zwei Stühle, ein Tisch, ein
Blumenstrauß, alles sehr sauber. "Wir stellen dem Sterbewilligen
Dosen von 15 Gramm Natrium-Pentobarbital und 60 Milliliter Wasser zur
Verfügung", erklärt der "Dignitas"-Chef, "wir fragen immer ein letztes
Mal: 'Wollen Sie wirklich?' Nach drei bis fünf Minuten schlafen die
Leute mitten im Satz ein. Dann wird das Atemzentrum außer Betrieb
gesetzt, absolut schmerzlos." Aber es komme schon vor, dass man einen
Patienten auf die Seite legen müsse, "damit es vorangeht". Seine
Organisation habe mehr Menschen gerettet als in den Tod begleitet,
behauptet Minelli. Viele, die zu ihm gekommen seien, hätten vom Freitod
Abstand genommen, nachdem sie die Sicherheit hatten, notfalls
Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu können. "Wenn es uns nicht gäbe", sagt
er, "müsste man noch viel öfter Reste von Leuten zusammenkratzen, die
sich vor einen Zug werfen". Der "Dignitas"-Chef gebraucht gern derbe
Ausdrücke. In die Schlagzeilen Wenn Minelli aber davon
berichtet, wie seine Großmutter gelitten habe, wie er selbst keine
Gelegenheit hatte, sich von seiner Mutter zu verabschieden. Wenn er von
den Menschen spricht, mit denen er zu tun hatte, von Situationen, die
ihm sehr nah gegangen sind, glaubt man ihm sofort, dass er nicht der
geldsüchtige Todesengel ist, als den ihn die Medien so oft hingestellt
haben. Andererseits schreckt er vor keiner Provokation zurück. "Im
Zweiten Weltkrieg haben wir (Schweizer) an der Grenze Juden abgewiesen,
die später in KZs gestorben sind", diktierte er vor Monaten dem
britischen Guardian ins Mikrofon, "jetzt zwingen wir Menschen, die ihr
Leben in der Schweiz beenden möchten, weiterzuleben. Was ist grausamer?"
Sagt dies der ehemalige Journalist, um die Menschen zum Nachdenken
anzuregen oder um Schlagzeilen zu machen? Dass das eidgenössische
Parlament ein Gesetz verabschiedet, das die Sterbehilfe erschwert,
glaubt Minelli nicht. "Exit" und "Dignitas" würden sofort Unterschriften
sammeln und eine Volksabstimmung erzwingen. Fast drei Viertel der
Schweizer Bevölkerung seien laut einer neuen Umfrage für die
Beibehaltung der geltenden gesetzlichen Bestimmungen, und 56 Prozent
würden notfalls selbst auch Sterbehilfe annehmen. Und wie denkt
Minelli über sein eigenes Lebensende? "Für mich ist der Tod nichts
Schreckliches", sagt der streitbare Rentner, der so viel Leute hat
sterben sehen, "ich habe keine Angst vor ihm. Es ist einfach wieder der
Zustand vor meiner Existenz. Und in der kurzen Zeit dazwischen will ich
etwas hinterlassen haben." |